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Transkription des Interviews zur Ausstellung „European Realities“ im Museum Gunzenhauser in Chemnitz vom 27. April bis zum 10. August 2025.
Drei kurze Statements aus dem späteren Interview:
- Mir ging es darum, europäische Gemeinsamkeiten zu zeigen.
- Wir kennen alle die Comedian Harmonists mit ihrem Lied „Mein kleiner grüner Kaktus“ – eine Hommage an die emanzipierte Frau.
- Was habe ich heute schon für die Demokratie getan? Ist so eine ganz witzige Frage, die wir stellen.
Teaser: Ein Podcast von der Kulturstiftung der Länder.
Interviewer:
Und ich grüße die Hörerinnen und Hörer unserer Podcast-Serie, in der wir Ihnen die von der Kulturstiftung der Länder geförderten Ausstellungen vorstellen und natürlich ans Herz legen. Jetzt geht es um die Ausstellung „European Realities“ im Museum Gunzenhauser in Chemnitz, die thematisiert, wie sich die Zeit zwischen den Weltkriegen in der europäischen Kunst widerspiegelt. Mein Name ist Hans Georg Moek und ich spreche mit einer der Macherinnen: Anja Richter ist Leiterin des Museums und auch Kuratorin der Ausstellung. Ich grüße Sie, Frau Richter.
Anja Richter:
Hallo! Ich grüße zurück.
Interviewer:
Ich sagte ja eingangs, dass sich die Zeit zwischen den Weltkriegen in dieser Kunst, die Sie ausstellen, widerspiegelt. Was zeigt sich denn in diesen Bildern, was diese Zeit ausmacht?
Anja Richter:
In allererster Linie ist es ja eigentlich keine Zeit zwischen zwei Weltkriegen, sondern für die Zeit selbst eine Zeit nach einem Weltkrieg, also eigentlich eine Nachkriegsgeneration, die eben mit dem Vergangenen aber auch in die Zukunft blickt, also die mit Ängsten und Idealen in einer Kunst handelt. Und genau das kann man an diesen Bildern absehen. Also wir sehen natürlich die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, des Großen Krieges, wie er auch in vielen Ländern genannt wird, gleichzeitig aber auch die sich verändernden Gesellschaften, den Aufschwung, die Demokratie, die Emanzipationsbewegungen, den Fortschritt, also diese beiden Pole sind eindeutig sichtbar.
Interviewer:
Ich habe ja leider nicht immer persönlich die Zeit, alle von der Kulturstiftung der Länder geförderten Ausstellungen zu besuchen. In diesem Fall hatte ich tatsächlich das Glück, vor wenigen Wochen in Chemnitz zu sein und das Museum Gunzenhauser zu besuchen. Und mir ist aufgefallen, dass Sie die Ausstellung nach Themen sortiert haben. Sowohl was die Räume angeht, als auch, dass dort Werke aus verschiedenen Ländern von verblüffender Ähnlichkeit nebeneinander hängen. Ich erinnere mich an mehrere Bilder, wo es beispielsweise um Kartenspiel geht und ich erinnere mich auch an einen langen Gang, wo ich, weiß nicht, sechs, acht oder zehn Bilder hängen von Frauen mit Blumentopf.
Anja Richter:
Richtig. Das ist aber natürlich noch nicht alles. Also die Grundidee war eben, diese Ausstellung thematisch zu strukturieren und nicht nach Ländern. Es ist ja eine Ausstellung, in der Werke aus 21 europäischen Ländern vereint sind. Und mir ging es darum, europäische Gemeinsamkeiten zu zeigen. Und das funktioniert eben am besten, indem man das Ganze thematisch aufbaut, wo man einfach frappierende, verblüffende Ähnlichkeiten zwischen Werken, zwischen Künstlerinnen und Künstlern sehen kann. Und so ist diese Ausstellung eben gegliedert in unterschiedliche Themen. Es beginnt zunächst mit den Protagonistinnen und Protagonisten, also den Künstlern und Künstlerinnen im Selbstbildnis, in der Selbstdarstellung. Dann gibt es Gesellschaftsbilder. Wie sieht die neue Gesellschaft aus? Das Thema Sport war mir sehr, sehr wichtig. Malen ist etwa olympische Disziplin in dieser Zeit. Das heißt, es werden Medaillen vergeben, Sport wird zum Massenphänomen. Ein ganz interessantes Thema, was sich auch in ganz Europa niederschlägt. Wir haben das Thema Ausgehen, Nachtleben, Großstadt, aber natürlich auch die Schattenseiten dessen: Alkoholkonsum und Prostitution. Mir war es wichtig, auf die Porträts, auf die Protagonisten und Protagonistinnen dieser Zeit in Europa einzugehen. Männer wie Frauen. Das ist auch bei mir strikt getrennt. Es gibt natürlich Unterschiede, wie Männer präsentiert werden und wie Frauen in Bildern gezeigt werden. Und schließlich widmet sich die letzte Etage der Veränderung der Großstädte, des industriellen Aufschwungs, aber auch der prekären Situation der Arbeiterinnen und Arbeitern. Es gibt einen meiner Lieblingsbereiche, wie Sie es schon angesprochen haben, die Topfpflanzen und Kakteen.
Interviewer:
Was hat es denn damit auf sich?
Anja Richter:
Ja, wir alle kennen die Kakteen-Fotografien im Speziellen von Renger-Patzsch aus den 20er Jahren. Der Kaktus wird zu der Zimmerpflanze. Man kannte das vorher besonders aus der deutschen Kunst und deutschen Haushalten. Und in Stillleben taucht der Kaktus einfach verstärkt auf. Es gibt so eine Faszination für dieses Gewächs, was sehr pflegeleicht ist, aber auch eine ganz simple Form hat. Auch im Bauhaus häufig rezipiert – diese klassische Runde Kaktusform mit den Stacheln. Und es wurde eben bisher zunächst immer mit der deutschen Neuen Sachlichkeit in Verbindung gebracht, dass Kakteen-Stillleben entstehen, und ich habe mich natürlich gefragt, warum sollte das nur in Deutschland so gewesen sein? Und siehe da, in ganz Europa ist der Kaktus in dieser Zwischenkriegszeit präsent. Hat natürlich auch etwas mit Kolonialismus zu tun, dass diese Pflanze überhaupt verstärkt nach Europa kommt. Und gleichzeitig fiel mir eben auch auf, dass auch verstärkt Frauen mit Kakteen und Frauen mit Topfpflanzen gemalt werden und man vielleicht auch so ein bisschen versucht, diese emanzipierte Frau wieder zurückzuholen. Wir kennen alle die Comedian Harmonists mit ihrem Lied „Mein kleiner grüner Kaktus“ – eine Hommage an die emanzipierte Frau, die eben keinen Mann mehr braucht, weil sie den stacheligen Kaktus auf dem Balkon hat.
Interviewer:
Jetzt waren Sie nicht nur Kuratorin, sondern Sie hatten auch die Idee zur Ausstellung. Wie sind Sie denn darauf gekommen?
Anja Richter:
Na ja, das liegt schon einige Zeit zurück. Alles begann wirklich mit der Zeit, als wir hier in Chemnitz darüber nachgedacht haben, uns um den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ zu bewerben. Und wenn man so ein großes Vorhaben hat, denkt man natürlich erst mal groß und denkt sich auch okay, wenn wir diesen Titel kriegen, welches Ausstellungsprojekt wollte ich schon immer mal angehen? Und die 20er Jahre sind für mich hier in Chemnitz für die Sammlung Gunzenhauser. Wir haben einen sehr großen Schwerpunkt mit Werken von Otto Dix. Es sind über 300 Arbeiten. Das ist eine der größten Dix-Sammlungen. Das Museum Gunzenhauser befindet sich in einem fantastischen Gebäude aus den 20er Jahren. Das war auch eine wichtige Zeit für die Stadt Chemnitz, eine Zeit des Aufschwungs, der Industrialisierung. Und gleichzeitig feiern wir im Jahr 2025 das 100-jährige Bestehen oder Jubiläum des Terminus „Neue Sachlichkeit“, der ja 1925 von Gustav Hartlaub in Mannheim initiiert wurde, mit einer großen Ausstellung. Mannheim hat ja dieses Jahr, ich glaube Ende letzten Jahres schon, eine Reminiszenz auf diese Ausstellung gefeiert. Und diese Ausstellung von Gustav Hartlaub war 19 25 als dritte Station auch in Chemnitz zu sehen. Das sind eigentlich so diese drei Anknüpfungen Punkte, die es gibt. Und ich habe mich aber wirklich gefragt, Hartlaubs Ausstellung bezog sich fast ausschließlich auf Künstler. Also es waren ausschließlich Männer, die er zeigte, und es waren ausschließlich Künstler aus Deutschland. Es gab ein bisschen Schweiz, Österreich, Italien, Frankreich und dieser westeuropäisch männlich geprägte, diese männlich geprägte Vorstellung von dieser Kunstsprache der Zwanzigerjahre hat sich bis heute gehalten. Und ich habe mich immer gefragt: Warum soll es denn diese sachliche Bewegung ausschließlich in Westeuropa gegeben haben? Und habe mich eben dieser Frage angenähert und bin immer weiter eingetaucht. Und so hat sich sukzessive über sechs Jahre insgesamt dieses Projekt zusammengesetzt.
Interviewer:
Wie vermitteln Sie denn dieses Thema?
Anja Richter:
Das ist eine ganz interessante Frage. Also zum einen gibt es diese Themenbereiche und eben nicht die Länder. Aber mir war eben wichtig, auch ein offenes Europa in dieser Zwischenkriegszeit zu zeigen. Wir sind heute, 100 Jahre später. Es werden immer wieder von Parallelen von damals zu heute gesprochen. Wir sind jetzt natürlich nicht in einer Nachkriegssituation, aber es gibt durchaus Parallelen von bestimmten Gruppierungen, die die Demokratien bekämpfen. Europa fängt wieder an zu zerfallen. Das ist eine Bewegung, die man natürlich nicht nur in Europa beobachtet, sondern dieser Kampf gegen die Demokratien in einzelnen Ländern damals wie heute doch einige Parallelen aufweist. Und so ging es mir zunächst natürlich auch darum, in der Vermittlung erst mal die Gemeinsamkeiten Europas schon in den 20er Jahren zu zeigen. Und es beginnt eben in dieser Ausstellung mit einer großen Karte von Europa. Ich habe darüber hinaus zwei weitere Karten, wo man einmal Europa vor dem Ersten Weltkrieg und nach dem Ersten Weltkrieg sieht, so dass man auch sieht, dass durch den Zerfall dieser Großreiche im Russischen Reich, dem Deutschen Reich, Österreich, Ungarn sehr, sehr viele Demokratien entstehen und ein offenes Europa herrscht und man sich austauscht, die Künstler und Künstlern unterwegs sind. Es gibt Zentren, man kennt natürlich Paris, Berlin, Rom, aber genauso reisen Künstler nach Zagreb, nach Prag. Riga ist ein wichtiges Zentrum, Stockholm. Also Personen und Künstler sind unterwegs, und es bilden sich Netzwerke und die Darstellung dieser Netzwerke ist eben nicht nur im Eingangsbereich der Ausstellung auf dieser Karte gegeben, sondern darüber hinaus auch auf jeder Beschriftung, zu jedem Bild. Man sieht immer, wer war wann wo. Und das ist die eine Vermittlungsebene. Diese europäischen Gemeinsamkeiten sich in Erinnerung zu rufen, bevor dann eben durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten dieser gemeinsame Gedanke wieder zunichtegemacht wurde. In einigen Ländern ging es ja auch schon eher los, wenn man zum Beispiel in Litauen und Estland denkt, aber die andere Ebene, der letzte Themenbereich, der widmet sich eben auch dem Verfall und dem Ende dieser demokratischen Zeit und wir eben bewusst auch dazu aufrufen… Also mir ist es wichtig, noch einen Schritt zurück in einer Vermittlung mit einem kuratorischen Konzept die Vermittlungsebene in der Ausstellung mitzudenken und nicht die Vermittlung in einem separaten Raum zu zeigen, sondern immer parallel zu den Kunstwerken auch diese Ebene darzustellen. Und so gibt es etwa in diesem letzten Kapitel zur Demokratie und zum Verfall eben dann auch die Frage: Was hat das jetzt alles mit mir heute zu tun? Welche Gemeinsamkeiten gibt es, wie kann ich eben auch demokratisch handeln? Was habe ich heute schon für die Demokratie getan? Ist so eine ganz witzige Frage, die wir stellen. Gibt es denn so Antwortmöglichkeiten wie „ich habe jemanden angelächelt“ oder „ich habe einen Streit geklärt“ oder einfach so diese Sensibilisierung für diese Themen. Und das durchzieht sich eben durch fast alle Themenbereiche, dass es immer diesen Schritt gibt und immer auch wieder diesen Verweis von damals auf heute, das war mir sehr, sehr wichtig.
Interviewer:
„European Realities“ im Museum Gunzenhauser läuft noch bis zum 10. August 2025. Aber wenn Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, an weiteren Ausstellungstipps der Kulturstiftung der Länder interessiert sind, dann lade ich Sie ein, beispielsweise unseren YouTube-, iTunes- oder Spotify-Kanal zu abonnieren oder uns auf unseren Social Media zu folgen, auf Facebook, Instagram, Bluesky oder LinkedIn. Und Ihnen, Frau Richter, danke ich sehr herzlich für dieses Gespräch.
Anja Richter:
Vielen lieben Dank Ihnen!
Im Podcast spricht Anja Richter, Direktorin des Museums Gunzenhauser in Chemnitz, über die Ausstellung „European Realities“, die parallele Strömungen zur „Neuen Sachlichkeit“ aus 21 europäischen Ländern zusammenbringt. Im Jahr 2025, in dem Chemnitz Kulturhauptstadt Europas ist, zeigt die Ausstellung Realismusbewegungen aus der Zeit zwischen den Weltkriegen und belegt mit 300 Gemälden, wie sehr der Realismus ein europäisches Phänomen war. 2025 jährt sich die epocheprägende Ausstellung zur „Neuen Sachlichkeit“ in der Mannheimer Kunsthalle zum 100. Mal. Mehr dazu
European Realities. Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa
27. April – 10. August 2025
Kunstsammlungen Chemnitz – Museum Gunzenhauser
Stollberger Str. 2, 09119 Chemnitz
Öffnungszeiten: Dienstag und Donnerstag bis Sonntag 11–18 Uhr, Mittwoch 14–21 Uhr