Einmal in die Sowjetunion und zurück?

„Für die Bergung der in Ihrem Besitz befindlichen Kunstwerke ist die Preussische Akademie der Künste selbst verantwortlich. In Anbetracht der derzeitigen Luftlage empfehle ich größte Beschleunigung.“

So einfach, wie der Präsident der Preußischen Bau- und Finanzdirektion dies im März 1943 in einem Schreiben an die Preußische Akademie der Künste formulierte, so schwierig, arbeitsintensiv und teilweise fast unmöglich war es für Museen, Bibliotheken und Archive, während des Zweiten Weltkriegs Verantwortung für die ihnen anvertrauten und von ihnen verwahrten Kunstschätze zu übernehmen.

Ab 1934 gingen Anweisungen ein, Schutzmaßnahmen gegen Fliegerangriffe zu organisieren. Listen der zu bergenden Kunstwerke in Abhängigkeit von dem jeweiligen Wert sollten gefertigt werden. Für die Berliner Museen wurden Szenarien des Abtransports, am „sichersten auf dem Wasserwege“, auf geeigneten Lastschiffen, in wasserdichten Kisten entwickelt. Zugleich verloren die Museen das alleinige Verfügungsrecht über ihre Räumlichkeiten. NS-Verbände und Vereine nutzten diese; Fremdausstellungen mit außenpolitischer Orientierung waren auszurichten. Zu späterem Zeitpunkt sahen sich die Museen darüber hinaus damit konfrontiert, dass ihnen „geeignete Räume, die sie in ihren Bauwerken hatten, zur Anlage von öffentlichen Luftschutzkellern fortgenommen“ wurden.

1939 begannen erste Evakuierungen. Gesonderte Schutzräume waren zu finden und einzurichten. Für die Berliner Museen waren dies u. a. die Flakbunker am Zoologischen Garten und im Friedrichshain, für die Dresdner Kunstsammlungen die Festung Königstein und die Burg Weesenstein, der nicht fertiggestellte Eisenbahntunnel in Groß-Cotta bei Pirna und das stillgelegte Kalksteinwerk in Pockau-Lengefeld im Erzgebirge, für die Gothaer Kunstsammlungen und Kunstwerke aus Danzig das Schloss Reinhardsbrunn. Bankgebäude, die Preußische Staatsbank, die Reichsbank und die Neue Münze am Molkenmarkt in Berlin oder die Reichsbankhauptstelle in Magdeburg etwa, wurden aufgrund ihrer Tresorräume zu begehrten Auslagerungsorten. Andere, nicht transportable Kunstwerke wie die Antiken der Dresdner Skulpturensammlung wurden eingemauert.

Schutzsuchende Berliner verlassen den großen Zoobunker nach der Entwarnung, Frühjahr 1945 Für die Bergung der in Ihrem Besitz befindlichen Kunstwerke ist die Preussische Akademie der Künste selbst verantwortlich. In Anbetracht der derzeitigen Luftlage empfehle ich größte Beschleunigung.“
Schutzsuchende Berliner verlassen den großen Zoobunker nach der Entwarnung, Frühjahr 1945

Bis in die Apriltage des Jahres 1945 hinein wurden Abertausende von Kunstwerken – per Zug oder LKW, PKW oder Schiff – in eben diesen Schutzräumen, in Bergwerkstollen, Schlössern und Herrenhäusern geborgen. Für viele Kunstwerke allerdings war die Auslagerung erst der Beginn einer jahrzehntelangen Odyssee. Sie führte teilweise Tausende Kilometer weit nach Leningrad oder Moskau, in die Städte des Baltikums oder die Tiefen Sibiriens. Zwischenstationen waren die Sammelpunkte sowjetischer Trophäenbrigaden im Berliner Schlachthof, in den Schlössern Friedrichsfelde, Sanssouci und Pillnitz sowie in der Leipziger Heerstraße Nr. 5. Auch auf heute polnischem Gebiet, in Beuthen, Danzig, Gleiwitz und Stettin, gab es Depots der Trophäenbrigaden.

Die „Rückreise“ der abtransportierten Werke begann am 31. März 1955, als der Ministerrat der Sowjetunion – völlig überraschend – die Rückgabe der Gemälde der Dresdner Gemäldegalerie ankündigte. Viele Kunstwerke aber werden bis heute von den Museen vermisst. Vor allem deren Wege zu rekonstruieren und zu verstehen ist Gegenstand des „Transportlistenprojekts“ des Deutsch-Russischen Museumsdialogs. Einige dieser Wege sollen im Folgenden skizziert werden.

Der Verlustkatalog der Gemäldegalerie – es handelt sich dabei um den 1995 erschienenen ersten Band der Dokumentation der Verluste der Staatlichen Museen zu Berlin infolge des Zweiten Weltkriegs, weitere Bände betreffen u. a. die Nationalgalerie und die Skulpturensammlung, die Antikensammlung und das Kupferstichkabinett – nennt 19 Werke, die sich während des Krieges in den Kellern des Pergamonmuseums auf der Museumsinsel befanden. Zwei dieser Gemälde finden sich auf den Listen der sowjetischen Trophäenbrigaden wieder. Das „Bildnis einer jungen Dame“ von Frans Pourbus d. J. entnahmen Mitarbeiter der Eremitage im Februar 1946 als einzelnes Werk einer Kiste. Eine „Italienische Landschaft“ von Crescenzio Onofri gelangte nach eben diesen Listen zusammen mit einer „Himmelfahrt Mariae“ von Francesco Vanni und einer „Heimsuchung Mariae“ von Bernardino Lanino in einer anderen Kiste im März 1946 ins Puschkin-Museum nach Moskau. Während die Arbeiten von Lanino und Vanni zu den knapp 200 Gemälden zählen, die das damalige Bode-Museum 1958 aus der Sowjetunion zurückerhielt, blieben die Arbeiten von Frans Pourbus d. J. sowie von Crescenzio Onofri aus Gründen, die bisher nicht geklärt werden konnten, in der damaligen Sowjetunion zurück.

434 Gemälde lagerte das Kaiser-Friedrich-Museum, so der ursprüngliche Name der Berliner Gemäldegalerie, in den Flakbunker im Friedrichshain aus. Zu diesen zählen so berühmte Werke wie „Der Evangelist Matthäus mit dem Engel“ von Caravaggio. Sowjetische und deutsche zeitgenössische Quellen belegen, dass es im Mai 1945 im Flakleitturm Friedrichshain zu zwei verheerenden Bränden kam. Leider konnte das Transportlistenprojekt die Befürchtung, die Bilder der Gemäldegalerie seien dabei verbrannt, bisher nicht ausräumen. Mit Sicherheit allerdings lässt sich sagen, dass nicht alle in den Friedrichshain ausgelagerten Werke der Berliner Museen zerstört wurden.

So erhielt die Skulpturensammlung der Berliner Museen 1958 aus der Sowjetunion das „Brustbild eines Jünglings“ von Andrea della Robbia zurück. Eine Aufnahme von 1979 zeigt deutliche Rußspuren. Ebenso sichtbar ist, dass das Medaillon – wohl infolge des Brandes – in mehrere Stücke zerbrach. In den Listen der Trophäenbrigaden als „Jüngling mit gelockten Haaren“ geführt, beschreiben die Akten den Zustand des Werkes im Juli 1946 so: „Geschwärzt. Zerbrochen in 8 Einzelstücke: es fehlen die linke Seite des Kopfes mit Hintergrund sowie ein Stück vom Hintergrund der rechten Seite.“

Bei den Recherchen des Transportlistenprojekts nimmt die Frage nach der Auslagerungsgeschichte der Kunstwerke eine Schlüsselrolle ein. Ein Forschungsergebnis besteht darin, dass von der Fülle der deutschen Museumsverluste infolge des Zweiten Weltkriegs mitnichten alle in Russland oder den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu vermuten sind.

Zahlreiche Kunstwerke wurden unwiederbringlich zerstört. Dies trifft beispielsweise für 100 der insgesamt 197 Gemälde zu, die das Museum der bildenden Künste Leipzig in der Internetdatenbank Lostart der Koordinierungsstelle Magdeburg gemeldet hat. Andere Werke fanden aus deutschem Privatbesitz zurück in die Museen. So zeigte die Ausstellung „Zurück in Dresden“ 1998 vier Gemälde, die vor dem Krieg nach Chemnitz verliehen und von dort nach Rübenau im Erzgebirge ausgelagert worden waren. Ein Aufruf in der lokalen Presse bewirkte, dass alle vier Gemälde 1963/65 von ihren zwischenzeitlichen Besitzern in die Gemäldegalerie der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zurückgebracht wurden.

Wieder andere Wege nahmen viele Werke der Nationalgalerie. Für das Gemälde „Feldblumenstrauß“ von Hans Thoma überliefern die von dem damaligen Direktor der Nationalgalerie, Paul Ortwin Rave, geführten Akten beispielsweise nicht nur das Kürzel „Z“ für die Auslagerung in den Flakbunker am Zoologischen Garten. Auch ein „W“ für den Central Collecting Point Wiesbaden, eine zentrale Sammelstelle der amerikanischen Alliierten, notierte Rave. Offenbar gehörte der „Feldblumenstrauß“ zu jenen 226 Gemälden der Nationalgalerie, die noch am 17. April 1945 Richtung Westen, u. a. in das Bergwerk Grasleben, verlagert und dort von amerikanischen Kunstschutzoffizieren aufgefunden worden waren.

Auch „Irrläufer“ gibt es unter den einst abtransportierten Kunstwerken. Nicht jedes von der Sowjetunion an die DDR zurückgegebene Kunstgut kehrte an den richtigen Ort zurück. Erst 1965 etwa klärte sich, dass drei monumentale Löwenskulpturen, die sich seit 1958 in der Berliner Nationalgalerie befanden, in die Skulpturensammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gehörten. 1970 erhielt dieselbe Skulpturensammlung vom Ägyptischen Museum der Universität Leipzig vier Steinskulpturen, ein Relief und die Stuckmaske eines Mannes. 1975 nahmen 145 kleinformatige figürliche Amulette den Weg von Leipzig nach Dresden.

Im bisherigen Projektverlauf wurde nach über 15.000 bis heute vermissten Kunstwerken gesucht. Ca. 1.800 von ihnen und somit etwa 12 Prozent ließen sich in den Akten der Trophäenbrigaden des Kunstkomitees identifizieren. Darunter befinden sich neben den bereits genannten Gemälden der Berliner Gemäldegalerie solch unterschiedliche Kunstwerke wie „Die heiligen drei Könige“ von Lucas Cranach d. Ä. aus der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, das „Fragment einer antiken Statue, die einen Stier an den Vorderfüßen hält“ aus der Berliner Antikensammlung sowie zahlreiche koptische und andere Stofffragmente aus dem Grassi Museum für angewandte Kunst in Leipzig. Die Textilien wurden im Oktober 1946 nach Moskau überführt; das Cranachgemälde und das Fragment der antiken Statue wurden im April 1946 vom Puschkin-Museum in Moskau übernommen. Der 2011 veröffentlichte Katalog „Meisterwerke der antiken Kunst aus der Sammlung des Staatlichen Puschkin-Museums der bildenden Künste Moskau“ bestätigt, dass sich eben dieses Fragment bis heute in Moskau befindet. Damit spiegelt die Publikation des Museums die Recherchen des Transportlistenprojekts.

Den Hintergrund für diese, in den letzten Jahren zunehmenden russischen Forschungen liefert das 1996 von der Duma verabschiedete und 1999 vom russischen Verfassungsgericht bestätigte sogenannte Beutekunst-Gesetz. Es erklärt Kunstwerke, die von sowjetischen Trophäenbrigaden auf das russische Staatsgebiet gebracht wurden und sich noch immer dort befinden, zu russischem Eigentum.

1943 war die Preußische Akademie der Künste auf ihre Verantwortung für die in ihrem Besitz befindlichen Kunstwerke verwiesen worden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich an dieser Verantwortung nichts geändert. Damit die Museen diese Verantwortung wahrnehmen können, bedarf es weiterer, systematischer Forschungen. Eine Fülle von fachübergreifenden und Ländergrenzen überschreitenden Fragen wartet auf Antworten. Wie gestaltete sich das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Trophäenbrigaden, gab es doch sowjetische, russische, ukrainische, möglicherweise auch weißrussische Brigaden? Wie war das Verhältnis zwischen den Trophäenbrigaden und der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland? Was genau geschah im Flakbunker am Zoologischen Garten, in der Neuen Münze, im Friedrichshain? Was ereignete sich an den Auslagerungsorten in Pommern, Schlesien, in den Sudeten? Wie und nach welchen Maßgaben gelangten die abtransportierten Kunstwerke ab 1945/46 von Leningrad und Moskau aus ins Baltikum, in die Ukraine, in die Weiten der Sowjetunion? Welche Wirkungen entfalteten die verlagerten Werke in den sowjetischen Museen, bei den Kustoden, Archäologen oder Denkmalpflegern vor Ort? Kaum etwas wissen wir über den Kunsthandel und den Schwarzmarkt im Osten des Nachkriegsdeutschlands, geschweige denn über Kunsthandel und Sammlertum in der Sowjetunion der 1940er/1980er Jahre.

Dies zu erforschen würde nicht nur den deutsch-russischen Dialog befördern. Es könnte den Blick auf die Sowjetunion und auf das Russland des 20. und 21. Jahrhunderts differenzierter und wissender machen und eine gemeinsame, vorurteilsfreie Geschichtsschreibung befördern. Zahlreiche Perspektiven für grenzüberschreitende Wissenschafts- und Ausstellungsprojekte eröffnen sich.