Eine preußische Galatea
Zuweilen erstaunliche Verbindungen gingen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Ideal und Wirklichkeit ein: Berlin stand auf der Schwelle zur Industrialisierung – sechs Jahre später eröffnet die erste Eisenbahnstrecke zwischen Berlin und Potsdam, als Carl Joseph Begas (1794–1854), Professor an der Berliner Kunstakademie, noch einmal sämtliche Register anspruchsvollster Porträtmalerei zog. Die Besucher der Akademischen Kunstausstellung des Jahres 1832 erlebten den erfolgreichen Porträtisten auf dem Höhepunkt seines Schaffens und mit zwei Gemälden, die sein Können, seine sozialen Verbindungen und seine Ambitionen eindrucksvoll unter Beweis stellten. Beide Bildnisse sind überlebensgroß und feiern die Schönheit junger Frauen (der Zufall will es, dass die Modelle exakt gleichaltrig waren) mit den Mitteln der Malerei, in strahlender Farbigkeit und perfekter Maltechnik – und könnten doch unterschiedlicher nicht sein.
Das im Auftrag von Marianne von Oranien-Nassau, Prinzessin der Niederlande und von Preußen (1810–1883) entstandene Gemälde ist ein offizielles Standesporträt, ebenso konventionell wie elegant. Das Publikum nahm das Bild, wie der Bildhauer Johann Gottfried Schadow notierte, mit „ungeteiltem Beifall“ entgegen. Die seit 1830 mit Königin Luises jüngstem Sohn Albrecht (ihrem Cousin) Verheiratete erscheint in einem Interieur mit Blick auf eine Gartenszene – Frau und Umgebung sind in ihrer Erlesenheit kaum unterschieden. Ihre Körpersprache wirkt verhalten anmutig, und niemand konnte angesichts dieser formvollendeten Selbst-Präsentation vermuten, dass Marianne von Preußen einen für eine Frau ihres Standes eher unkonventionellen Lebensweg vor sich hatte: Für sie galten die tradierten Regeln der aristokratischen, meist arrangierten Ehe offenkundig nicht mehr und so ließ sie sich 1849 vom untreuen Ehemann scheiden, um mit ihrem Leibkutscher zusammenzuleben.
In jeder Hinsicht anders instrumentiert ist der Auftritt der zweiten Frauenfigur: Vor einer italianisierenden Küstenlandschaft, umgeben von lichten Baumgruppen erscheint auf einer Lichtung die graziöse Figur einer Tänzerin, zu ihren Füßen ein nackter geflügelter Knabe mit Bogen. Ihre Bühne ist ein verschwenderisch mit Blumen bekränztes Säulenkapitell. Sie ist barfuß und mit einem halbtransparenten weißen Gewand bekleidet und lässt den Hauch eines Schleiers über ihrem Haupt schweben – eine Vision weiblicher Anmut in Bewegung. Aber wen oder was genau sieht man eigentlich? Dass sich auch die Zeitgenossen über das Bildthema nicht einig waren, zeigen die beiden Titel, die dem Bild beigegeben wurden und zu der Vermutung führten, man habe es mit zwei unterschiedlichen Gemälden des Künstlers zu tun: „Amor und Terpsichore“ und „Die Apotheose der Fanny Elßler“. Der erste Titel ist der antiken Mythologie entlehnt und bringt die Muse des Tanzes mit dem Gott der Liebe in Verbindung, wobei sich der Amorknabe als Stellvertreter des (männlichen) Betrachters vorstellen lässt.
Als „Apotheose der Fanny Elßler“ hat man es hingegen mit einer allegorischen Huldigung an eine reale Person zu tun: Die in Wien geborene Fanny Elßler (1810–1884) war eine der großen Künstlerinnen des romantischen Balletts, die nach Engagements in Europa, Russland und in den 1840er Jahren in Nord- und Südamerika zum Weltstar wurde. Zwischen 1830 und 1849 gastierte sie mehrfach in Berlin an der Königlichen Hofoper, wo auch König Friedrich Wilhelm III. zu ihren Bewunderern gehörte und Begas sie auf der Bühne gesehen haben könnte. Ihr Porträt entstand während ihrer zweiten Saison in Berlin, doch auch ein dritter, später hinzugefügter Bildtitel – „Fanny Elßler als Sylphide“ – beruht auf einem Irrtum, denn Begas verzichtete darauf, die Elßler in einer spezifischen Bühnenrolle zu zeigen. Zudem wurde das romantische Ballett „La Sylphide“ zwar im März 1832 in Paris uraufgeführt, allerdings mit Fannys Rivalin Marie Taglioni in der Hauptrolle. Fanny Elßler selbst führte wenig später erstmals den spanischen Tanz „La Cachucha“ aus dem Ballett „Le diable boiteux“ auf, für den sie so berühmt wurde wie nach ihr die Pawlowa als sterbender Schwan. Nach einer letzten Serie von Auftritten im heimatlichen Wien zog sie sich 1851 von ihrer Bühnenkarriere zurück und wurde zu einer gesuchten Gastgeberin. Vergleicht man das Gesicht der Tänzerin in Begas’ Porträt mit dem in der anonymen Fotografie aus der Jahrhundertmitte, erkennt man ihre durch den Kritiker Théophile Gautier literarisch verewigten Züge wieder, das halb-ironische Lächeln um ihre fein geschwungenen Lippen wie auch ihr Haar, in ihrer Jugend in der Mitte gescheitelt und nun nach der aktuellen Mode frisiert. Gegen die Nüchternheit der Fotografie mutet Begas’ in jedem Sinne romantisches Porträt jedoch an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Carl Joseph Begas zeigt uns ein Bild von großer dekorativer Schönheit und farbiger Raffinesse, aber es geht dem Künstler offenkundig um mehr: In der Welt der Kunstakademien existierte eine rigide Hierarchie der Gattungen, die der Porträtmalerei wegen ihrer Nähe zur Natur – d.h. der geforderten Ähnlichkeit des Bildes mit dem Modell – einen niedrigen Platz zuwies, während an der Spitze die Historienmalerei stand. In diese Regionen stieß der Porträtist nur durch das Mittel der Idealisierung vor, durch Anleihen aus der Antike und der Geschichte der Malerei und indem er sein Modell mit Hilfe von geschickt gewählten Attributen gleichsam über sich selbst hinauswachsen ließ. Im 17. und 18. Jahrhundert gerade in der englischen und französischen Porträtmalerei verbreitet, war das sogenannte portrait historié mit der Wende zum 19. Jahrhundert etwas aus der Mode gekommen. Begas greift noch einmal auf diese Königsdisziplin des Porträtisten zurück und präsentiert Fanny Elßler, die schöne gefeierte Tänzerin, modisch frisiert zwar als sie selbst, aber zugleich als ein Abstraktum, nicht nur als Muse des Tanzes, sondern als den Tanz an sich.
Zugleich gehörten auch sogenannte Rollenporträts von Schauspielerinnen und Tänzerinnen im Bühnenkostüm und vor mehr oder weniger imaginativen Kulissen schon seit dem 18. Jahrhundert zum künstlerischen Repertoire. In Berlin befand sich zu diesem Zeitpunkt Antoine Pesnes berühmtes Porträt der „Barbarina“ genannten Tänzerin Barbara Campanini von etwa 1745 im ehemaligen Schreibzimmer Friedrichs II. im Berliner Stadtschloss, in unmittelbarer Nähe der damaligen Akademie der Künste Unter den Linden. Zudem mag Begas aus seiner Pariser Studienzeit ein ganzfiguriges Porträt der gefeierten Tänzerin Marie-Madeleine Guimard gekannt haben, die um 1773–75 den jugendlichen Jacques-Louis David mit ihrem Rollenporträt als Terpsichore beauftragte. David war der Lehrer von Jean Antoine Gros, bei dem Begas studiert hatte, und es ist verlockend, sich vorzustellen, dass die Idee zu dem sitzenden Amor auf diesem Wege nach Berlin kam. Begas verzichtet im Sinne der Antikenbegeisterung seiner Zeit allerdings auf das zu sehr der Tagesmode verpflichtete Kostüm seiner Vorgänger und präsentiert die Elßler in einem Gewand, das ihre gerühmte skulpturale Figur zugleich ausstellt und verhüllt – eine für Tänzerinnen statthafte, für Modelle wie die Preußen-Prinzessin Marianne undenkbare Kleidung im Bildnis. Heutige Betrachter mögen sich an Antonio Canovas Tänzerin (1809/2) aus dem Bode-Museum erinnert fühlen. Sie kam zwar erst viel später in die Berliner Sammlungen, kann aber für eine weitere Pointe des Künstlers stehen: Begas beschränkt sich nämlich nicht auf die idealisierende Huldigung an eine reale Person, sondern lässt durch seine Art der Darstellung auch den in der abendländischen Kunsttheorie seit der Antike tradierten Wettstreit zwischen Skulptur und Malerei zugunsten der letzteren ausgehen.
Es lässt sich vermuten, dass Fanny Elßlers Sensationserfolg auf der Berliner Bühne den Künstler zu seiner malerischen Huldigung anregte. Anders als bei dem Porträt der Marianne von Preußen ist jedoch nicht bekannt, ob es für Fanny Elßlers Bildnis einen Auftraggeber gab oder ob sich der Künstler mit dem ambitionierten Bildnis anderen Förderern – und Käufern – aus hohen und höchsten Kreisen empfehlen wollte. Friedrich Wilhelm III. hatte Begas’ Begabung während dessen Studium in Paris erkannt und seitdem gefördert. Es war der Monarch, dem er den Auftrag für das Altarbild des Berliner Doms zu verdanken hatte, den er mehrfach porträtierte und der ihm schließlich einen zweijährigen Studienaufenthalt von 1822 bis 1824 in Italien ermöglichte. Doch für „Fanny Elßler“ existiert (noch) kein Dokument eines königlichen Auftrags oder eines späteren Ankaufs. In der anmutigen Bewegung von Oberkörper und Schleier zitiert Begas Raphaels Fresko mit dem „Triumph der Galathea“ in der Villa Farnesina in Rom und trifft damit genau den königlichen Geschmack, galt Friedrich Wilhelm III. doch als Verehrer Raphaels, für den Begas und andere Kopien nach Werken des Meisters anfertigten. Es würde sich sicher lohnen, das historische Umfeld dieser Bildidee zwischen Akademieausstellung und Museumspolitik genauer zu untersuchen, entstand das Idealporträt der Fanny Elßler doch nur zwei Jahre nach der Eröffnung des Alten Museums und somit in einer Zeit lebhafter Debatten, etwa über die Ankaufspolitik, und war vom Künstler möglicherweise für eine Aufnahme in diese neue Institution intendiert. Seit 1857 läßt sich das Gemälde in der Kunstsammlung des Bankiers, Philanthropen und Sammlers William Wilson Corcoran (1798 –1888) in Washington, D.C., nachweisen; 1869 wurde es Teil der von ihm gestifteten Corcoran Gallery of Art. In den 1970er Jahren vom Museum abgegeben, konnte das Werk nun mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder vom Begas Haus in Begas’ Geburtsstadt Heinsberg erworben werden und ist damit wieder der Öffentlichkeit zugänglich.