In stiller Trauer
Es war vermutlich die Geschäftstüchtigkeit eines französischen Kunsthändlers in den 1950er Jahren, die dazu führte, die kleine, still in sich gekehrte Figurengruppe um die trauernde Maria einerseits und die dramatische Kreuzigungsszene andererseits getrennt an verschiedene Sammler zu verkaufen. Beide gehörten ursprünglich zur Hauptszene eines Altaraufsatzes und zählten zu den eindrucksvollsten, um 1440 entstandenen Reliefskulpturen aus den burgundischen Niederlanden, die sich erhalten haben. Zuletzt befand sich das Retabel in einer Schlosskapelle in der Nähe von Angers.
Tatsächlich kann man beide Teile auch für sich mit Gewinn betrachten. Die in Ohnmacht zusammenbrechende Muttergottes wird eingerahmt von ihren beiden Schwestern Maria Salome und Maria Kleophas. Eine wendet sich ihr zu, die andere ist mit verhülltem Gesicht einsam abgewandt und berührt Maria nur zart am Ellenbogen, eine auch im übertragenen Sinn berührende Geste. Das Wechselspiel der Körperhaltungen der trauernden Frauen ist von Nähe und Emotionalität geprägt. Der Bildschnitzer hat Maria von allen Frauen das größte Volumen verliehen, ihr weiter Mantel breitet sich fast über das gesamte Maß dieser Figurengruppe aus und schafft einen eigenen Raum der Stille. Während man der niedersinkenden Maria trotz Schleiers ins Gesicht blicken kann, wobei ein die Schwere unterstreichendes Motiv ihr bedecktes, doch offen herabfallendes Haar bildet, so ist das Gesicht der nach außen gewandten Frau durch den Schleier weitgehend verschattet. Dies erinnert an die Pleurants, Trauerfiguren an burgundischen Grabmälern wie an jenem Philipps des Kühnen in Dijon. Die abgewandte Frau bringt eine Note des inneren Rückzugs in die Figurengruppe, sie tröstet Maria und trauert zugleich für sich auf ihre Art. Ihr gegenüber steht eine Frau, die sich mit nach vorne gestreckten Händen Maria zuwendet. Viele Jahre befand sich diese anrührende, meditative Skulptur in einer Schweizer Privatsammlung.
Die große Kreuzigungsszene mit den männlichen Figuren gelangte dagegen in die Sammlung Hermann Schwartz in Mönchengladbach, aus der sie 1965 für das Museum Schnütgen erworben wurde. Eine große Menschenmenge wohnt der Kreuzigung von Jesus und den beiden Verbrechern bei. Die Leute sind Zeugen des historischen Ereignisses, wie es in den Evangelien und späteren Erzählungen vom Leidensweg Jesu geschildert wird. Sie bestätigen uns: So hat es sich wirklich zugetragen. Dass ein biblisches Ereignis durch die Einfügung von Beobachtern in das Bild beglaubigt wird, ist ein in der italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts, besonders durch Giotto oft verwendetes Motiv. Aus Italien stammt auch der Bildtypus der Kreuzigung mit vielen Begleitfiguren.
Im Unterschied zu den stillen Frauen agieren die männlichen Figuren stärker nach außen und blicken aus großer Distanz zu Christus. Sie stimmen jedoch in der reich nuancierten Differenzierung ihrer Gesten und Körperhaltungen mit den Frauen überein. So führen die vielen Personen dem Betrachter ganz unterschiedliche Reaktionen auf das Geschehen vor Augen. Der Mörder, der Jesus verspottet hatte, ist mit verdrehten Gliedern von ihm abgewandt, isoliert und einsam. Der gute Schächer zu seiner Rechten, welcher ihn um Gnade im Himmelreich gebeten hatte, blickt mit bewegtem Gesichtsausdruck, man möchte sagen, mit gemischten Gefühlen, zu ihm empor. Dieses Detail zeigt besonders deutlich den Anteil der Farbfassung und des Fassmalers an der Wirkung der Figuren. Zur Linken Jesu ragt die Figur des Soldaten Stephaton aus der Menge. Er hatte Jesus unmittelbar vor seinem Tod auf einem (im Kölner Kalvarienberg verloren gegangenen) Stab einen Schwamm mit Essig gereicht. Darunter, in rotem Mantel zu Pferde, hebt der gute Hauptmann seine Hand zur Rede: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ Ein Reiter ihm gegenüber stellt den blinden Longinus dar, welcher der Legende nach mit einer Lanze die Brust Jesu öffnete und durch das daran entlangrinnende Blut sehend wurde, der zweite Reiter hilft ihm beim Führen der (verlorenen) Lanze. Zuunterst, an den Außenseiten, stehen zwei Gruppen von Kriegsknechten, die einen bewegt zu Christus aufblickend, die anderen mehr mit sich selbst beschäftigt. Die Rückenfigur der rechten Gruppe wäre auch für einen zeitgenössischen und kunsttheoretisch bewanderten Betrachter aus Florenz ein künstlerisch eindrucksvoller Einfall: Sie ist neben der raffinierten Staffelung der Figuren in die Höhe eines der Mittel, mit denen der Bildschnitzer dem tatsächlich nur etwa 30 cm tiefen Relief Räumlichkeit verleiht. Die Figur steht außerdem parallel zum Betrachter und erlaubt es ihm, zu den Zuschauern des Ereignisses gewissermaßen hinzuzutreten.
In mancher Hinsicht kann dieses Relief sich mit den gleichzeitigen Leistungen der Florentiner Frührenaissance messen. Dazu zählen auch die Individualität der Figuren und die differenzierte Artikulation von Emotionen. Eher als es in das „Spätmittelalter“ einzuordnen, ohnehin eine im Verweis auf die aufgegriffenen Traditionen eher entschuldigende Klassifizierung, könnte man das Relief auch im Sprachgebrauch der angloamerikanischen Forschung als einen Pionier der „Renaissance des Nordens“ bezeichnen. Dass die Gruppe der Frauen mit Maria ursprünglich das Zentrum dieses Reliefs gebildet hat, erkannte Anton von Euw schon 1968 und konnte die Skulpturen auch für kurze Zeit zusammenfügen. Leider war ein Ankauf für das Museum damals nicht möglich, mit der Zeit hatte sich dann die Spur des Reliefs verloren. So ist es ein besonderer und im Kontext des heutigen Kunsthandels auch mit Dank zu erwähnender Glücksfall, dass der Londoner Kunsthändler Sam Fogg, der die Marien als kostbares Einzelstück erworben hatte, den Faden wieder zusammenknüpfte und sie dem Museum Schnütgen exklusiv zum Erwerb anbot. Dass dies dann auch gelungen ist, verdanken wir dem Zusammenwirken der Kulturstiftung der Länder, der Peter und Irene Ludwig Stiftung, der Sparkassen-Kulturstiftung Rheinland, des Freundeskreises des Museum Schnütgen und der Stadt Köln. Natürlich ist dem Ankauf eine gründliche kritische Prüfung der Frage vorangegangen, ob die Marien tatsächlich zum ursprünglichen Bestand genau dieses Reliefs gehören. Neben stilistischen Vergleichen zählte dazu besonders auch eine mikroskopische Untersuchung der farbigen Fassung, die zwar fragmentarisch, aber doch erstaunlich weitgehend erhalten ist, und bei der es sich – das ist eine Besonderheit – überwiegend um die ursprüngliche, später nicht übermalte Fassung handelt.
Was hat sich nun durch die Komplettierung des Reliefs geändert, außer dass in der Komposition eine Lücke geschlossen werden konnte? Die gesamte Darstellung ist erst jetzt in ihrem Sinn verständlich geworden! Schon seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert, besonders aber seit der Marienfrömmigkeit der Franziskaner im 13. Jahrhundert spielt die Compassio, das Mitleiden mit der Gottesmutter unter dem Kreuz, eine zunehmend wichtigere Rolle in Religion und Kunst. Erst durch die Anteilnahme an ihrem Schmerz wird für den Betrachter emotional das Kreuzigungsgeschehen zugänglich und erschlossen. In besonders pointierter Weise kommt es dabei geradezu zu einer Parallelsetzung der Schmerzen von Maria und Christus – ähnlich wie in der berühmten Kreuzabnahme Rogier van der Weydens im Museo del Prado in Madrid. Der Bildschnitzer erreicht dies durch die zentrale Platzierung der Mariengruppe genau unter dem Kreuz, durch ihre gestische Absetzung von den umgebenden Figuren und eine geringfügige Vergrößerung des Figurenmaßstabs gegenüber den Kriegsknechten. Die Kontemplation des Kreuzestodes von Jesus Christus durch Maria ist das zentrale Thema dieses Altarreliefs.
Dazu gehört neben der hier offenbar überwiegenden Trauer auch ein freudiger und festlicher Aspekt. Durch seinen Kreuzestod gibt der Sohn Gottes dem Menschen die Möglichkeit der Erlösung von der Erbsünde und dem ewigen Tod, die Auferstehung. Darauf deutet ein winziges, aber bemerkenswertes Detail. Der außen blaue Mantel Mariens weist im Inneren ein Hermelinfutter auf, ist also von königlicher Qualität. Dafür kann in zeitgenössischen Darstellungen der Kreuzigung in der Tafelmalerei kaum ein Beispiel benannt werden. Eine gewisse Parallele besteht hingegen im skulpturalen Bildtypus der Pietà, des Vesperbildes, das Maria, in einer Abwandlung des Bildes der thronenden Madonna mit Kind, in festlicher Gewandung thronend mit dem toten Christus auf dem Schoß darstellt.
Ganz vollständig ist das Relief auch durch die großartige Ergänzung nicht geworden. Neben Einzelelementen an einigen Figuren fehlt vor allem eine Figur, die in allen Kreuzigungsdarstellungen enthalten ist: der Apostel Johannes. Sehr wahrscheinlich stand er stützend hinter der Muttergottes, so dass die drei Figuren um Maria eine zentrale Gruppe unter dem Kreuz bildeten.
Und damit erhebt sich die spannende Frage, um wen es sich bei der Frau handelt, die sich von links in gebückter Haltung Maria zuwendet. In den Evangelien wird von den Frauen unter dem Kreuz neben den Schwestern Mariens, Maria Kleophas und Maria Salome, Maria Magdalena namentlich hervorgehoben. Dementsprechend findet man sie auch in vielen Bilddarstellungen der Kreuzigung, entweder mit einem Salbgefäß in der Gruppe der trauernden Frauen oder herausgehoben als Büßerin unter dem Kreuz. Deshalb war es naheliegend, dass Anton von Euw in seiner Veröffentlichung der Mariengruppe in der gebückten Frau Magdalena erkannt hat – ihre blonden, unter dem Schleier hervortretenden Haare unterstützen diese Deutung.
Aber was soll uns ihre Körperhaltung sagen? Gegen ein Zusammenbrechen wird Maria durch ihre beiden Schwestern und vermutlich Johannes hinreichend abgestützt. Die Hände der vorgebeugten Frau und das, was sie gehalten haben könnten, sind verloren. Das für die Totensalbung bestimmte Salbgefäß der Magdalena kann es kaum gewesen sein, denn es macht hier keinen Sinn, Maria dieses entgegenzuhalten. In manchen zeitgenössischen Kreuzigungsdarstellungen in der Malerei tritt allerdings noch eine andere Person auf: Veronika, die mit dem Schweißtuch aus der Kreuztragung das wahre Bild des lebenden Christus vorweist, das die Darstellung des am Kreuz Gestorbenen um den Aspekt des Lebens ergänzt. In einigen wenigen Bildern fügt sich Veronika mit dem Schweißtuch unmittelbar in die Gruppe der trauernden Frauen unter dem Kreuz und präsentiert das Tuch Maria. Ein solches Beispiel ist das um 1455 datierte Tafelbild aus dem Benediktinerkloster Benediktbeuern in der Alten Pinakothek in München. Vielleicht handelt es sich auch bei der Frau im Großen Kalvarienberg des Museum Schnütgen in Köln um Veronika. Kaum ist die Präsentation der kostbaren Neuerwerbung gelungen, eröffnen sich viele neue Fragen. Dazu gehört auch das Verhältnis des Reliefs in Köln zu zwei stilistisch nahe verwandten Reitergruppen im Rijksmuseum in Amsterdam, dem zukünftige Forschungen gewidmet werden sollen. Gerade die neben spektakulären Sonderausstellungen von einigen Besuchern weniger frequentierten ständigen Sammlungen der Museen sind nach wie vor voller Geheimnisse und bieten Stoff für viele neue Entdeckungen.