Golgatha am Burgberg

Der Erwerb eines Gemäldes von Albrecht Dürer garantiert in Nürnberg höchste öffentliche Anerkennung: Der hier geborene und bis zu seinem Tod in seiner Geburtsstadt tätige Maler ist nicht nur einer der bedeutendsten Künstler des deutschen Sprachraums, sondern auch der wichtigste Markenartikel der Stadt. Dürer verleiht Nürnberg Weltbedeutung und ist bis in die Gegenwart identitätsstiftend geblieben. Schon zu Lebzeiten Dürers wurden seine Werke zu begehrten Prestigeobjekten für einflussreiche Sammler. Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert wanderte Dürer-Gemälde um Dürer-Gemälde erst in die kaiserliche Sammlung nach Prag, dann in die Sammlung des bayerischen Kurfürsten nach München ab. 1627 verließen selbst die „Vier Apostel“, die Nürnberg zu Dürers Gedächtnis auf alle Zeiten zu bewahren sich verpflichtet hatte, die Stadt. In politisch schwierigen Zeiten hatte man versucht, sich mit der Herausgabe der berühmten Dürer-Gemälde die Gunst der mächtigen Potentaten zu erwirken.

Wolfgang Katzheimer (Umkreis), Kalvarienberg, um 1480/90, 144 x 142,5 cm; Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Wolfgang Katzheimer (Umkreis), Kalvarienberg, um 1480/90, 144 x 142,5 cm; Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

Als unschätzbar erschienen nach diesen Abgängen die Verdienste, die sich der Buchhändler und Verleger Friedrich Campe (1777–1846) mit dem Ankauf eines unbekannten Frühwerks von Dürer, einem Tafelgemälde mit der Darstellung eines Kalvarienbergs (Abb. oben), im Juli 1816 erwarb. Im „Deutschen Unterhaltungsblatt für gebildete Leser aus allen Ständen“ erschien wenige Monate später ein eigener Beitrag zu dem spektakulären Ankauf. Auch darin wird zunächst der Verlust von Dürer-Werken als schmerzliche Wunde für Nürnberg beklagt. Umso größer sei deshalb die Freude über die Rückkehr eines Frühwerks, zumal Campe dieses zum unveräußerlichen Besitz in Nürnberg bestimmt habe und damit „seiner Kunstliebe als seinem patriotischen Gefühle für die Stadt, die ihn als ihren Bürger schätzt und ehrt, das schönste Denkmal errichten“ werde. Diese Hoffnungen der „Freunde vaterländischer Kunst“ erfüllten sich indes nicht: Nach Campes Tod versuchte man 1847 seine Sammlung auf einer Versteigerung in Nürnberg loszuschlagen. Offenbar mit mäßigem Erfolg, weshalb zwei Jahre später eine zweite Auktion in London veranstaltet wurde. Die Kreuzigung ging damals in englischen Privatbesitz über und blieb nahezu ein Jahrhundert nur über eine 1816 publizierte Umrisszeichnung von Friedrich Fleischmann in Erinnerung.

165 Jahre nach seiner Versteigerung in London kehrt der Campe’sche Kalvarienberg nun ein zweites Mal nach Nürnberg zurück, dieses Mal jedoch nicht mehr als Frühwerk Dürers. Diese Zuschreibung war bereits 1846 von Ralf von Rettberg in Zweifel gezogen worden, für den sich das Gemälde nicht mit Dürers Kunstauffassung in Einklang bringen ließ. Mit Dürers Lehrer, Michael Wolgemut, den Gustav Friedrich Waagen 1854 erstmals ins Spiel brachte, bot sich eine Alternative, die Erich Abraham 1912 in einer grundlegenden Publikation dankbar aufgriff und ohne Kenntnis des Originals weiter zu begründen versuchte. Das Dürer-Monogramm, das auf der Umrisszeichnung von 1816 vorne rechts überdeutlich zu sehen ist, wird 1961 in einem Ausstellungskatalog in Manchester noch erwähnt, ist aber später entfernt worden. Wie und wann es auf die Tafel gekommen war, bleibt rätselhaft. Campe zufolge hatte der Bilderhändler Simon, der Campe das Gemälde am 23. Juli 1816 in Paris verkaufte, das ­Dürer-Monogramm nicht erkannt. Simon habe das Gemälde für 1.500 Francs in Brüssel erworben, wo es in einer Kapelle der Beginen aufbewahrt worden sei. Weiter soll der Händler das Bild als Cranach ausgegeben haben, was Campe in seinem Tagebuch wie folgt kommentiert: „Ein Bild von Dürer, mit seinem Monogramm sogar. O sancta simplicitas gallica!“ War der Händler tatsächlich so einfältig oder hat erst Campe das Monogramm auf die Tafel setzen lassen, um einen Dürer nach Hause zu bringen?

Die 144 × 142,5 cm messende Tafel zeigt einen sogenannten volkreichen Kalvarienberg, wie er in der spätgotischen Malerei südlich und nördlich der Alpen seit dem 14. Jahrhundert vorkommt und als christliches Historienbild den Malern Gelegenheit bot, alle Register ihrer Kunst zu ziehen: Fülle und Mannigfaltigkeit der Gegenstände und Farben, Reichtum der Körper und Bewegungen, aber auch Vielfalt an Affekten und Seelenregungen, Naturnachahmung und Anmut der Figuren und Gewänder. Auch Hans Pleydenwurff (1420–1472), der wichtige Etappen seiner Ausbildung in den Niederlanden verbracht und die neue Kunst Jan van Eycks und Rogier van der Weydens in den 1450er und 60er Jahren in den deutschen Sprachraum vermittelt hatte, setzte sich intensiv mit der Darstellung des Kalvarienbergs auseinander. Pleydenwurffs große Leistung lag in der Isolierung und Konzentration der Handlung auf wenige Akteure sowie deren größtmögliche Individualisierung. Neu war die Verlegung traditioneller christlicher Stoffe in ein zeitgenössisches Ambiente sowie die bühnenhafte Inszenierung von Einzelfiguren in großen und anspruchsvollen Kompositionen. Für den Bildtypus des Kalvarienbergs hatte dies weitreichende Konsequenzen. Der volkreiche Kalvarienberg traditionellen Zuschnitts zeigt nämlich viele um das Kreuz gedrängte Figuren, die in der Regel nicht als Individuen, sondern als standardisierte Typen dargestellt und darüber hinaus nach dem Kompositionsprinzip der Überschneidung über- und nebeneinander geschichtet sind. Die Maler im ausgehenden 15. Jahrhundert suchten durch die Einbettung der Szene in eine weitläufige Landschaft und die Heraushebung einzelner Figuren oder Figurengruppen aus der Massenszene neue Lösungen, die den gestalterischen Forderungen der Zeit entsprachen. Dies ist dem Maler des Kalvarienbergs so überzeugend gelungen, dass das Gemälde zunächst als ambitioniertes Frühwerk Dürers durchging: In der Tat zeigt das Tafelgemälde viele Merkmale, die für die fränkische Malerei am Übergang von Hans Pleydenwurff zum jungen Albrecht Dürer charakteristisch sind. Die großformatigen Figuren treten im Vordergrund wie auf einer Bühne vor den Betrachter. Dahinter öffnet sich eine weite und tiefe Landschaft, die durch Hügelzüge und Felsformationen gegliedert und in die Tiefe gestaffelt ist. Der Blick wird im Hintergrund auf eine Stadt am Wasser gelenkt, ein Motiv, das sich in den Werken und den Musterbuchsammlungen Pleydenwurffs und seiner Nachfolger in verschiedenen Variationen findet. Die Naturschilderung bemüht sich bis zu den Pflanzen und Tieren um eine detaillierte, realistische Wiedergabe. Besonders deutlich wird dieser Verismus in der Maserung des Holzes des Kreuzes und der Anbringung des Titulus: Das Papier ist auf die Holzplatte aufgenagelt, wobei die (geschmiedeten) Nagelköpfe zur besseren Fixierung des Papiers mit Stofffetzen unterfüttert sind. Eine Besonderheit ist auch die Lanze oben links, mit der der römische Hauptmann Longinus Christus die Seite geöffnet hat: In ihrer spezifischen Ausformung erinnert sie an die in Nürnberg verwahrte und einmal jährlich anlässlich der Heiltumsweisung gezeigte Heilige Lanze. Sie ist hier in freier Adaption mit durchbrochener Spitze dargestellt; um dies zu verdeutlichen, wurde sogar der in der Unterzeichnung anders angelegte Konturverlauf des Felsens während des Malprozesses verändert.

Wie die Landschaft offenbaren auch die Figuren, von den Körperhaltungen und Gesten bis hin zur Bekleidung, den Willen zu einer möglichst authentischen Wiedergabe. Kein Kopf gleicht dem anderen, dennoch handelt es sich nicht um Individuen, sondern um ein Repertoire charakteristischer Typen, die auch in verwandten Gemälden zu finden sind. So erinnern neben dem Gekreuzigten auch die Disposition und die Gesichtszüge einzelner Figuren an den Kalvarienberg in der Alten Pinakothek in München, dem letztlich die gesamte Bildanlage verpflichtet ist. Bei dieser Tafel handelt es sich um ein Werk, das um 1470 in der Nachfolge von Hans Pleydenwurff in Bamberg entstanden ist und erst in der Barockzeit halbrund beschnitten wurde. Spätere Umarbeitungen zeigt auch der neuerworbene Kalvarienberg: Da sich für die Kielbogenform keine gleichzeitigen Vergleichsbeispiele in der fränkischen Malerei nachweisen lassen, könnte es sich ursprünglich um ein rechteckiges Bild gehandelt haben. Maltechnische Befunde legen nahe, dass die Zwickel der Nürnberger Tafel ursprünglich nicht blauen Himmel zeigten: Es bleibt damit offen, ob diese Partien neutral gestaltet und von geschnitztem Rankenwerk überfangen waren, wie bereits Abraham 1912 vermutete. Wie auch immer: Die Kreuzigung dürfte ursprünglich die Mitteltafel eines mit geschnitztem Rahmenwerk verzierten Altarretabels gebildet haben. Die rückseitige Bemalung zeigt mit dem von Engeln gehaltenen Schweißtuch der hl. Veronika ein für solche Zwecke besonders geeignetes Andachtsbild.

Nach seinem Erwerb im Dezember 2013 wurde das Gemälde im Rahmen des dreijährigen Forschungsprojekts „Die deutsche Tafelmalerei des Spätmittelalters. Kunsthistorische und kunsttechnologische Erforschung der Gemälde im Germanischen Nationalmuseum“ untersucht. Die engsten formalen, stilistischen und technologischen Entsprechungen zeigen nach aktuellem Kenntnisstand verschiedene Tafelbilder aus dem Werkstatt-Kreis des Malers Wolfgang Katzheimer. Dieser führte in Bamberg eine große und bedeutende Werkstatt und avancierte nach der Übersiedlung von Hans Pleydenwurff nach Nürnberg zum meist beschäftigten Maler der Stadt. In seiner Werkstatt waren nicht nur seine beiden Söhne, sondern auch weitere, zum Teil selbstständige Mitarbeiter tätig. Dies jedenfalls legen die motivisch und stilistisch zwar verwandten, in vielen Details aber immer wieder divergierenden Werke der Katzheimer-Werkstatt nahe, weshalb eine klare Differenzierung und Abgrenzung des Œuvres sehr schwer fällt. Im Rahmen dieses Werkkomplexes setzt sich die Nürnberger Tafel von den dramatisch expressiven Tafelgemälden ab, wie sie etwa am Hersbrucker Hochaltar begegnen. Am nächsten kommen ihr die acht Tafeln des Forchheimer Altars, der um 1490 von einem selbstständigen Schüler Wolfgang Katzheimers gemalt worden sein soll, aber seinerseits unterschiedliche stilistische Richtungen bzw. Ausführungsqualitäten offenbart. Mit der Nürnberger Tafel am besten vergleichbar sind die mit größerem Aufwand und größerer Sorgfalt als die Werktagsbilder gemalten Festtagsbilder mit den Szenen der Martinslegende.

Dort entdeckt man nicht nur viele ähnliche Gesichter, sondern auch eine eng verwandte Malweise. Die Szene mit der Martinsmesse zeigt darüber hinaus in der Kasel des hl. Martin eine seltene Form des Pressbrokats mit Granatapfelmuster, das in identischer Weise auf dem Gewand des guten Hauptmanns auf dem Kalvarienberg erscheint. Dort ist es, ebenso wie im Martinsgewand, in eine Umgebung mit flächig strukturierten Gewebe-Imitationen eingebettet. Auch das Muster auf dem Gewand von Maria Magdalena findet Analogien in einem Werk aus der Katzheimer-Werkstatt: Es begegnet in nahezu identischer Gestaltung auf dem Epitaph für die 1482 verstorbene Adelheid Tucher, geb. Gundloch, das aus der Stiftskirche St. Jakob in Bamberg stammen soll.

Auf Folie übertragenes Muster aus dem Mantel des Hauptmanns im Nürnberger Kalvarienberg über dem identischen Pressbrokat auf dem Tafelgemälde der Martinsmesse in Forchheim. Nun müsste man angesichts der genannten Vergleichsbeispiele meinen, dass sich der Schöpfer des Kalvarienbergs genauer bestimmen ließe, doch kommen uns hier die spätmittelalterlichen Werkstattgebräuche in die Quere. In der Zeit einer einzigartigen Hochkonjunktur in der Retabel- und Bildproduktion vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zur Reformation arbeiteten viele hochspezialisierte Künstler arbeitsteilig in größeren Werkstattverbünden. In Folge verschärfter Zunftregelungen war es nur mehr wenigen Mitarbeitern vergönnt, sich durch Einheirat oder Erbe als Meister niederzulassen; die Werkstätten waren deshalb von Mitarbeitern überschwemmt. Die Aufgabe des Meisters konzentrierte sich zunehmend auf die organisatorische Leitung des Betriebs und die Pflege von Kontakten; die Arbeit am Werkstück blieb zur Hauptsache seinen Mitarbeitern vorbehalten, die nach Vorgaben des Meisters oder in Eigenregie unter Verwendung von Musterbuchsammlungen, druckgraphischen Vorlagen, Skizzen und Modellen arbeiteten. In der Variation eines werkstatteigenen Typenvokabulars konnte die Produktion dabei manufakturähnliche Züge annehmen. In größeren Betrieben etablierten sich einzelne Gesellen zu eigenständigen Mitarbeitern, die ihre Werke mitunter auch selber signierten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich selbst innerhalb der acht Tafeln des Forchheimer Altars beträchtliche stilistische Schwankungen und handschriftliche Unterschiede zeigen, wobei die Tafeln mit der Messe und Grablegung des hl. Martin sowie mit Kreuzigung und Judaskuss die engsten Analogien zur Nürnberger Kreuzigung aufweisen: Viele der dort auftretenden Protagonisten sind den Nürnberger Figuren wie aus dem Gesicht geschnitten. Das neu erworbene Tafelbild vertritt damit eine durch beruhigteres Temperament sich auszeichnende Richtung im Kreis der Tafelbilder der Katzheimer-Werkstatt. Es muss jedoch offen bleiben, ob es sich möglicherweise um einen eigenen, in Nürnberg zu lokalisierenden Ableger der Katzheimer-Werkstatt handelte. Die verschiedenen Aufträge der Nürnberger Patrizierfamilie Tucher scheinen dies zumindest nicht auszuschließen.

Für die große Ausstellung „Der frühe Dürer“ 2012 musste das Germanische Nationalmuseum auf eine auswärtige Leihgabe zurückgreifen, um die prägende Rolle der Nürnberger und Bamberger Malerei in der unmittelbaren Nachfolge von Hans Pleydenwurff auf den jungen Dürer zu veranschaulichen. Die hohe Qualität dieser Werke hatte Dürer dazu veranlasst, nach dem Abschluss der Goldschmiedelehre das Metier zu wechseln und das Wagnis einzugehen, sich in einem von harter Konkurrenz bestimmten Markt als Maler und bildender Künstler zu etablieren. Um diese wegweisende Rolle der Nürnberger und Bamberger Malerei in der Ausstellung zu verdeutlichen, standen 2012 eigene Bestände nicht mehr zur Verfügung, nachdem das Museum das von 1866 bis 1961 als Leihgabe im Haus befindliche Hersbrucker Retabel an die Kirche hatte zurückgeben und 1968 auch das Tucher-Gundeloch-Epitaph an das neueingerichtete Museum im Tucherschloss hatte abtreten müssen. Das neu erworbene großformatige Tafelgemälde mit dem Kalvarienberg schließt deshalb eine empfindliche Lücke in einer der größten und vielfältigsten Sammlungen spätgotischer Tafelmalerei im deutschen Sprachraum. So kehrt ein bedeutendes Gemälde aus der Zeit von Dürers Jugendjahren wieder an seinen Ursprungsort zurück.