Die Spur der Kappe
Besonders auffällig ist die leuchtend grüne Kappe mit der hornförmigen Auspolsterung über der Stirn und den langen grünen Fransen, die in den Nacken herabfallen. Da hat sich jemand fein gemacht. Der Anlass allerdings ist nicht bekannt: Ein Hochzeitsbild wird es nicht sein, dazu hätte dem jungen Mann das Porträt seiner Verlobten an die Seite gestellt werden müssen, auch wendet der Mann sich auf solchen Bildpaaren klassischerweise nach rechts zur Frau, dieser junge Mann hier dreht sich jedoch nach links. Auch wer es war, der sich da mit grünem Wams mit Zierschnüren am Hals vor rotem Hintergrund porträtieren lässt, erfährt man nicht: Kein Name, keine Altersangabe, kein Schmuck oder goldene Ketten, kein Wappen geben Aufschluss über Stand und Herkunft. Es könnte ein Künstlerkollege des Malers sein, ein Kaufmann, ein erfolgreicher Handwerker oder Nürnberger Patrizier. Die auffällige grüne Kleidung könnte auch die Livrée eines Dieners oder städtischen Angestellten sein. Wer auch immer es ist, er hat es nicht nötig, mit Statussymbolen und Reichtum zu protzen. Und wirkt heute, über 500 Jahre nach seiner Entstehung, mit seinen scharf geschnittenen, nüchternen Zügen, dem ernst und konzentriert fixierenden Blick und den leuchtenden Farben seiner Kleidung so frisch wie einst. Kein Wunder, so Stephan Kemperdick, Kustos für Altniederländische und Altdeutsche Malerei der Berliner Gemäldegalerie, dass dieses Bild besonders auch jenen gefällt, die dem fotografischen Naturalismus der Altniederländer wie Jan van Eyck nicht so viel abgewinnen können: „Das kühn Abstrahierte der Gesichtszüge entspricht einem Geschmack, der an der Moderne geschult ist.“
Doch auch wenn man über den Dargestellten nichts weiß: Die Kappe immerhin gibt Aufschluss über seine Herkunft. So oder ähnlich, mit Horn oder Fransen, taucht sie auch auf anderen Bildern des ausgehenden 15. Jahrhunderts auf, führt Matthias Weniger, Referent für Skulptur und Malerei vor 1550 am Bayerischen Nationalmuseum in München, aus: zum Beispiel bei Michael Wolgemuts Porträt des Nürnberger Stadtrichters Levinus Memminger um 1485, das sich heute im Museo ThyssenBornemisza in Madrid befindet, oder, wichtiger noch, bei der berühmten Silberstiftzeichnung aus der Albertina von 1484, in der sich der 13-jährige Albrecht Dürer porträtiert hat, und später noch einmal, deutlich geckenhafter, in Dürers Madrider Selbstbildnis. Die Spur der Kappe führt also nach Nürnberg, in den Umkreis, dem Dürer als Künstler entsprang. Stephan Kemperdick datiert das Bild des geheimnisvollen jungen Mannes in die Jahre 1480 bis 1485, also in eine Zeit, in der Albrecht Dürer in der Werkstatt von Michael Wolgemut ausgebildet wurde, und er hält es für durchaus vergleichbar mit Wolgemut – nur qualitativ besser. Damit ist das Porträt ein herausragendes Beispiel jener Kunst, die in Nürnberg entstand, als Dürer jung war. Für die Berliner Gemäldegalerie mit ihrem reichen Dürer-Bestand ist das Bild damit besonders wertvoll. Zwar verfügt die Sammlung über einen beeindruckenden Bestand altdeutscher Porträtmalerei von Altdorfer, Amberger, Baldung, Dürer, Cranach und Holbein und ist damit die bedeutendste ihrer Art nördlich der Alpen. Aus der Zeit vor Albrecht Dürer jedoch fehlte in der Sammlung bislang ein Beispiel. Kemperdick sieht darin „Zufälle der Erwerbungsgeschichte“: Fast alle anderen vergleichbaren Kollektionen weisen zumindest ein Bild aus der Vordürerzeit auf. Dass ein Museum wie das Kunstmuseum Basel gleich über fünf solcher Porträts verfügt, führt Kemperdick auf die bürgerliche Sammlungstradition zurück, die sich mehr auf kleinformatige Porträts als auf große Historienbilder konzentriert hat. So erklärt sich auch, dass das dortige Kunstmuseum, dem das Bild vom Schweizer Händler Karim Khan zunächst angeboten wurde, angesichts des beachtlichen Preises letztlich vom Ankauf Abstand nahm.
Für die Berliner Gemäldegalerie, wo das Bild seit Januar 2012 hängt, ist es ein Glücksfall, wie er alle Jubeljahre einmal eintritt, zuletzt 1990, als die National Gallery in London das herausragende Porträt des Alexander Mornauer erwarb. Das Feld ist überschaubar klein: Weltweit sind nur etwa einhundert Porträts der Vordürerzeit bekannt, sie alle befinden sich in Museumsbesitz. Dass noch einmal ein solches Bild auf den Markt kommen würde, welches helfen kann, die Lücke der Gemäldegalerie in der frühen altdeutschen Malerei zu schließen, hätte keiner zu hoffen gewagt. Zumal das Werk, an dessen Echtheit und exzellentem Erhaltungszustand kein Zweifel besteht, bis zu seinem Auftauchen auf einer New Yorker Auktion 2007 nicht publiziert war. Dass es in New York zunächst als „French Master“ angeboten wurde, spricht für Kemperdick dafür, dass es aus einer außereuropäischen Sammlung stammt. Wäre es im frühen 20. Jahrhundert, zu Zeiten, als die altdeutsche Malerei hohes Interesse erweckte, in einer deutschen oder europäischen Privatsammlung verzeichnet gewesen, wäre es mit Sicherheit schon damals publiziert worden.
Bewundern konnte die Öffentlichkeit das Bild erstmals 2011 in Wien und München in der Ausstellung „Dürer, Cranach, Holbein. Die Entdeckung des Menschen: Das deutsche Porträt um 1500“, die vielen als „Gegenausstellung“ zur großen Berliner Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ galt. Insbesondere der Berliner Kunsthistoriker und Spezialist für altdeutsche Malerei Robert Suckale weist darauf hin, dass die Berliner These der Entstehung des Individuums in der Porträtkunst der italienischen Renaissance durch die Münchner Schau deutlich relativiert worden sei. Im Gegenteil: Während die italienische Renaissance mit ihren Porträts vom Gedanken der Repräsentation geprägt gewesen sei, sei die eigentliche Entstehung der Porträtkunst im Norden zu suchen, in den naturalistischen niederländischen Porträts eines Jan van Eyck, aber eben auch in den nüchtern auftretenden altdeutschen Porträts wie diesem: „Während die Italiener sich für den Faltenwurf eines Gewandes begeisterten, interessierten sich die altdeutschen Maler eher für die Falten des Gesichts“, urteilt Suckale.
In dem unrepräsentativ auftretenden Jüngling mit grünem Hut sieht er denn auch „den bedeutendsten Neufund zur altdeutschen Porträtmalerei seit Jahrzehnten“. Den namenlosen Maler ordnet er – wie auch Matthias Weniger und Stephan Kemperdick – dem Umkreis des Nürnberger Augustiner-Altars von 1487 zu, setzt das Bild jedoch einige Jahre früher an. Auffallend beim heute im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg gezeigten Augustiner-Altar sind die stark porträthaft herausgearbeiteten Köpfe der Heiligen – so erkennt Stephan Kemperdick insbesondere im Heiligen Lukas, der die Madonna porträtiert, auffallende Ähnlichkeiten zum Berliner Bild, und ist sich sicher: „Einer der Maler, die an dem Augustiner-Retabel gearbeitet haben, hat auch dieses Bild gemalt.“ Für Matthias Weniger könnte diese Ähnlichkeit ein weiteres Argument für seine These sein, dass der Dargestellte womöglich ein Künstlerkollege des Malers war. Nicht umsonst ist der Heilige Lukas Patron der Maler und Namensgeber ihrer Gilde. Dass Dürer sich mit einer ähnlichen Kappe porträtiert, passt ebenfalls perfekt in diese Linie.