Bilder aus der Happening-Zone

Das genaue Datum lässt sich nicht mehr ermitteln, aber es war im Jahr 1977 an einem Sonntag, so viel ist sicher. Bei einem Aufenthalt in Dresden statteten die jungen Männer wie Millionen von Touristen vor und nach ihnen dem Zwinger einen Besuch ab. Über den Wallpavillon gelangten sie auf die Terrassen. Von dort begaben sie sich zu einem der Eckgebäude. Und dann ging alles ganz schnell. Michael Morgner, 35, Thomas Ranft, 32, und Gregor-Thorsten Schade, 29, entkleideten sich vollständig, enterten die Postamente in den leeren Muschelnischen an der rückwärtigen Fassade und nahmen ihre Posen ein: drei nackte, ziemlich heutige Faune als barocke Titanen, die ihre imaginären Weltkugeln schulterten.

Ein Happening der Chemnitzer Künstlergruppe Clara Mosch: Sonntagnachmittag im Zwinger Dresden, 1977, Fotografie von Ralf-Rainer Wasse
Ein Happening der Chemnitzer Künstlergruppe Clara Mosch: Sonntagnachmittag im Zwinger Dresden, 1977, Fotografie von Ralf-Rainer Wasse

Es waren Happenings wie dieses, mit denen die Mitglieder der Chemnitzer Künstlergruppe Clara Mosch (1977–1982) Bekanntheit erlangten, in der DDR sowieso, aber auch über deren Grenzen hinaus. Manchmal dauerten sie nur wenige Minuten, manchmal zog sich das Ganze über mehrere Tage hin. Das waren dann die sogenannten Pleinairs. Eines ihrer hervorstechenden Merkmale war ihre Vergänglichkeit. Die Aktionen waren für den Moment geschaffen – ging der vorüber, blieben davon nur Erinnerungen. Und die Fotos, die der Fotograf Ralf-Rainer Wasse, ein ständiger Begleiter der Gruppe, auf kongenial-künstlerische Art anfertigte. Rund dreißig Jahre nach seinem Entstehen konnte das einzigartige, über 10.000 Negative umfassende Konvolut mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder für das Lindenau-Museum in Altenburg erworben werden, wo es jetzt wissenschaftlich aufgearbeitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Den Clara Mosch-Künstlern ging es nicht darum, bei ihren Performances marktgängig verwertbare Objekte zu gewinnen – die Happenings selbst waren das Entscheidende. Umstritten war dieser Kunstbegriff damals auch im Westen, aber im Osten galt die rückhaltlose Subjektivität, die sich daran knüpfte, als verdächtig, wenn nicht gar gefährlich – sie suggerierte im Kleinen eine Freiheit, die für den Staat im Großen eine potenzielle Bedrohung darstellte. „Die Clara Mosch-Mitglieder wollten ein geistiges und künstlerisches Klima schaffen, in dem sie leben konnten, und zwar an dem Ort, an dem sie trotzig beschlossen hatten, zu verweilen“, sagt Jutta Penndorf, Direktorin des Lindenau-Museums in Altenburg, die bereits vor fünfzehn Jahren eine umfangreiche Ausstellung über die Künstlergruppe bei sich im Haus gezeigt hat, „und von den Behörden wurden ihre Kunst und ihre künstlerischen Aktionen als politisch empfunden.“ Und das hatte Folgen für jeden einzelnen von ihnen.

Ursprünglich war Clara Mosch sowohl der Name einer Produzentengalerie im Chemnitzer Vorort Adelsberg als auch der Künstlergruppe, die dort den harten Kern bildete. Sie bestand fünf Jahre lang, von 1977 bis 1982. Die treibende Kraft war Thomas Ranft. Der gebürtige Thüringer hatte an der Kunsthochschule in Leipzig studiert und war 1972 mit seiner Kommilitonin und späteren Ehefrau Dagmar Ranft-Schinke nach Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt, gezogen. Weitere Mitglieder von Clara Mosch waren: der Chemnitzer Michael Morgner, Gregor-Torsten Schade, der jüngste der Gruppe, 1948 in Hildburghausen geboren und seit 1974 in Chemnitz, und schließlich Carlfriedrich Claus, Jahrgang 1930, aus dem sächsischen Annaberg-Buchholz. Zuerst sollte die Künstlergruppe, so erinnerte sich Michael Morgner später, „Sinngrün“ heißen. Doch dann entschied man sich für Clara Mosch, ein Akronym aus den Namen der Mitglieder CLAus, RAnft (-Schinke), MOrgner und SCHade.

In ihrer individuellen künstlerischen Praxis durchaus sehr unterschiedlich orientiert, verband die fünf ein ausgeprägter schöpferischer Eigensinn. Thomas Ranft hatte sich damals vor allem auf Radierungen konzen­triert und schuf feingliedrig gezeichnete Mischformen aus Illustration und Abstraktion. Dagmar Ranft-Schinke malte ganz ungegenständlich: oft stark farbige, wie gespachtelt wirkende gestisch-bewegte Bilder. Michael Morgner wiederum war mit seinen düsteren, existentialistischen Figurendarstellungen derjenige aus der Gruppe, der am meisten vom Expressionismus beeinflusst schien. Gregor-Torsten Schade malte, zeichnete und schnitt ähnlich düstere Motive, nur noch ungegenständlicher. Und Carlfriedrich Claus, einer der bedeutendsten deutschen Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war mit seinen endlos über das Blatt mäandernden skripturalen Zeichnungen in der DDR ohnehin seit langem ein Außenseiter, allerdings – was seine Wirkung etwa auf Thomas Ranft angeht – ein einflussreicher.

War die persönliche Herangehensweise der fünf Clara Mosch-Mitglieder auch unterschiedlich, so entwickelten sie in den Happenings und Pleinairs, die zwischen 1975 (also bereits zwei Jahre vor der Gründung der Galerie Clara Mosch) und 1982 stattfanden, doch einen relativ einheitlichen Stil. Carlfriedrich Claus hielt sich dabei eher zurück. Seinen Platz als Ideen­geber, Organisator und Mitwirkender nahm der Kunsthistoriker, spätere Leipziger Direktor der Galerie für zeitgenössische Kunst und Rektor der Hochschule für Graphik und Buchkunst, Klaus Werner, ein. Außerdem wurden auch verschiedene andere befreundete Künstler eingeladen, bei manchen Gelegenheiten fanden sich so zwei oder drei Dutzend Teilnehmer zusammen. Teils den Umständen geschuldet, teils ihren Neigungen entsprechend, spielten sich ihre Aktionen meist in ländlicher Abgeschiedenheit ab: auf den Inseln Hiddensee und Rügen, in Leussow in Mecklenburg-Vorpommern, in der Sächsischen Schweiz, auf Usedom, in Wernigerode, einmal auch in einer Papierfabrik in Zwickau.

Das verbindende Element dabei war eine besondere Form der Land-Art. Die Natur und die Gegebenheiten der Landschaft waren nicht nur Schauplatz der Aktionen, sie wurden zum künstlerischen Material. Ein exemplarisches Happening spielte sich 1979 auf Rügen ab: Für „Ein Kreuz legen“ legte sich Michael Morgner in dunkler Kleidung rücklings auf den Boden und breitete die Arme aus. Anschließend bedeckten die Freunde seinen Körper mit hellen Kieselsteinen: seine Beine, den Oberkörper, die Arme und sein Gesicht. Zum Schluss machte Ralf-Rainer Wasse Fotos, aus der Totalen und von Details. Ein Jahr später kam es bei einem anderen Pleinair zu der Aktion „Künstler fressen Heu“. Auch hiervon gibt es nur noch die Fotos von Wasse: Man sieht darauf die Künstler Hans-Hendrik Grimmling, Michael Morgner, Thomas Ranft, Gregor-Torsten Schade und Wolfgang E. Biedermann, wie sie sich auf einer Weide über ein Gestell beugen und tatsächlich Heu fressen.

Bereits ein Jahr vor Gründung der Clara Mosch-Gruppe hatten Thomas Ranft und Gregor-Tors­ten Schade in Adelsberg das Happening „Wir weben unser Leichentuch“ veranstaltet. Aus einem Fenster ihres Wohnhauses zogen sie eine etwa einhundert Meter lange, aus Unmengen von Laken genähte Stoffbahn die Straße entlang, den Hang hinunter. Auf etwa halber Höhe saßen die beiden Künstler an Nähmaschinen und nähten vor sich hin. Auch hier machte, wie immer, Ralf-Rainer Wasse die Fotos. Allerdings gab es damals in Adelsberg, um es vorsichtig zu formulieren, in der Bevölkerung nicht nur zustimmende Kommentare. Zu ungewohnt, zu anders war das alles.

Obwohl die Pleinairs in ihrem Widerstand gegen vorgeschriebene Denk- und Handlungsweisen tief in den ostdeutschen Verhältnissen verankert waren, hatten sie auch eine internationale Dimension. In ihrem Humor und ihrer antiakademischen Guerillataktik erinnerten sie an die Kunst der Situationistischen Internationale. Von großer Bedeutung waren für die Clara Mosch-Künstler auch die Happenings von Joseph Beuys, über den die Chemnitzer intime Kenntnis hatten. Näher sind sich die Kunst der DDR und die Kunst des Westens wahrscheinlich nie gekommen. Und das musste in einem paranoiden Staat wie der DDR zwangsläufig die Autoritäten auf den Plan rufen. So ist die Geschichte der Galerie Clara Mosch und der gleichnamigen Künstlergruppe auch eine Geschichte von Verrat, von Niedertracht und der Lust an der Zerstörung. Die Stasi zog alle Register. Zeitweilig waren auf die Mitglieder von Clara Mosch an die einhundert Informelle Mitarbeiter angesetzt, operiert wurde nach allen Regeln der psychologischen Kriegsführung.

Zum Beispiel erlaubte man einigen aus der Gruppe Ausstellungsbeteiligungen und Reisen in den Westen – und anderen nicht. Damit sollten Argwohn und Zwietracht gesät werden, was leider offenbar auch funktionierte. Ein anderes Beispiel: Irgendwann bekam Thomas Ranft eine Galeriehilfe zugewiesen. Die attraktive junge Frau hatte einen speziellen Auftrag: die Ehe von Thomas und Dagmar Ranft-Schinke zum Scheitern zu bringen (was, unter freundlich-naiver Mithilfe des um seinen Verstand gebrachten Thomas Ranft, auch gelang). Den größten Coup jedoch landete die Staats­sicherheit mit der Platzierung eines Agenten direkt in der Mitte von Clara Mosch.

Man mag darin eine Ironie der Geschichte erkennen, dass es ausgerechnet dem Kampf gegen die dissidenten Künstler zu verdanken ist, dass wir heute über so umfangreiches Material zu den Clara Mosch-Happenings verfügen. Der Fotograf Ralf-Rainer Wasse hatte nämlich nicht nur eigenes künstlerisches Interesse an den Pleinairs und an der Galerie in Adelsberg. Er machte seine Fotos auch im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit. Verdacht hatten die fünf Clara Mosch-Angehörigen schon in den Achtziger Jahren geschöpft, doch endgültige Gewissheit darüber erlangten sie nach dem Ende der DDR. Damals war ihr früherer ständiger Begleiter Ralf-Rainer Wasse bereits an einen kleinen Ort an der Nordseeküste gezogen – und hat seitdem jeden Kontakt zu seinen früheren Künstlerfreunden verweigert. So ist über seine Beweggründe nach wie vor nichts bekannt.

Auch Jutta Penndorf, eine der wenigen Personen aus dem alten Clara Mosch-Umfeld, die sich viele Jahre nach seinem Verschwinden mit Wasse traf, kennt keine schlüssige Erklärung für sein Verhalten. Doch vielleicht ist es den seinerzeit observierten Künstlern zumindest eine leise Genug­tuung, dass der Versuch, ihre Aktivitäten zunichte zu machen, heute zu ihrer Aufnahme in den musealen Kanon führt.

Seit ihrer Erwerbung wurden die Wasse-Fotos am Lindenau-Museum in Altenburg akribisch katalogisiert und digitalisiert. Die Leipziger Kunsthistorikerin Daniela Götze richtete eine wissenschaftliche Datenbank ein und verlinkte sie über viele Stichworte. Die Daten werden in Kürze im Internet allgemein zugänglich sein.

Die Fotodokumente zu Clara Mosch sollten verschwinden, stattdessen sind die unkonventionelle Kunstauffassung, der Humor, der künstlerische Widerstand der Clara Mosch-Künstler nun für alle absehbaren Zeiten überliefert. Die Nutzer wird es freuen: Die fünf Jahre, in denen Clara Mosch Bestand hatte, waren nicht nur eines der wichtigsten Kapitel der Kunstgeschichte der DDR. Ihre Happenings sind auch für das Verständnis der gesamtdeutschen Kunst der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts von hervor­ragender Bedeutung.