Die Monumentalität des Minimalen
Die Hauptstadt des Deutschen Reiches an der Neige zum 20. Jahrhundert. Was für eine Zeit! Erfindungen revolutionieren Industrie und Produktion, Mobilität und Verkehr wachsen rasant, Automobile beginnen die Straßen zu bevölkern, erste Fluggeräte steigen in die Luft. Die Physik entdeckt das Geheimnis der Atome, und Freud in Wien erforscht die Seele.
Das Zeitalter der Humboldts hatte die Welt entdeckt, kartographiert, entzaubert – doch wuchsen mit all dem Wissen nicht nur die Neugier, sondern auch die Zweifel an der Wirklichkeit. Industrie, Verschmutzung, Lärm und Klassenkampf beförderten den Exotismus, und wer sich keine Reisen in ferne Länder leisten konnte, der ließ die Länder zu sich kommen: Zu Zehntausenden strömten Menschen in die Zoos und botanischen Gärten, die in jener Zeit europaweit gegründet wurden; man bewunderte die fremden Tiere, Pflanzen, Formen und fürchtete sich zugleich vor ihnen; man träumte von hohen Gipfeln und dunklen Tiefen, von fernen Welten und ebensolchen Zeiten.
So war die Entzauberung der Welt nicht zuletzt auch eine ästhetische. Nicht von ungefähr brachte der Wortführer des aesthetic movement das Dilemma auf den Punkt: „Ich ziehe es vor“, so Oscar Wilde, „mich an der Schönheit einer Rose zu erfreuen als ihre Wurzel unters Mikroskop zu legen.“ Gleichwohl – oder gerade deshalb – war die Natur um 1900 Fingerzeig in die Moderne. Mit dem letzten Aufbäumen von Historismus, Neubarock und Neuromanik in den geradezu monströsen Schöpfungen von Malerei, Architektur und Wohnkultur des „offiziellen“ Kaiserreiches war ein point of no return erreicht, dem nur noch maximale Abkehr folgen konnte: Die formale Klarheit und sachliche Eleganz, aber auch die Unergründlichkeit der Pflanzenwelt mit all ihren mythischen und fabelhaften Assoziationen geriet zum Arsenal des neuen Stils, des Jugendstils, der in seiner zunächst floralen, später linearen Ausprägung die Angewandte Kunst revolutionierte und dem Zeitalter des Bauhauses seinen Weg bereitete.
Nicht unwesentlich beteiligt an dem Vorgang der Entzauberung war die Erfindung der Fotografie, deren technischen Hervorbringungen Walter Benjamin einen „magischen Wert“ zuschrieb, wie ihn kein gemaltes Bild mehr besitzen könne – gerade weil das Abgebildete „niemals gänzlich in die Kunst“ würde eingehen wollen. Nun, das Ende der Malerei, wie von manchen einst befürchtet, hat die Fotografie uns nicht gebracht, vielmehr ergänzten und beeinflussten die Techniken einander lange, auch bis heute. Und doch eröffnete die Fotokamera mit ihren Möglichkeiten neue Wege für die Durchdringung von Tatsächlichkeit, ja für das Eindringen in dieselbe. Und das mit Resultaten, die ihrerseits so auratisch waren, dass sie selber alsbald den Rang von Kunst bekamen. Exponent par excellence dieser Entwicklung war der Fotograf Karl Blossfeldt. Was er ursprünglich als Dokumente für die Kunsterziehung schuf, zählt heute zu den Ikonen der Neuen Sachlichkeit.
Geboren 1865, war Blossfeldt zunächst als Bildhauer und Modelleur ausgebildet worden, ehe er ein Zeichenstudium an der Lehranstalt des Königlich Preußischen Kunstgewerbemuseums in Berlin begann, wo er auf einen Lehrer traf, der sein künstlerisches Werden entscheidend beeinflussen sollte. Moritz Meurer forderte von seinen Studenten ein präzises Naturkundestudium, da er die Idee einer Analogie von natürlichen und künstlerischen Formen verfolgte – eine alte Vorstellung, die schon durch die romantische Gotikrezeption wiederbelebt worden war. So bei Goethe, der angesichts des Straßburger Münsters von einem „Baume Gottes“ sprach, „der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern wie der Sand am Meer ringsum der Gegend verkündet die Herrlichkeit des Herrn“.
Einhundert Jahre später sollte es Meurer nunmehr darum gehen, die Natur aus ihren himmlischen Höhen im gotischen Kathedralenbau zur unmittelbaren Anschauung zu bringen, um daraus wiederum ein Fundament der künstlerischen Ausbildung für Studenten zu bereiten. Hier bot die Fotografie die Möglichkeit, die Natur vom Großen ins Kleine zu transponieren und auf diese Weise dem Minimalen gleichsam zur Monumentalität zu verhelfen, zur Mustergültigkeit. Auf Meurers Bitte begann Karl Blossfeldt, Pflanzen als Anschauungsmaterial für eine Lehrsammlung zu fotografieren. Mit selbst entwickelter Kameratechnik und in strenger, sachlicher Reihung lichtete Blossfeldt die präparierte Fauna in mehrfacher Vergrößerung vor neutralem, meist hellem oder grauem Hintergrund ab. So entstanden Aufnahmen von eindrucksvoller Symmetrie und Präzision, die nicht nur Einblicke in die ornamentale Morphologie der Natur erlaubten, sondern die Objekte zugleich in eine mitunter sakral anmutende Skulpturalität erhöhten. Knospen gerieten zu Kapitellen, Stiele zu Säulen, Blätter zu Bischofsstäben.
So sah Blossfeldt, wie er selber sagte, die Natur als „die größte Künstlerin“, die nicht nur für die dekorative Kunst, sondern „auch für den Bereich der Technik und Architektur unsere beste Lehrmeisterin“ sei – prophetische Worte, wenn man bedenkt, dass das Morphing nach der Natur zum festen Bestandteil ingenieurswissenschaftlicher Formoptimierung geworden ist, von den Oberflächen von Lotosblättern im Sanitärbereich über die Haut von Haien im Schiffsbau bis hin zum Vogelschlag von Schleiereulen in der Luftfahrttechnik.
Schon zu Lebzeiten Blossfeldts, der ab 1899 selbst zum Dozenten und 1921 zum ordentlichen Professor für Plastisches Gestalten aufstieg, wurden dessen Fotografien in ihrer künstlerischen Dimension wahrgenommen. So zeigte die Galerie Karl Nierendorf in Berlin 1926 erstmals Blossfeldts Werke in einer Einzelausstellung. Das zwei Jahre später erschienene Buch „Urformen der Kunst“ machte ihn zu einer Berühmtheit. 1929 zeigte László Moholy-Nagy die Bilder Blossfeldts in der legendären Ausstellung des Deutschen Werkbundes in Stuttgart; ein Jahr später ließ sich Blossfeldt auf eigenen Wunsch hin emeritieren, um sich ausschließlich der Fotografie widmen zu können. Bereits 1932 jedoch starb er in Berlin. Walter Benjamin hatte ihm zuvor in seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“ ein Denkmal gesetzt, als er ihn zum Protagonisten eines neuen Sehens machte, dessen Werk nicht nur die „Differenz von Technik und Magie als durch und durch historische Variable“ offenbare, sondern für Anschauung des „Optisch-Unbewussten“ so sprechend sei wie die Psychoanalyse für die Aufdeckung des Triebhaft-Unbewussten.
Kaum eine zweite künstlerische Manifestation der Fotografiegeschichte hat sich so in das kollektive Bildgedächtnis eingeschrieben wie das Œuvre Blossfeldts, und auch seine künstlerische Rezeption ist wohl kaum hoch genug zu schätzen. Noch Bernd und Hilla Becher, deren Schülergeneration zur Weltberühmtheit aufgestiegen ist, standen zweifelsohne in der Tradition dieses großen Pioniers der Fotografie der Neuen Sachlichkeit, der Oscar Wilde so einfach wie genialisch weitergedacht hatte, indem er nicht die Wurzel der Rose unter dem Brennglas betrachtet hatte, sondern die Blüte.
Mit der Erwerbung von 75 Originalaufnahmen von Karl Blossfeldt ist die Pinakothek der Moderne jetzt das einzige Museum weltweit, das über ein ebenso hochkarätiges wie repräsentatives Konvolut aus dem Schaffen des Fotografen verfügt. Komplettiert wird diese Werkgruppe durch das Karl Blossfeldt-Archiv, das seit 2010 mit der Stiftung Ann und Jürgen Wilde an der Pinakothek der Moderne beheimatet ist. Bereits in den frühen 1990er Jahren in das Verzeichnis national wertvollen Kulturguts aufgenommen, umfasst es neben Originalkontakten und -vergrößerungen rund 2.000 Glasplattennegative, Diapositive sowie zahlreiche Dokumente zu Leben und Werk aus dem Nachlass des Künstlers.
In der Ausstellung „Karl Blossfeldt und die Sprache der Pflanzen“ (31.8.–21.10.2012) werden die empfindlichen, aus dem Nachlass des Künstlers stammenden Silbergelatineabzüge erstmals öffentlich gezeigt.