Der Vermeer aus Mecklenburg
Vorbei die Zeiten, dass man auf Tischerücken und Hypnose zurückgreifen musste. Heute heißt es: „Registriere Dich bei Facebook, um mit Georg Friedrich Kersting in Kontakt zu treten.“ Die Aufforderung verwirrt ein wenig. Sind es doch mehr Eitelkeit und Exhibitionismus der Lebenden, die Facebook so erfolgreich machen – und für die steht ein zwischenzeitlich fast vergessener, romantischer Künstler nun wirklich nicht. Auch wenn der Internet-Eintrag nichts Neues über den Künstler und Entwerfer Kersting (1785–1847) sagt, so verzeichnet er doch einige Links zu seinen Bildern, und mehr als 40 Facebook-Mitglieder haben ein Häkchen im Gefällt-mir-Kästchen gemacht.
Georg Friedrich Kersting, Selbstbildnis aus dem Carus-Album, einer Porträtsammlung von Künstlerbildnissen des 18. und 19. Jahrhunderts, 1814; Städtische Galerie Dresden
Was auch immer sie mit diesem Häkchen verbinden, wahrscheinlich gefällt ihnen das abgebildete Selbstporträt eines verwegenen jungen Mannes, so wie sich der Maler 1814 zeichnete. Da war er 29 Jahre alt, hatte seine Ausbildung an der Kopenhagener Kunstakademie hinter sich, war aus der Heimatstadt Güstrow in die Kunststadt Dresden gezogen und für seine Tapferkeit als Lützower Jäger ausgezeichnet worden. Doch der Frieden in Sachsen brachte Kersting keine Akademie-Anstellung, mit der der Sohn des Güstrower Amtsglasermeisters seinen Lebensunterhalt hätte verdienen können. Von der Kunst allein lebte damals noch nicht einmal Goethe, der von Kersting durchaus begeistert war und dem Weimarer Hof empfahl, seine Bilder zu kaufen. Für eine Familie reichten solche Freundschaftsdienste nicht, und so wurde die Anstellung als Malereivorsteher der Porzellanmanufaktur in Meissen Kerstings Lebensgrundlage. Er blieb dort auf den Tag genau 29 Jahre bis zu seinem Tod am 1. Juli 1847, was für seine Fähigkeiten und seinen Erfolg in dieser bedeutenden Position spricht. Denn die Anforderungen waren hoch: „Kurz, es soll nicht nur ein Porzellanmacher sondern ein mehrfach gebildeter Künstler sein, der einen durch Reisen und Benutzung von Kunstschätzen ausgebildeten Geschmack und dabei das Talent besitzt, mit Leichtigkeit gefällige Muster und Dekorationen nach den Erfordernissen zusammenzusetzen und anzugeben“, schreibt der Direktor der Manufaktur über seine Vorstellungen von einem neuen Angestellten an den sächsischen König. Kersting erfüllte alle, bestand die Probezeit von einem Jahr und arbeitete streng nach einem Aufgabenkatalog mit 14 Positionen, die vom Austeilen des Goldes an die Maler über Preiskalkulationen bis zur Entwicklung „neuer Desseins [sic] für die Malerei“ reichten, wobei er „dabei aber leichte Ausführbarkeit, Geschmack, vorherrschende Neigung und Wohlfeilheit tunlichst miteinander zu vereinigen“ habe.
Ein Vollzeitjob, würde man heute sagen, und sich nicht wundern, dass neben dieser Arbeit und vier Kindern zum Malen wenig Zeit blieb. Die moderne Kunstwissenschaft sieht hier trotzdem das spezielle Kersting-Problem. Als freier Künstler hervorgetreten durch Interieur-Porträts, in denen er seinen Künstlerfreunden Caspar David Friedrich und Gerhard von Kügelgen sowie der Malerin Louise Seidler („Die Stickerin“) ein Denkmal setzte, entstanden in den Meissener Jahren nur wenige Bilder, deren Qualität oft nicht an die der frühen Gemälde heranreicht.
Doch es ist Zeit für ein neues, ein modernes Kersting-Bild. Wenn heute einer wie der kürzlich mit einer großen Ausstellung in der Frankfurter Schirn geehrte Eugen Schönebeck mit 31 Jahren aufhört zu malen, wird das als individuelle Besonderheit akzeptiert und bewundert. So sollte es auch bei Kersting sein, der sowohl ein bedeutender Maler seiner Zeit als auch ein wichtiger Designer war. Dass seine künstlerische Entwicklung anders verlaufen wäre, hätte er eine Anstellung an der Dresdner Akademie bekommen, ist reine Spekulation. Fest steht dagegen, dass Kersting eine glanzvolle zweite Karriere hinlegte, in der er zum Retter der defizitären Porzellanmanufaktur in Meissen wurde. Als er 1818 dort anfing, musste sie vom König noch subventioniert werden. In Kerstings Zeit wurde sie durch neue, moderne Entwürfe in höchster Qualität und ein neues, billigeres Vergoldungsverfahren wieder profitabel. Dass neue Moden die Innovation und Bedeutung dieser Arbeit allzu schnell überholten, ist Fakt, schmälert aber nicht die Leistung des Malereivorstehers. Deshalb soll hier nicht mehr geklagt werden, Kersting habe zu wenig Zeit zum Malen gehabt.
Vielmehr sind es Geschmack und ein gefühlsbetontes Interesse, die einen Künstler bedeutend (und teuer) machen oder eben nicht. Das Beschaulich-Häuslich-Sicher-Heimelige, das Kersting in hoher Perfektion malte, mochte man in immer mobileren Zeiten immer weniger. Und schon gar nicht in Form dieser ruhigen, streng konstruierten Bilder, wie sie zu seinen Besten gehören. Er wurde noch zu Lebzeiten nahezu vergessen, wie sein zehn Jahre älterer Freund Caspar David Friedrich auch.
Doch dessen Bilder einer grandiosen, bedrohenden Natur treffen heute genau den Nerv einer Zeit, die sich zwar praktisch immer mehr von der Natur entfernt, theoretisch aber Nähe und Verbundenheit herbeisehnt. Nicht umsonst begann Friedrichs Aufstieg in den 1970er Jahren, nachdem er wie sein Freund Kersting in der großen Berliner Jahrhundertausstellung 1906 durch Hugo von Tschudi und Kollegen schon einmal wiederentdeckt worden war. Zwei Mal erwähnt Tschudi Kersting – als Porträtisten C. D. Friedrichs und als Beispiel für einen „technisch vollendeten und in der malerischen Anschauung außerordentlichen Interieur-Maler“ – bevor er zum großen Lobgesang anhebt: „Georg Friedrich Kersting wurde schon bei dem Bild, das er von dem Atelier seines Freundes Friedrich gemalt hat, genannt. Neben diesem gehört er vielleicht zu den größten Überraschungen der Jahrhundertausstellung. Wie Friedrich stammt er aus dem höchsten Norden Deutschlands, wie dieser besuchte er die Kopenhagener Akademie und zog wie dieser nach Dresden. Wie konnte es nur geschehen, daß die Dresdener Gemäldegalerie nicht ein einziges Bild dieses Künstlers besitzt? Denn er steht um nichts den meisten der holländischen Kleinmeister nach, die dort in Masse vertreten sind, und er war ein Deutscher und er hat in Dresden gemalt, an der Porzellanfabrik von Meißen sogar in staatlicher Anstellung. Und wie ist es möglich, daß von diesem Maler, der 61 Jahre alt wurde, nur knapp sieben Bilder bekannt sind? Und seine Art war doch so, daß sie niemand vor den Kopf stoßen konnte, höchste Vollendung und ein stilles, bescheidenes Wesen.“
Die Zahl der bekannten Bilder hat sich auf mehr als 40 erhöht, der Vergleich mit Friedrich ist geblieben und wird sich wohl nicht mehr ändern lassen, auch wenn mit einem Mythos endlich Schluss sein sollte. Zwar stand 1811 im „Journal des Luxus und der Moden“, Kersting habe für Friedrich die Rückenfiguren im „Morgen im Riesengebirge“ gemalt, „doch warum sollte sich Friedrich so simple Figuren malen lassen, wenn er doch zuvor vergleichbare in seinen Skizzenbüchern festgehalten hatte“, fragt Kersting-Experte Werner Schnell. Schnell sieht durch diese völlig unbewiesene Behauptung Kersting zum Gehilfen herabgestuft und nicht als autonomen Künstler mit einem eigenen Werk gewürdigt.
Zwar gibt es bei Kersting das Geheimnisvoll-Lebendige, Prächtig-Inszenierte eines Vermeer, dem großen Vorbild aller Interieurmaler, nicht, das Befreit-Lichtdurchflutete des „Balkonzimmers“ von Adolph von Menzel fehlt seinen Bildern auch. Doch langsam taucht er aus der Biedermeier-Ecke, deren Kunst für das Betulich-Weltflüchtlerische steht und deren wirkliche Bedeutung als Stilepoche der Einfachheit, Reduktion und Funktionalität erst seit der großen Biedermeier-Ausstellung 2007 in Milwaukee, Wien und Berlin erkannt wird, wieder auf. Und erscheint als äußerst eigenständiger Künstler seiner Zeit und Vorläufer der Impressionisten, die ihn wegen der zentralen Bedeutung des Lichts in seinen Bildern sehr schätzten. Ebenso wie Alfred Lichtwark, der Direktor der Hamburger Kunsthalle, der 1910 ganz unglücklich feststellen musste, dass er „von Kersting, der mir einer der liebsten Meister des ganzen neunzehnten Jahrhunderts ist“, bisher nichts habe kaufen können. Später gelang es Hamburg immerhin, „Caspar David Friedrich in seinem Atelier“ von 1811 zu bekommen.
Da sich die Bedeutung eines Künstlers nicht nach der Masse seiner Bilder in der Heimat, sondern in den großen Museen der Welt bemisst, bleibt für die Heimat oft nicht viel. Auch Kerstings bekannteste Bilder sind heute in den Museen von Weimar und Berlin und Kiel. Den besten Überblick über das Leben und Schaffen des Künstlers bekommt man trotzdem in Güstrow, das vor allem durch die Gemälde-Ankäufe der vergangenen Jahre (mit Hilfe verschiedener Stiftungen, unter ihnen die Kulturstiftung der Länder) seinen Bestand eindrucksvoll erweitern konnte. Heute besitzt Güstrow nicht nur Gemälde, Zeichnungen und Porzellan nach Kerstings Entwürfen, sondern mit „Parklandschaft mit Quelle“ auch ein Landschafts-Frühwerk und mit „Frau am Spinnrad und Trommelbube mit Säbel“ ein Genrebild. Beide sind selten im Werk Kerstings, ebenso wie das Gemälde „Apoll mit den Stunden“, das Kersting einst seiner Freimaurerloge in der Heimat schenkte und das jetzt als Dauerleihgabe in Güstrow hängt. Jeder neue Kauf ist ein Glücksfall, denn Kersting-Gemälde kommen überaus selten auf den Markt, hütet doch seine Familie mit Stolz und in bewundernswerter Anhänglichkeit den Nachlass. Nur Iris Brüdgam, Kuratorin am Güstrower Stadtmuseum, bekommt für das Museum manchmal etwas geschenkt – etwa die Pergament-Originalpause der „Kinder am Fenster“.
Das Los kleiner Städte ist es oft, nur Geburtsort, nicht Wirkungsort großer Männer und Frauen zu sein. Auch Güstrow teilt dieses Los, obwohl es mit Ernst Barlach einen prominenten Zuzügler hatte, der den Ruhm mitbrachte und nach seinem Tod etwas daließ. Für Georg Friedrich Kersting und Otto Vermehren gab es keine Chancen in Güstrow. Vermehren, fast hundert Jahre nach Kersting geboren, ging nach Florenz und wurde Direktor der Restaurierungswerkstätten. Auch den Schriftsteller Uwe Johnson hielt es nicht in Güstrow. Nach dem Tod aber kamen sie alle wieder zurück. Zumindest ins Gedächtnis und als Namensgeber. Heute gibt es nicht nur eine Johnson-Bibliothek, sondern auch eine Kersting-Grundschule und eine Kerstingstraße. Und würde Güstrow nicht schon Barlach-Stadt heißen, wäre ihr ebenso stolzer, ebenso angemessener Namenszusatz – dessen ist sich Iris Brüdgam sicher – Kersting-Stadt