Junge Göttin aus Holz

Fast nackt, spärlich umhüllt von einem fallenden, hauchdünnen Kleid – eine junge Göttin, erinnernd an antike Vorbilder: In Holz schnitzte um 1902 der französische Bildhauer Aristide Maillol dieses junge, stehende Mädchen, seine Skulptur „Jeune fille debout“. Ihr Blick scheint sich im Leeren zu verlieren, nichts verrät, was sie denkt und fühlt, trotzdem übt die Figur in ihrer körperlichen Hochspannung eine faszinierende Präsenz aus: nicht in der großen Geste des Ausdrucks, sondern mit ihrer nach innen gerichteten Konzentration. Als die Skulptur in einer Pariser Ga­lerie kurz nach ihrer Entstehung am Sammlerpaar Gertrud und Karl Ernst Osthaus vorbeigetragen wurde, war das Ehepaar elektrisiert und entschied sich rasch zum Kauf. Maillols Holzskulptur „Jeune fille debout“ markierte den Anfang der großen Sammelleidenschaft des Paares Osthaus für Maillol. Sie wurden zu wichti­gen För­derern des jungen Künstlers, der heute – neben Auguste Rodin – zu den einfluss­reichsten französischen Bildhauern des 20. Jahrhunderts gezählt wird.

1902 eröffnete Karl Ernst Osthaus das Museum Folkwang in Hagen, 1921 wurde die Sammlung nach Karl Ernst Osthaus’ Tod nach Essen ver­kauft. Ab Mitte der 1920er Jahre war die Holzskul­ptur „Jeune fille debout“ schon einmal für rund zehn Jahre ein Höhepunkt in der Ausstellung des Folkwang-Mu­seums gewesen, damals jedoch als Leihgabe von Gertrud Osthaus. Jetzt kehrt die seltene und kostbare Figur glücklich ins Museum Folkwang zurück – unterstützt wurde dieser An­kauf aus dem Kreis der Familie von der Kulturstif­tung der Länder, dem Land Nord­rhein-Westfalen, der Kunststiftung NRW, der Ernst von Siemens Kunststiftung, dem Folkwang-Museumsverein e. V., der Waldthausen-Platzhoff-Museumsstiftung und einer privaten Förderin. Im Museum Folkwang können die Besucher nun Maillols 72 cm hohe „Jeune fille debout“ in direkter Nachbarschaft zu Werken berühmter Zeit­genossen wie August Rodin, Wilhelm Lehmbruck und Alexander Archipenko bewundern.

Aristide Maillol (1861–1944) hatte sich im Umfeld der Künstlergruppe Nabis zu­nächst der Teppichweberei und Malerei gewidmet, bevor er sich 1895 der Bild­hauerei zuwendete. Zunächst entstanden überwiegend Holzskulpturen, von denen heute nur noch vier – unter ihnen die „Jeune fille debout“ – erhalten sind. Ab 1905 gestaltete Maillol – auch aufgrund einer gestiegenen Nachfrage nach seinen Werken – vorwiegend großplastische Arbeiten, insofern markieren die seltenen Holzskulp­turen den zentralen Wendepunkt in seinem künstlerischen Schaffen: In diesen entwickelte Maillol seinen künstlerischen Stil, mit ihnen reüssierte er erstmals auch bei bedeutenden Sammlern wie Harry Graf Kessler und Karl Ernst Osthaus.