Das gezeichnete Ich 

Das Berliner Kupferstichkabinett konnte im Sommer 2014 mit der großzügigen Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung die ausschließlich dem Werk des bedeutenden Zeichners und Graphikers Gerhard Altenbourg (1926–1989) gewidmete Privatsammlung von Solgärd und Rolf Walter aus Stockholm erwerben. Mit ihrem Schwerpunkt auf dem eigenwilligen Frühwerk des Künstlers stellt diese Neuerwerbung eine wunderbare und zugleich fundamentale Bereicherung des bisherigen – zwar erlesenen, aber recht überschaubaren – eigenen Museumsbestandes dar, in dem das spätere Schaffen dominiert. Durch den Zugewinn von 30 Aquarellen bzw. Zeichnungen, mehr als 70 Einzelgraphiken (Holzschnitte, Lithographien, Kaltnadelradierungen), vier Künstlerbüchern bzw. Mappenwerken sowie zahlreichen Vorzugsausgaben von Katalogen und Büchern mit Einzeichnungen oder originalgraphischen Beilagen in der Sammlung Walter ist das Berliner Kupferstichkabinett nunmehr in der Lage, in einer repräsentativen, die gesamte Schaffenszeit umfassenden Werkschau (1948 bis 1988) die erstaunliche Kontinuität und Qualität dieses außergewöhnlichen bildnerischen Poeten vor Augen zu führen. Altenbourg, der eigentlich Gerhard Ströch hieß und um 1955 den Künstlernamen – in Anlehnung an seinen thüringischen Wohnort Altenburg – annahm, kam durch einen Autounfall am Jahresende 1989, wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, ums Leben.

Mutter - Sohn, 1956, 35 × 19,6 cm; Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin
Mutter - Sohn, 1956, 35 × 19,6 cm; Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

Kein deutscher Nachkriegskünstler war vom Schicksal der deutschen Teilung so betroffen wie gerade er. Berlin, die geteilte Stadt mit ihren zweigeteilten Kunstinstitutionen war von Anbeginn ein Fixpunkt seiner künstlerischen Karriere, fördernd einerseits, was den Bezug zum westlichen Teil der Stadt betrifft, hemmend andererseits durch das Walten der Funktionäre in Ostberlin. So unterstreicht auch diese biographische Konstellation über die künstlerisch herausragende Bedeutung hinaus die Wichtigkeit, einen solchen, nahezu ausschließlich auf Papier arbeitenden Künstler aussagestark in der Sammlung des Berliner Kupferstichkabinetts vertreten zu sehen. In Ausstellungen der Westberliner Galerie Springer wurde das Werk des Künstlers bereits seit 1952 privaten Sammlern bekannt, die ihn auch in den Jahren nach dem Bau der Berliner Mauer über die innerdeutsche Grenze hinweg unterstützten. Zu ihnen gehörte seit 1966 auch Rolf Walter. Nach Rudolf Springer setzte sich die Galerie Brusberg – zunächst von Hannover, dann seit Anfang der 1980er Jahre von Berlin aus – für Altenbourg ein, der auch von der Westberliner Akademie der Künste gefördert und geehrt wurde: 1961 mit einem Gastatelier, 1968 mit dem ersten Will-Grohmann-Preis, 1970 mit der Wahl zu ihrem Mitglied und folgenden Ausstellungsbeteiligungen. Dagegen gingen von Ostberlin als Hauptstadt der DDR viele Jahre kulturpolitische Restriktionen gegen den nonkonformistischen Künstler aus.

Altenbourgs künstlerische Karriere begann in Weimar, wo sich der Anfang Zwanzigjährige im Herbst 1948 an der Hochschule für Bildende Künste einschrieb. Die 1946 als erste Kunstakademie nach dem Krieg in der sowjetisch besetzten Zone wiedereröffnete Hochschule wollte zunächst programmatisch an die zwölf Jahre verfemte Moderne, speziell an die dortigen Wurzeln des Bauhauses, anknüpfen, doch wurde bereits 1948 ein Kurswechsel in Richtung Realismus nach sowjetischem Vorbild erzwungen. Altenbourg, der den Vorbildern der klassischen und zeitgenössischen Moderne (etwa Jean Dubuffet) folgte, kommentierte dies mit Arbeiten wie der zeichnerischen Persiflage „Stalins Geburtstag“, einem Vexierbild mit deutlichen Hinweisen auf das Tierreich und damit auf Gewalt und Bedrohung.

Als er wegen „fachlichen und gesellschaftlichen Außenseitertums“ im Frühjahr 1950 exmatrikuliert wurde, konnte er allerdings als künstlerischen Ertrag seiner kurzen Studienzeit einen abseits vom Lehrbetrieb geschaffenen Komplex von knapp 50 außergewöhnlichen Lithographien verbuchen, die zu den Höhepunkten der deutschen Nachkriegsgraphik zu zählen sind. Es sind vieldeutige, jeweils nur in wenigen Exemplaren gedruckte Meisterblätter, die weit gespannte, mythenhaltige Phantasien in oftmals paradoxen Formkombinationen darstellen, erotische Symbole verwenden, insektenartige Gebilde mit menschlichen Assoziationen verbinden, allgemein ambivalente Figurationen, Janushaftes, zeigen und damit die phantastische farbige Bildwelt des späteren Œuvres in Schwarz-Weiß vorwegnehmen. Obsessiv haben die Walters mehr als 30 dieser seltenen Blätter zusammengetragen. Altenbourg erklärte später die besonderen psychischen Bedingungen, unter denen diese eigenartigen Gebilde entstanden, mit Hinweis auf die Psychoanalyse als „ein Bewusstwerden des Tragisch-Grotesken, dass die Bemühungen des Menschen ins Leere laufen, ein Gefühl des Abstands, der Mitleidlosigkeit, des Vergnügens am Erfolglosen der Tätigkeit, eine Freude am Brutalen, die aus tiefer innerer Verletztheit aufsteigt“.

Wenige Jahre zuvor hatte er als 17-jähriger Wehrmachtssoldat die Schrecken des Krieges erfahren, als er – Sohn eines freikirchlichen Predigers, im Geiste der christlichen Ethik erzogen – sich gezwungen sah, im Nahkampf einen russischen Soldaten zu töten. Dieses Trauma prägte sein weiteres Leben und seine Kunst. Geradezu eruptiv äußerte es sich in einem aggressiven, parallel zu den frühen Lithographien geschaffenen Zeichenwerk mit monströsen Zwitterdarstellungen von Mensch und Tier (im Sinne von Gottfried Benns Ekel: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“), schreienden Köpfen mit Narrenkappen sowie drei monumentalen Ecce homo-Darstellungen, metaphorischen Selbstbildnissen mit Wunden und Narben, von denen sich die größte, nahezu drei Meter hohe Fassung bereits seit einigen Jahren als Leihgabe im Kupferstichkabinett befindet.

Die frühen psychischen Verletzungen fanden eine Fortsetzung durch eine rigide Kulturpolitik in Ostdeutschland, wo der Künstler bis zum Beginn der 1980er Jahre nicht ausstellen durfte. Seine Kontakte zu seinem Kunsthändler und zahlreichen Sammlern im Westen wurden beargwöhnt, 1964 wurde ihm gar wegen angeblicher Zollvergehen ein Prozess gemacht. Altenbourg reagierte auf die Verletzungen von außen mit dem Rückzug nach innen: „Das, was geschieht, geschieht in dir (und nur in dir), oder es wird nicht sein“, so der Künstler. So wehrte er denn auch ab, als Freunde im Westen sich für seine Ausreise aus der DDR einsetzen wollten. „Versunken im Ich-Gestein“ ist der Titel eines tiefernsten metaphorischen Selbstbildnisses (1971); die unserem Ausstellungstitel beigefügte ­Sentenz „das gezeichnete Ich“, einem melancholischen Gedicht des verehrten Gottfried Benn entlehnt, hat Altenbourg in der ambivalenten Deutung – das vom Leben „gezeichnete Ich“ zu zeichnen – wiederholt auf sein eigenes Schaffen bezogen. Der erzwungenen räumlichen Isolierung setzte der Bücher-Besessene seine Beschäftigung mit der geistigen Welt über alle Grenzen und Zeiten hinweg entgegen und war überzeugt, dass „man in der Einsamkeit besser zu sich finden, auf die eigene Stimme hören [kann]“.

Der Sarkasmus und die Aggressivität in den Gestaltungen der Nachkriegszeit wandelten sich mit der Zeit in eine größere Gelassenheit in der Menschenbetrachtung und -darstellung. Die Natur wurde in Verbindung mit fernöstlicher Weisheit ein dominanter Bezugspunkt, was zu einem Verwobensein des Menschen mit dem Reich der Pflanzen, der Bäume und auch mit Stein und Hügel führte. Mit erlesenen Tuschen und Farben sowie unzähligen Tüpfelchen mit feinen Marderhaarpinseln hat der Künstler eine oft ikonenhafte Kostbarkeit, ein Leuchten der Farbe und ein feines Geflecht der Linien erzielt, wodurch eine immer subtiler und vielschichtiger werdende Bilderwelt entstand. Auch in den druckgraphischen Werken – aufwändig kombinierten Farbholzschnitten, silbrig schimmernden Lithographien, zarten Radierungen voll köstlicher Erotik – ist höchste Meisterschaft und Brillanz erreicht.

Die Bewunderung für das so besondere Œuvre von Gerhard Altenbourg mit seiner existenziellen Tiefe, erfinderischen Vielfalt und staunenswerten Schönheit schließt auch das Bewusstsein der Wahrhaftigkeit ihres Schöpfers ein, der unbeirrbaren Treue zu seinen ureigenen Überzeugungen selbst in widriger Zeit.