Die Kunst bleibt – aber wo? Künstlernachlässe als Herausforderung

Der alte, auf die Kunstproduktion jenseits ästhetischer Streicheleinheiten gemünzte Spruch „Ist das Kunst oder kann das weg?“ trifft en passant einen wunden Punkt materieller Überlieferung. Jeder Künstler, der nicht zu den Glücklichen gehört (statistisch gesehen dürfte das im Promillebereich liegen), denen langanhaltende Kunstmarkterfolge vergönnt sind, wird sich die Frage irgendwann stellen: Wie überlebt mein Werk mich selbst? Wer soll all die künstlerischen Arbeiten und Dokumente aus meinem Besitz künftig aufbewahren, mehr noch: so bewahren, dass nachfolgende Generationen meine Botschaft empfangen können?

Seit gut einem Jahrzehnt wird unter Künstlern und Kunstvermittlern in Deutschland über das Thema Nachlassgestaltung diskutiert, mit zunehmender Dringlichkeit, wie zahlreiche Symposien und immer mehr lokal oder regional verankerte Initiativen zur Nachlasspflege zeigen. Viele Künstler erleben es schmerzlich, dass das von ihnen geschaffene Œuvre nur zum kleinen Teil über den Kunstmarkt abzusetzen ist. Auf den Van-Gogh-Effekt, dass ein Künstler nach seinem Tod entdeckt wird, sollte niemand hoffen. Künstler sollten tragfähige Lösungen für ihren Nachlass schon zu Lebzeiten anstreben, die Möglichkeit eines Vorlasses ist stets mitzudenken.

Die Annahme, dass immer mehr Künstler (zu) viel Kunst produzieren, ist selbst unter Akteuren des „Betriebssystems Kunst“ verbreitet, auch wenn belastbare Zahlen fehlen und obwohl künstlerische Überproduktion kein neues Phänomen ist. Die große Zahl niederländischer Maler im 17. Jahrhundert ist legendär, ihre qualitative Bandbreite dürfte jedoch weitaus größer gewesen sein als es die materielle Überlieferung nahelegt. Auch das 19. Jahrhundert trug mit seinen professionalisierten akademischen Ausbildungsstätten zu einer gesteigerten Kunstproduktion bei, von der trotz Kriegen und anderen Katastrophen  noch immer mehr vorhanden ist als der Kunstmarkt aufnehmen kann.

Unabhängig davon, ob heute mehr und umfangreichere Künstlernachlässe überliefert werden als früher, hat sich die Kultur des Vererbens selbst gewandelt. Nachkommen, so vorhanden, leben weit entfernt und drängen im Erbfall oft auf eine möglichst schnelle und vollständige Auflösung des Haushalts. Da geraten sperrige Dinge zum Problemfall. Eine intellektuelle und emotionale Herausforderung sind Künstlernachlässe sowieso. Doch der Wunsch, mit dem Andenken des Künstlers auch dessen materielle Hinterlassenschaft und damit kulturelle Werte zu bewahren, darf noch immer vorausgesetzt werden. Wer käme schon auf die Idee, Kunst wegzuwerfen?

Genau das will Uwe Degreif nicht ausschließen. In einem Beitrag im aktuellen Themenheft der Zeitschrift „art value. Positionen zum Wert der Kunst“ (Heft 14 „Künstlernachlässe“) klassifiziert der am Museum Biberach tätige Kunsthistoriker Künstlernachlässe in vier Materialgruppen. Degreifs Systematik unterscheidet sehr gute Werke, von denen sich der Künstler zeitlebens nicht trennen wollte – die künstlerische Quintessenz seines Œuvres (Gruppe A, 1–10 % des Nachlasses); gute Werke, meist aus der Hauptschaffenszeit (Gruppe B, 20 – 30 %); weniger gelungene und unvollendete Arbeiten (Gruppe C) sowie Dokumente, Fotos, Briefe, also all das, was Archivare als schriftlichen oder dokumentarischen Nachlass bezeichnen (Gruppe D). Im öffentlichen Auftrag in Museen zu sammeln, zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln seien lediglich Bestände der Gruppen A und D. Alles andere müsse verkauft, verschenkt oder – ultima ratio – entsorgt werden. „Von mindestens 90 Prozent, manchmal 95 Prozent muss man sich trennen, anzustreben ist der Erhalt von circa 5, höchstens 10 Prozent. Bei einem durchschnittlichen Œuvre von 2.000 bis 3.000 Werken sind das immer noch 100 bis 200 Werke, die es in [öffentlichen] Sammlungen unterzubringen gilt. Keine leichte Aufgabe.“

Derartige Thesen, die Degreif bereits während eines Symposiums des Künstlerbunds Baden-Württemberg („Was bleibt. Konzepte zum Umgang mit Künstler-Nachlässen“, Karlsruhe 25.10.2014) vorgestellt hat, finden nicht nur Zustimmung. Aus Museumssicht jedoch formuliert er keine Extremposition. Die Direktorin der Karlsruher Kunsthalle Pia Müller-Tamm forderte auf derselben Tagung: „Kunstsammlungen sollten eher in die Tiefe als in die Breite wachsen. Das Museum sollte nicht passiv entgegennehmen, was auf es zukommt.“ Thomas Köhler, Direktor der Berlinischen Galerie, plädiert im „art value“-Interview nicht nur für eine rigorose Auswahl, sondern für deren strategische Verteilung: „Wir empfehlen, dass sich jeder Künstler rechtzeitig die Frage stelle, welche, sagen wir 20 Werke im Schaffen seines Lebens zu den wichtigsten zählen und mit welchen Museen sie in inhaltlicher oder formaler Verbindung stehen.“

Museale Speicherkapazitäten sind kompletten Künstlernachlässen nicht gewachsen, Museumsmitarbeiter hingegen, so Pia Müller-Tamm, tragen als „Sachwalter des materiellen kulturellen Erbes unserer Gesellschaft […] Verantwortung für die künstlerische Hinterlassenschaft“. Das kann die Beratung orientierungssuchender Erben einschließen, damit das Schlimmste verhindert wird. Zudem haben Museen immer wieder Nach- oder Vorlässe aufgenommen und tun dies weiterhin. Museale Begierden lösen künstlerische Nachlässe aus, sofern eine qualitativ begründete Auswahl möglich ist, die das Sammlungsprofil des Hauses schärft und nicht die Depots verstopft.

Dem 1964 eröffneten Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg etwa gelang es 2009 mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und weiterer Förderer, den umfangreichen Nachlass des 1881 nahe Duisburg geborenen Bildhauers von der Erbengemeinschaft zu erwerben. Neben 33 Skulpturen sowie dem beinahe gesamten malerischen, zeichnerischen und druckgraphischen Œuvre übergaben Lehmbrucks Erben das von der Witwe geführte „Gusstagebuch“, das alle legalen posthumen Güsse aufführt. Nachlasshalter, egal ob privat oder öffentlich, sollten bei posthumen Güssen für größtmögliche Transparenz sorgen, die in der Vergangenheit – man denke an die Diskussionen über das Werk von Hans Arp oder Ernst Barlach – nicht immer gegeben war.

Das Lindenau-Museum Altenburg betreut seit 2013 im Auftrag der Stiftung Gerhard Altenbourg das Haus des Künstlers. Es ist ein über Jahrzehnte gewachsenes Gesamtkunstwerk, dessen beweglicher Inhalt – darunter 6.300 Papierarbeiten, 100 Druckstöcke, 7.000 Bücher, Briefe, Fotos, Familiendokumente – derzeit im Rahmen einer auf drei Jahre angelegten Inventarisation bearbeitet wird, ehe das Haus öffentlich zugänglich werden soll. Die künftige Finanzierung als Künstlergedenkstätte ist noch nicht gesichert. Direktorin Julia M. Nauhaus resümiert: „Gerhard Altenbourg ist für das Lindenau-Museum eines seiner Alleinstellungsmerkmale. Daher betrachte ich den Zugewinn dieser ‚Außenstelle‘ als außerordentlichen Schatz, um das Museum als Zentrum der Altenbourg-Forschung […] zu etablieren.“

Gerhard Altenbourg in seiner Wohnung am Braugartenweg in Altenburg, Sommer 1989
Gerhard Altenbourg in seiner Wohnung am Braugartenweg in Altenburg, Sommer 1989

Dokumente, Briefe, Tagebücher, Geschäftsunterlagen, kurz: Der dokumentarische oder Schriftnachlass sollte jedoch im Regelfall von einem Archiv betreut werden. Kunstmuseen sind damit methodisch und logistisch überfordert. Andererseits wird die saubere Trennung zwischen künstlerischem und dokumentarischem Nachlass – und damit der geeignete Aufbewahrungsort – bei Gegenwartskünstlern immer fragwürdiger: Ist ein Video, das eine ephemere oder performative Arbeit für die Nachwelt überliefert, integraler Bestandteil des Werks oder nur ein Vehikel zur Dokumentation, das ohnehin schleunigst auf andere Datenträger überspielt gehört?

Nur wenige Großinstitutionen wie die 2004 in die Trägerschaft des Bundes übernommene Akademie der Künste in Berlin vereinen Archiv und Kunstsammlung unter einem Dach. In den 1950er Jahren begannen die Nachfolgeinstitutionen der Preußischen Akademie der Künste unabhängig voneinander in Ost- und West-Berlin mit dem Sammeln von Schriftnachlässen ihrer Mitglieder. 1993/94 wiedervereinigt, sieht sich die Einrichtung „als bedeutendstes interdisziplinäres Archiv zu Kunst und Kultur seit 1900 im deutschen Sprachraum“. Interdisziplinär, weil bildende, darstellende, performative und angewandte Künste gleichberechtigt gesammelt werden. Allein die Archivabteilung Bildende Kunst betreut derzeit rund 100 dokumentarische Vor- und Nachlässe: von Lovis Corinth und Charlotte Berend-Corinth bis zum unlängst seinen 85. Geburtstag feiernden Bildhauer Wieland Förster.

„Die Erben denken häufig, sie müssten alles zusammenlassen“, sagt Birgit Jooss, die als Leiterin des Deutschen Kunstarchivs im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg für knapp 1.400 Bestandseinheiten – über 2,8 Regalkilometer Archivgut – verantwortlich ist. Jooss, die Anfang April die Leitung des Archivs der Berliner Akademie der Künste übernimmt, hat Kunstgeschichte und Archivwissenschaft studiert. Sie verweist darauf, dass Kunsthistoriker in ihrer Ausbildung nicht gelernt haben, Schriftnachlässe zu sichten, zu verzeichnen und fachgerecht zu erschließen, zudem würde es Museen an Leseplätzen für externe Benutzer mangeln. In der Praxis habe sich die Konzentration des Deutschen Kunstarchivs auf Schriftnachlässe von Künstlern, Kunsthistorikern und Kunsthändlern bewährt. Man versteht sich nicht nur als Anlaufstelle für Wissenschaftler aus aller Welt, sondern konzipiert eigene Publikationen und Ausstellungen mit Archivalien aus dem eigenen Bestand und geliehenen Kunstwerken. Mit Museen wie dem Franz Marc Museum in Kochel am See oder dem Gerhard-Marcks-Haus in Bremen bestehen längerfristige Kooperationen.

Auch Thomas Deecke, früher Direktor des Museums Weserburg in Bremen, empfiehlt das Deutsche Kunstarchiv als geeigneten Ort für umfangreichere Schriftnachlässe. Deecke berät Künstler und Erben, die einen Vor- oder Nachlass in das 2010 eröffnete Archiv für Künstlernachlässe der Stiftung Kunstfonds geben wollen. Alle Bewerber stellen sich einer Aufnahmekommission, der namhafte Künstler und Kunstvermittler angehören. In der ehemaligen Abtei Brauweiler bei Köln stehen moderne Depotflächen zur Verfügung. Weitere 2.000 Quadratmeter sollen in einem neu zu errichtenden Schaulager hinzukommen.

Brauweiler versteht sich als Modellprojekt mit bundesweiter Ausstrahlung. „Unser Archiv bewegt sich im Zwischenraum von Atelier und Museum“, erklärt Karin Lingl, Geschäftsführerin der Stiftung Kunstfonds. „Wir gehen von der Perspektive der Künstler aus und wollen deren künstlerische Intuitionen visualisieren können.“ Aufgenommen wird, was den Künstlern selbst am Herzen lag: signifikante Werke und Werkgruppen, die möglichst oft als Leihgaben in der Öffentlichkeit zirkulieren sollen. Auf keinen Fall, so Lingl, dürfe „ein Œuvre in der Versenkung verschwinden und sich die Tore der Gruft schließen“. Im Zweifelsfall können das auch die Depottüren eines Museums sein.

„Ein Künstler kann schnell in Vergessenheit geraten, wenn sein Nachlass schlecht gemanagt wird“, bestätigt Markus Eisenbeis, Geschäftsführer des Kölner Auktionshauses Van Ham, und präzisiert: „Ein Œuvre bleibt nur lebendig, wenn es am Markt präsent ist.“  Aus diesem Grund hat Eisenbeis Van Ham Art Estate gegründet, zum Portfolio gehören derzeit Nachlässe oder Teilnachlässe von Karl Hofer, Karl Fred Dahmen, der Becher-Schülerin Tata Ronkholz und der wissenschaftliche Nachlass des Bildhauers Ernst Seger. Eisenbeis kann von der fachgerechten Sichtung und Einlagerung über die wissenschaftliche Bearbeitung bis zur strategischen Platzierung am Markt ein attraktives Gesamtpaket anbieten, wirbt jedoch für Geduld: „Wir gehen in Vorleistung. Nachlassentwicklung macht viel Arbeit und kostet erst einmal Geld. Erben sollten 10 bis 20 Jahre Zeit mitbringen.“

Das kommerzielle Modell – seit jeher von Kunsthändlern und Galeristen gepflegt – funktioniert natürlich nur, wenn der Künstler einen Marktwert oder zumindest Potential hat. Gute Kunst muss nicht marktgängig sein. „Jenseits von Mainstream und von Moden entstehen immer wieder existenziell bedeutende Werke, die zeitweise gesehen und manchmal wieder vergessen werden“, erklärte der Künstler Bogomir Ecker bei der Eröffnung des Nachlassarchivs Brauweiler und formulierte damit das Credo für alle vergleichbaren Initiativen.

Das älteste Projekt dieser Art ist das Forum für Künstlernachlässe e.V. in Hamburg. 2003 gegründet, arbeitet es noch immer als Verein. 160 Quadratmeter Lagerfläche im Künstlerhaus Sootbörn müssen reichen für die künstlerischen und dokumentarischen Nachlässe von derzeit über 30 mit Hamburg verbundenen Künstlern. Die „Warteliste“ ist zehnmal länger. „Es sind Manpower und Fachkompetenz, die das Ganze zusammenhalten“, sagt die Kunstwissenschaftlerin und Vereinsvorsitzende Gora Jain über das 15- bis 20-köpfige „Kernexpertenteam“. Finanzielle Förderung hat man auch von mehreren Hamburger Unternehmen und Stiftungen eingeworben, doch ohne die Begeisterungsfähigkeit der Ehrenamtlichen hätte das Forum nie so erfolgreich sein können.

Ein Sonderfall ist das Rheinische Archiv für Künstlernachlässe in Bonn, da es ausschließlich Schriftnachlässe im Rheinland tätiger Künstler aufnimmt. „Ich glaube, dass die künstlerischen Arbeiten immer in irgendeiner Weise überleben“, erklärt der Kunsthistoriker Daniel Schütz den Ansatz der von einer Industriellenfamilie ins Leben gerufenen Stiftung bürgerlichen Rechts. Schütz’ Sammelleidenschaft entspringt leidvoller Erfahrung, war doch der Schriftnachlass des Künstlers, über den er seine Magisterarbeit schreiben wollte, kurz zuvor im Müll gelandet. Geschätzte 90 Prozent der ihm angebotenen Nachlässe muss Schütz ablehnen, auch wenn er die Infrastruktur des Bonner Stadtarchivs mitnutzen kann. „Der Beratungsbedarf bei den Erben nimmt immer mehr zu“, weiß Schütz, „wir bräuchten eine Art Nachlass-Feuerwehr.“

Beratung wird auch beim jüngsten der Regionalprojekte groß geschrieben. „[Private] Künstlernachlässe im Land Brandenburg“ nennt sich die Initiative, die sich Ende Januar in Potsdam als Verein konstituiert hat. Mit Hilfe zur Selbsthilfe ließe sich der Grundgedanke umschreiben, der sich hinter dem Begriff „mobiler Nachlass-Service“ verbirgt und Nachlasshalter dazu befähigen soll, ihre Schätze in situ zu erhalten und selbstständig mittels einer bereitgestellten Software zu inventarisieren. Vorrangiges Ziel ist hier keine Archivlösung, die aus Sicht der Brandenburger zwangsläufig an Kapazitätsgrenzen stößt, sondern der Aufbau einer regionalen, einfach zu handhabenden, technisch kompatiblen Nachlass-Datenbank. Wobei das Webformular, wie Liane Burkhardt als Mitinitiatorin des Projekts betont, natürlich auch für Vorlässe geeignet sei. Der Ausspruch, man müsse sehr sorgsam sein bei der Auswahl seiner zukünftigen Witwe, wird sowohl dem Fotografen Heinz Hajek-Halke wie der Brecht-Witwe Helene Weigel zugeschrieben. Liebe Künstler, vielleicht nehmen Sie Ihren Nachlass am besten selbst in die Hand!