Brutal Modern

Hinter ihnen stecken die berühmtesten Architekten, renommierte Planungs­büros, hochmoderne Gestaltungskonzepte und innovative Entwürfe: Doch vor dem gnadenlos kritischen Blick der Öffentlichkeit sind selbst die spektakulärsten Bauvorhaben nicht sicher. Ehe die Meisterwerke überhaupt auf dem hohen Thron der Baukunst Platz nehmen können, werden sie schon mit profanen Spitznamen versehen. Weisheitszahn, Ei, Bügeleisen, Blechbüchse, Lippenstift, Käsehobel, Schwangere Auster oder Affenfelsen: Die Beispiele reichen um den ganzen Globus. Teils liebevoll, teils abschätzig, bringen sie das oft emotional aufgeladene Verhältnis von Bewohnern mit den Bauten ihrer Stadt zum Ausdruck. Polarisiert eben nichts so sehr wie die Frage des Geschmacks, ist sie außerdem ständig dem Wandel der Zeit unterworfen. So galt beispielsweise der historistische Fassadenschmuck der Gründerzeit ab der Jahrhundertwende als zu verspielt, überholt und unmodern. In Folge dessen wurden bis in die 1960er-Jahre Stuck und Giebel an zahlreichen Gebäuden abgeschlagen – um sie heute, Jahrzehnte später, teilweise wieder mühsam zu rekonstruieren. Die schwierigen Fragen nach Erhaltung, Umnutzung, Rekonstruktion oder Abriss, nach Wertschätzung und Denkmalwert sind immer wieder neu zu stellen und verlieren nicht an Aktualität.

Studentenwohnheim Rebenring, sog. Affenfelsen; © Foto: Andreas Bormann
Studentenwohnheim Rebenring, sog. Affenfelsen; © Foto: Andreas Bormann

Das Braunschweigische Landesmuseum möchte diesem komplexen Thema auf den Grund gehen und rückt die Architektur der Nachkriegs-Moderne aus der Region Braunschweig-Wolfsburg-Salzgitter in den Mittelpunkt einer Sonderausstellung. Mit den erst im 20. Jahrhundert gegründeten Industriestädten Wolfsburg und Salzgitter gehört sie zu den Regionen der Bundesrepublik, die in den 1960er- und 1970er-Jahren eine besonders hohe Dichte an qualität­voller Architektur hervorbrachten. Namhafte Baumeister wie Alvar Aalto, Hans Scharoun oder Gottfried Böhm verwirklichten hier ihre Utopien vom modernen Leben. Auch prominente Lehrer der „Braunschweiger Schule“ der TU Braunschweig – eine der einflussreichsten Architekturausbildungsstätten der späten Moderne – waren in dieser Region tätig. Doch während die brutalistische Architektur damals als neu und innovativ galt, wird sie heute in der öffentlichen Wahrnehmung meist als Ursprung nüchterner, sachlicher oder gar seelenloser Betonklötze beschrieben.

Abrisswürdige Bausünde oder identitätsstiftendes Zeugnis deutscher Kulturgeschichte? Vor dem Hintergrund dieser Frage stellt die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Ausstellung die Bauten der 1960er- und 1970er-Jahre als historische Dokumente vor, die aus ihrer Zeit heraus zu erklären und zu inter­pretieren sind. 19 Gebäude zwischen Wolfsburg, Salzgitter und Braunschweig nimmt die Schau unter die Lupe, darunter die 1965 eröffnete und seit 2017 unter Denkmalschutz gestellte Stadthalle Braunschweig, die 1967 als Stahlbetonkonstruktion von Ulrich Hausmann entworfene St. Thomas Kirche Helmstedt und das auf ein Parkhaus gesetzte, 14-geschossige Studentenwohnheim Rebenring von 1976. Jedes Bauwerk präsentiert sich anhand von Installationen mit historischen Exponaten, die sich auf die Entwurfs- und Baugeschichte beziehen oder aus den Bauten selbst stammen. Aufgezeichnete Interviews mit Zeitzeugen werfen einen Blick auf die zeitgenössische Rezeption, die von Prozessen der Modernisierung und Demokratisierung geprägt war. Im Kontext der politischen, historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge zeichnet die Ausstellung ein differenziertes Bild von der Architektur der Nachkriegs-Moderne und ermöglicht darüber hinaus einen Zugang zum gesellschaftlichen Diskurs rund um Denkmalschutz, Denkmalwert und Denkmalpflege.