Bilderpredigt in Cinemascope

Er gilt als das bilderreichste Retabel der deutschen Tafelmalerei und ist im Sammlungsbestand von Schloss Friedenstein ein Prachtstück – der Gothaer Tafelaltar aus dem 16. Jahrhundert. Der Wandelaltar mit 160 Einzeltafeln entstand um 1540 zwar in Süddeutschland, gelangte aber rund einhundert Jahre später in die Thüringer Residenz. Sie gab dem einzig­artigen Kunstwerk seinen Namen. Seit der Modernisierung des Herzoglichen Museums in Gotha stand der Altar bis zur aktuellen Restaurierung in prominenter Umgebung von altdeutscher Kunst. Restauratoren verhelfen den detailreichen Tafelbildern mit ihrer inten­siven Farbigkeit zu einer neuen Strahlkraft, und derart aufgefrischt reisen sie demnächst für einige Monate in die USA: Von Oktober 2016 bis Januar 2017 gehört der Gothaer Tafelaltar zu den hochkarätigen Leihgaben deutscher Museen und Einrichtungen, die in Minneapolis unter dem Motto des vermeintlichen Luther-Wortes „Here I stand…“ das 500-jährige Reforma­tionsjubiläum feiern. Ohne vorherige Restaurierung wäre dem Altar der Transport nicht zuzumuten gewesen: Im Rahmen des Bündnisses „Kunst auf Lager“ half die Kulturstiftung der Länder bei der Wiederbelebung des Gothaer Tafelaltars, auch damit seine Bilderwelt im Mittleren Westen der USA, den deutsche Auswanderer und lutherische Wurzeln prägen, ein sonst kaum erreichbares Publikum findet.

Werkstatt des Heinrich Füllmaurer, Gothaer Tafelaltar, vollständig aufgeklappt und aufgeschoben (unrestaurierter Zustand), 1539/1541, Mittelteil 201 × 210 cm, Außenflügel ca. 98 × 105 cm, Innenflügel 96 × 48 cm; Stiftung Schloss Friedenstein Gotha © Stiftung Schloss Friedenstein Gotha / Foto: Lutz Ebhardt
Werkstatt des Heinrich Füllmaurer, Gothaer Tafelaltar, vollständig aufgeklappt und aufgeschoben (unrestaurierter Zustand), 1539/1541, Mittelteil 201 × 210 cm, Außenflügel ca. 98 × 105 cm, Innenflügel 96 × 48 cm; Stiftung Schloss Friedenstein Gotha © Stiftung Schloss Friedenstein Gotha / Foto: Lutz Ebhardt

Die dreiteilige Bekrönung des Gothaer Altars zeigt die Erschaffung Adams, den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies. Darunter erzählen die übrigen 157 Bildtafeln aus Tannenholz biblische Geschichten aus dem Neuen Testament – und dies immer vor dem Hintergrund der Umbrüche in Kirche und Gesellschaft des 16. Jahrhunderts. Zum einen ist der geöffnete Altar mit einer Spannweite von über vier Metern und mehr als zwei Metern Höhe ein facettenreiches Spiegelbild des Lebens Jesu. Es erscheint mitten hineingestellt in das bunte Volks­leben am Vorabend der Reformation. Bevorzugte Inhalte sind Heilungen und Gleichnisse, und allein 13 Tafeln beziehen sich auf die Bergpredigt. Auf jeder Bildtafel findet sich am oberen Bildrand eine Textkartusche mit dem jeweiligen Bibeltext, angehängte Medaillons enthalten die entsprechende Quellenangabe aus der Lutherbibel. Merkverse auf dem Rahmen fassen die Quintessenz der dargestellten Szene in kurze und bündige Texte – und dies bisweilen mit deutlich süddeutschem Akzent. Anklänge an Süddeutschland gibt es auch auf Ansichten von Landschaften und Ortsbildern im Hintergrund. Alle diese Darstellungen sind um das große Mittelbild zu Passion und Auferstehung angeordnet, die zentrale Botschaft des christlichen Glaubens.

Doch die einzelnen Tafelbilder sind mehr als nur bildhafte Erklärungen des Evangeliums für jedermann, wie sie in der Kirche seit alters her üblich waren. Spätestens auf den zweiten Blick wird der reformatorische Impetus dieser illustrierten Predigt deutlich: Heiligen­legenden fehlen ebenso wie der sonst übliche Heiligenschein, der Teufel ist mit einer Bischofsmütze unterwegs, und aus dem Gleichnis um den Splitter im Auge des anderen wird ein Kleriker, der den Balken im eigenen Auge übersieht. Mit seiner zum Teil heftigen antikatholischen Polemik erweist sich der Tafelaltar zugleich als ein aufschlussreiches kulturgeschichtliches Dokument. Während der oder die Künstler einst im Umfeld Albrecht Dürers vermutet wurden, beschreiben neuere Forschungen die Tafelbilder als Arbeiten aus der Werkstatt des süddeutschen Malers Heinrich Füllmaurer (um 1500 –1548). Er stammte aus ­Herrenberg im heutigen Landkreis Böblingen (Baden-Württemberg), war ab 1536 an der Ausmalung der herzoglichen Gemächer in Stuttgart beteiligt und hat zudem 1542 das „Neue Kräuterbuch“ des renommierten Tübinger Botanikers Leonhart Fuchs illustriert.

Als Auftraggeber für den Altar gilt der Württemberger Herzog Ulrich I., für den das Retabel durchaus auch ein politisches Bekenntnis zur Reformation gewesen sein könnten. Theologischer Berater für das Auftragswerk war der Herrenberger Pfarrer Caspar Gräter, der sich bei der Auswahl der Texte und Szenen auf Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testaments von 1522 stützte. Drei Jahre nach Einführung der Reformation in Württemberg hatte Gräter bereits 1537 dem Maler einen lutherischen Katechismus gewidmet. Füllmaurer nannte er dabei „seinen günstigen und lieben Freund“. Der Künstler fand Anregungen für einzelne Bildfindungen gleichermaßen bei Albrecht Dürer und Lucas Cranach dem Älteren, bei Sebald Beham oder Erhard Schoen. Zudem setzte Füllmaurer auf einer der Tafeln seiner württembergischen Heimat ein künstlerisches Denkmal: Der Hintergrund der Tafel „Jesus heilt Kranke in Galiläa“ ist die älteste Stadtansicht von Herrenberg.

In der dortigen Werkstatt Füllmaurers entstand mit dem etwas jüngeren Mömpelgarder Altar eine ähnliche Bilderpredigt, die später ins Kunsthistorische Museum Wien gelangte. Die Wege des Gothaer Altars aus Württemberg an seinen heutigen Standort sind noch immer nicht restlos geklärt. Im Inventar des ersten Schloss­neubaus nach dem Dreißigjährigen Krieg ist das Werk erstmals 1658 vermerkt. Allerdings fehlt ein Hinweis auf seine Herkunft. Die Bildtafeln könnten einst als fürstliches Heiratsgut in die Residenz gekommen sein. Als unwahrscheinlich gilt mittlerweile die Vermutung, der Altar sei über den Nachlass des Weimarer Prinzen Bernhard nach Gotha gekommen. Der Bruder des protestantischen Gothaer Herzogs Ernst des Frommen (1601–1675) hatte im Dreißigjährigen Krieg an der Seite des Schwedenkönigs Gustav Adolf und später in Süddeutschland gekämpft, wo er 1639 in Breisach starb. Bernhards Nachlass kam später in Herzog Ernsts neues Gothaer Schloss Friedenstein.

Unklar war lange auch die ursprüngliche Zweck­bestimmung des einzigartigen Bilderkonvoluts. War es tatsächlich ein Altar für die alte Stuttgarter Schloss­kirche? Oder waren die Tafelbilder in herrschaftlichen Wohnräumen eine opulente Zierde zur religiösen Erbauung? Die letztere Annahme begründeten Fachleute mit der kleinteiligen Anordnung der einzelnen Bilder. Ihr Format mit jeweils 40 × 27 Zentimetern sei für einen großen Kirchenraum schlicht zu klein. Das wird auch mit der Aufstellung im Gothaer Museum deutlich. Weil die vielen Details nur aus nächster Nähe zu erkennen sind, können dort die Besucher an einer Computerstation die Tafeln per Mausklick bewegen und zoomen.

Ein weiteres Indiz für frommen Raumschmuck sahen Fachleute in den Inventarverzeichnissen des Gothaer Schlosses, in denen die Tafelbilder über Jahrhunderte detailliert als Teile einer „Spanischen Wand“ oder als „Bettschirm“ aufgelistet sind. Ein solcher zusammengesetzter Schirm habe „74 auf beiden Seiten gemahlte Tafeln“ enthalten, „folglich 148 Vorstellungen aus dem Leben und Leiden Christi, mit dem dabey geschriebenen Evangelien Texte“, heißt es in einer Aufstellung von 1826. Dieses „merkwürdige Denkmal altdeutscher Kunst“ müsse „der Schule Albrecht Dürers zugeschrieben“ werden. Dessen ungeachtet wandte sich schon 1930 ein Rekonstruktionsvorschlag dezidiert gegen das „Märchen“ vom „Gothaer Bettschirm“ und plädierte stattdessen für eine Präsentation in der tradi­tionellen Form eines mittelalterlichen Wandelaltars. Mittlerweile nennen Fachleute die Rekonstruktion „überzeugend für die Entstehungszeit des Altars“.

Erstmals umgesetzt wurde diese Aufstellung 1957. Zuvor waren große Teile der Sammlungsbestände als sowjetische Beutekunst des Zweiten Weltkrieges nach Gotha zurückgekehrt. Füllmaurers Bildtafeln fanden ihren Platz in der neu eingerichteten Kirchgalerie von Schloss Friedenstein nunmehr als Gothaer Flügelaltar. Vor dem Hintergrund der damaligen staatlichen Kulturpolitik in der DDR ist dieses nachhaltige Plädoyer für sakrale Kunst der frühen Neuzeit zweifellos von besonderer Bedeutung. Mit dem Altar sind jedoch bis heute auch schmerzvolle Verluste verbunden: Bei der Rückführung aus der Sowjetunion kamen nur 160 der ursprünglich 162 Bildtafeln wieder nach Gotha. Auf den beiden Standflügeln, die noch immer im Moskauer Puschkin-Museum lagern, ist die Wurzel Jesse dargestellt, der symbolische Lebensbaum, der die Abstammung Jesu aus dem Hause von König David herleitet. Dieses seit dem Mittelalter weit verbreitete Motiv der christlichen Kunst komplettierte einst auch die Altar­bilder Füllmaurers.

Nach der Präsentation in den USA wird der Gothaer Tafelaltar Anfang 2017 an seinem Standort in Thüringen zurückerwartet. Dann widmet die Stiftung Schloss Friedenstein dem in seiner frühneuzeitlichen Pracht wieder auferstandenen Meisterwerk eine eigene Sonderausstellung.

Förderer dieser Restaurierung:
Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunststiftung, Rudolf-August Oetker-Stiftung