Ausstellungsförderung

Grenzgänger

Das Oberschlesische Landesmuseum erzählt vom Alltag im geteilten Oberschlesien zwischen 1922 und 1939 von David Skrabania

Als Fortsetzung der Ausstellung „Polen oder Deutschland? Oberschlesien am Scheideweg“, die im vergangenen Jahr zu sehen war, thematisiert das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen jetzt die Folgen der Volksabstimmung in Oberschlesien von 1921. Die neue Sonderausstellung „Grenzgänger. Alltag in einem geteilten Land“ greift die komplexe Thematik der Teilung dieser jahrhundertelang organisch gewachsenen und wirtschaftlich eng verflochtenen Region zwischen Deutschland und Polen auf und bringt den Besuchern näher, mit welchen Problemen die Bevölkerung beiderseits der Grenze im Alltag konfrontiert war, welche rechtlichen Regelungen das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben schützten, welches Konkurrenzdenken zwischen den beiden Landesteilen herrschte und wie in späteren Jahrzehnten an die Zeit der Teilung erinnert wurde. Die Ausstellung knüpft aber auch an das zeitgeschichtliche Geschehen und aktuelle gesellschaftspolitische Prozesse in Europa an: Ob die Separationstendenzen in Katalonien, im Baskenland, in Schottland, Flandern oder Süd-Tirol, oder die militärisch ausgefochtenen Konflikte auf dem Balkan, in der Berg-Karabach-Region, in Georgien, Nordirland oder Transnistrien – immer wieder sind es ethnisch-sprachlich-kulturelle Grenzräume, in denen Konflikte ausbrechen oder der „Schutz der eigenen Landsleute“ den Aggressoren als Vorwand für ihre Angriffskriege dient, wie zuletzt besonders dramatisch in der Ukraine, mit globalen Auswirkungen. Die Teilung Oberschlesiens wird somit als historisches Beispiel für Grenzlandkonflikte in Europa behandelt, anhand dessen die Komplexität derartiger Auseinandersetzungen mitsamt den möglichen Folgen und verschiedene Lösungsvorschläge zu deren Beilegung diskutiert werden sollen. Um dem umfassenden bildungspolitischen Anspruch Rechnung zu tragen, wird sich das Rahmenprogramm der Sonderausstellung – bestehend aus insgesamt sechs Veranstaltungen im Jahr 2023 in Ratingen – komplementär mit anderen ähnlich gelagerten Konflikten auseinandersetzen.

Ebenso wie die Vorgängerausstellung zum Plebiszit in Oberschlesien entsteht die aktuelle Sonderausstellung in deutsch-polnischer Zusammenarbeit. Nicht nur der Kurator der Ausstellung, Dawid Smolorz, Regionalforscher und ausgewiesener Kenner der oberschlesischen Grenzproblematik im 20. Jahrhundert, sondern auch der Grafiker Bogusław Nikonowicz und die für die Organisation und den Begleitband verantwortliche Monika Rosenbaum unterstützen das Team des Oberschlesischen Landesmuseums bei der Realisierung des ehrgeizigen Vorhabens. Diese deutsch-polnische Zusammenarbeit gedeiht abseits aller politischen Spannungen auf der Arbeitsebene, in Kultur und Wissenschaft, sehr gut. Das war auch bereits 2021 im Zusammenhang mit der Plebiszit-Ausstellung oder mit der internationalen wissenschaftlichen Tagung zum Thema und dem Filmprojekt „Ein europäischer Konflikt. Der Abstimmungskampf um Oberschlesien 1921“ zu sehen. Dies wird nun vom Museum fortgesetzt, ganz in der Überzeugung, damit auch einen Beitrag zur Völkerverständigung und zur deutsch-polnischen Freundschaft zu leisten. Beachtenswert ist der Einsatz von Multimedia-Komponenten bei dieser Ausstellung, die den bildungspolitischen Ansatz unterstützen und die Ausstellung gerade für ein jüngeres Publikum attraktiver machen. Neben einem großen Multimedia-Tisch mit Kartendarstellungen kommen drei Info-Terminals und Filmprojektionstechnik zum Einsatz. Überdies wurden eigens für die Ausstellung CAD-Modelle von sechs in der Zwischenkriegszeit in Oberschlesien errichteten modernistischen Gebäuden angefertigt, die als 3-D-Drucke Eingang in die Ausstellung gefunden haben.

Zur Vorgeschichte

Oberschlesien war und bleibt eine in vielerlei Hinsicht untypische Region: Anfang des 20. Jahrhunderts war es eine deutsche Region, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung eine regionale Variante des Polnischen als Muttersprache verwendete. Dieser Umstand wirkte sich aber nicht unbedingt auf ihr nationales Bewusstsein aus, da das Gebiet seit Jahrhunderten zum deutschen Kulturraum gehörte. Eine eindeutige sprach­liche oder ethnische Grenze ließ sich in der Region nicht ziehen, wenngleich sich entlang der Oder auf dem Land eine Sprachgrenze entwickelt hatte und es überdies einen wahrnehmbaren Stadt-Land-Unterschied gab – Deutsch in der Stadt, Polnisch auf dem Land.

Unter Verweis auf die Volkszählung von 1910, die eine leichte polnischsprachige Mehrheit ergab, erhob Polen nach dem Ersten Weltkrieg Anspruch auf den größeren Teil Oberschlesiens. Eine Volksabstimmung sollte die Frage nach der staatlichen Zugehörigkeit klären. Zwischen 1919 und 1921 kam es trotz der Einberufung einer Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission, die in der Region für Ruhe sorgen und die ordnungsgemäße Vorbereitung und Durchführung der Volksabstimmung sicherstellen sollte, zu einem erbittert und gewalttätig geführten Abstimmungskampf sowie drei polnischen Aufständen. Die Volksabstimmung erbrachte zwar ein eindeutiges Gesamtergebnis zugunsten Deutschlands, allerdings mit einem starken Stadt-Land-Gefälle. Im Ergebnis wurde die Region durch eine Grenze geteilt, die nur teilweise den von der Bevölkerung beim Plebiszit ausgedrückten Präferenzen entsprach. Der polnische Teil erhielt als autonome Wojewodschaft Schlesien einen Sonderstatus innerhalb Polens, der deutsche Teil bestand als Provinz Oberschlesien innerhalb der deutschen Grenzen fort.

Die Genfer Konvention für Oberschlesien

Das geteilte Oberschlesien fungierte in der Zwischenkriegszeit als eine Art Testlabor für Minderheitenrechte. Denn Deutschland und Polen hatten noch 1922 unter Vermittlung des Völkerbundes die sogenannte Genfer Konvention abgeschlossen. Diese regelte für die Dauer von 15 Jahren nicht nur viele politische, ökonomische und soziale Fragen, sondern enthielt auch Bestimmungen zum Schutz nationaler Minderheiten, die insbesondere im Bereich des Schulwesens Bedeutung hatten. Ab 1933 bewährte sich das Abkommen auch als Schutzwall für Juden gegen die nationalsozialistische Rassegesetzgebung. Aufgrund des Abkommens und des internationalen Drucks kamen die Nürnberger Rassegesetze in Oberschlesien bis 1937 nicht zur Anwendung. Für die Beilegung von Streitfällen zeichnete die eigens dafür gegründete Gemischte Kommission für Oberschlesien unter dem Vorsitz des Schweizers Felix Calonder verantwortlich.

Die Kuriosität der Grenze

Das seit Jahrhunderten zusammengewachsene Gebiet wurde nicht durch ­einen „eisernen Vorhang“ abgeriegelt, unter anderem weil die Arbeitsplätze Tausender Oberschlesier aus der Perspektive ihres jeweiligen Wohnortes nun im Ausland lagen. Verkehrskarten ermöglichten den Einwohnern beider Teile der Region grenzüberschreitende Reisen innerhalb des gesamten ehemaligen Abstimmungsgebietes und zwar ohne Reisepass oder Visum. Da die neue Grenze Eisenbahn- und Straßenbahnlinien zerschnitt, wurde der sogenannte privilegierte Durchgangsverkehr eingeführt, damit Passagiere in Zügen und Straßenbahnen auf kurzen Strecken nicht mehrmals kontrolliert werden mussten. Vor allem im Industriegebiet entstanden infolge der Grenzziehung vielerorts eigenartige Lösungen, die das Alltagsleben und die Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen innerhalb der Bevölkerung nicht selten beeinträchtigten. Bereits in der Zwischenkriegszeit sprach man in diesem Zusammenhang von Grenzkuriositäten. Hierzu gehörten etwa das von drei Seiten von polnischem Gebiet umgebene deutsche Beuthen, ein Grenzübergang an einem Bergwerkstor, ein geteiltes Dorf, Grenzen unter Tage und polnische Gleise, die durch einen deutschen Ort führten.

Deutsch-polnische Konkurrenz

Alle Regierungen der Weimarer Republik gingen davon aus, dass es in Oberschlesien früher oder später eine zweite Volksabstimmung geben würde. Daher sollte der deutschverbliebene Teil der Region eine Art Schaufenster des Reiches sein. Der polnische Staat wollte wiederum beweisen, dass sich die ihm zugesprochenen Gebiete bestens entwickelten. Dies führte zu einer ausgesprochenen deutsch-polnischen Konkurrenz, die Bereiche wie Architektur (öffentliche Gebäude und Wohnungsbau), Infra­struktur (Bahnlinien, Rundfunk) und Sport (regelmäßige Fußballspiele zwischen den Mannschaften Deutsch- und Polnisch-Oberschlesiens) umfasste.

Erinnerungen an die Grenz­ziehung

Die Folgen der Grenzziehung von vor 100 Jahren sind teilweise bis heute spürbar. Denn seit 1922 sind Oberschlesier Bürger verschiedener Staaten, besitzen unterschiedliche Pässe, drücken verschiedenen Fußballnationalmannschaften die Daumen. Da es nach der Grenzziehung zu Migrationsbewegungen in beide Richtungen kam und in beiden Teilen der Region Assimilierungsprozesse stattfanden, wirkt sich die Teilung nach wie vor auch auf die Einstellung der oberschlesischen Bevölkerung aus, innerhalb und außerhalb Oberschlesiens. Im Westen, der bis 1945 Teil des Reiches blieb, ist das deutsche Zugehörigkeitsgefühl viel stärker ausgeprägt als in dem bereits 1922 polnisch gewordenen Osten. Die deutsch-polnische Grenze in Oberschlesien ist zudem nicht komplett von den Landkarten verschwunden. Teilweise decken sich die Diözesangrenzen in der Region immer noch mit der alten Grenze, vielerorts erinnern alte Zoll- und Grenzhäuser an dieses Kapitel der Regionalgeschichte und unter der einheimischen Bevöl­kerung ist die Grenze zum Teil auch im Bewusstsein der jüngeren Generation nach wie vor präsent.

Dr. David Skrabania ist Kulturreferent für Oberschlesien bei der Stiftung Haus Oberschlesien/Oberschlesisches Landesmuseum.

Oberschlesisches Landesmuseum
Bahnhofstraße 62, 40883 Ratingen
Telefon 02102 - 9650
www.oberschlesisches-landesmuseum.de

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