„Zum Film gelange ich ganz ohne Absicht”
Als Pionier des Experimentalfilms und Chronist der Dada-Bewegung hat Hans Richter (1888–1976) einen festen Platz in der Kunst- und Filmgeschichte. Dass er in der Tätigkeit des Malens seine eigentliche künstlerische Heimat sah, hat er selbst betont: „Zum Film gelange ich ganz ohne Absicht […] durch die Logik der ästhetischen Entwicklung der modernen Malerei.“ Abstrakte Werke und erste frühe Rollenbilder zeigten bereits zwischen 1919 und 1923 Richters Absicht, die Dimension der Zeit, eine gesteuerte zeitliche Wahrnehmung in das Medium der Malerei zu integrieren. Seine Rollenbilder, einzigartig in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts und inspiriert von chinesischen Vorbildern, gelten als Vorformen des künstlerischen Films: Die Betrachtung strukturiert sich beim Ausrollen seiner meterlangen Kompositionen in einer festgelegten Abfolge – das Seherlebnis wird nicht dem Zufall überlassen. Vor dem Betrachter breitet sich ein narratives Gemälde aus.
20 Jahre nach seiner malerischen Innovation griff Richter dieses Gestaltungsprinzip 1943 wieder auf: Es entstanden im amerikanischen Exil drei Rollenbilder zu einschneidenden Ereignissen des Zweiten Weltkriegs – u. a. gestaltete Richter in einem abstrakten Gemälde unter Verwendung von Zeitungsausschnitten ein Rollenbild zur entscheidenden Schlacht bei Stalingrad. Monochrome Farbfelder verschränken sich mit collagierten Zeitungsartikeln aus amerikanischen Blättern zu Wendepunkten des Kampfs um Stalingrad. Auf der rechteckigen Leinwand werden Form und Inhalt auf einem fast fünf Meter langen Band gleichberechtigt behandelt. Das Rollenbild „Stalingrad (Sieg im Osten)“ von 1943/44 befindet sich heute im Hirshhorn Museum and Sculpture Garden der Smithsonian Institution in Washington. Eine vermutliche Vorstudie (Collage und Öl auf Leinwand/Karton) von 1943/46 zu diesem Werk mit ähnlichem Format (94 x 512 cm) konnte das Karlsruher ZKM jetzt aus Privatbesitz mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder erwerben.
Die verwendeten Zeitungsartikel der Studie entsprechen in der Form weitgehend der Washingtoner Fassung, doch verwendete Richter hier noch Artikel beliebigen Inhalts, auch ist das rechte Drittel der Komposition noch in einem frühen Entwurfsstadium. Richter vermerkte mit Bleistift die Originaltitel der dann später verwendeten Artikel. Die originelle und eigenständige Arbeit lässt in den improvisierten, tastenden Versuchen den Weg zur endgültigen Komposition von „Stalingrad (Sieg im Osten)“ nachvollziehen und bezieht daraus ihren besonderen Reiz. So kann das ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe mit Hans Richters Gemälde dessen von Rhythmus, Bewegung und Struktur bestimmtes künstlerisches Konzept erstmals auch in einem bildnerischen Werk darstellen – einige filmische Werke des Künstlers befinden sich bereits seit längerem im ZKM.