Seine erste museale Ausstellung hat 1994 gleich nebenan stattgefunden, in Haus Lange, das 1927/28 von Ludwig Mies van der Rohe entworfen wurde. Dort, im ehemaligen Haus der Familie des Textilindustriellen Hermann Lange, veränderte der Bildhauer Gregor Schneider (*1969) mit drei Arbeiten fast unmerklich die von dem Bauhaus-Architekten geplanten Dimensionen: Er baute die perfekte Kopie einer bestehenden Wand vor die Wand eines der Kinderzimmer im Obergeschoss ein. An anderer Stelle entfernte er ein Stück der Wand und ersetzte es durch eines aus seinem „Haus u r“ in Mönchengladbach-Rheydt. Von einer dritten Arbeit, von der der Künstler vorgab, dass sie realisiert wurde, fehlt jegliche Beschreibung. Im Gartenhaus von Haus Esters zog er im Jahr 2000 als „Hannelore Reuen – Alte Hausschlampe“, die fiktive Bewohnerin von „Haus u r“, die den Mädchennamen seiner Großmutter trägt, für kurze Zeit ein. Schneider baute dort den Raum „Hardcore“ mit einem Durchbruch in den Keller, wo er sich als Hannelore Reuen während der Eröffnung auf den Boden legte. Für Arsprototo sprachen Daniela Kummle und Johannes Fellmann mit dem international renommierten Künstler, der jetzt wieder nach Krefeld in die Villa im Stadtteil Bockum zurückkehrt.
In „Welcome“ wird aus Haus Esters das „Haus Alhmam-Aldaas“. Gregor Schneider hat eine syrische Familie eingeladen, vier Wochen in der Fabrikantenvilla zu leben. Jetzt sind die vier Familienmitglieder wieder ausgezogen. Auf Fotos ist zu sehen, wie sie die modernistische Villa nach ihren Bedürfnissen und Wünschen mit Unterstützung des Künstlers neu einrichteten. Die Besucher der Ausstellung sehen allerdings nur noch die Überreste von Wandbespannung und -bemalung, Vorhänge sind geblieben, wenige Dekorationen, einzelne Objekte wie Teller und Besteck in der Küche oder ein achtlos liegen gelassenes Perlenkettchen im Kinderzimmer. Alle Möbel, die persönlichen Gegenstände und das Spielzeug der Töchter sind verschwunden. Das Museum lanciert lediglich die Informationen, dass die Familie 2015 nach Deutschland geflüchtet sei und zum Umfeld des Künstlers gehöre.
Arsprototo: Welche Fragen in Bezug auf Flucht und Migration wirft Ihre Ausstellung auf?
Gregor Schneider: Man fragt sich unweigerlich, wenn man die Räume betritt, wo ist die Familie jetzt hin? Ist sie vielleicht wieder zurück nach Syrien gegangen? Tatsächlich überlegt sich diese Familie auch, wieder nach Syrien zu gehen, sobald dort Frieden herrscht, die Situation stabiler ist. Sie glauben, dass sie dort ein ruhigeres Leben haben und nicht mehr so hart arbeiten müssen wie hier. Und gerade jetzt haben wir diesen politischen Wandel in Deutschland. Der Titel „Welcome“ kann mit den leeren Ausstellungsräumen auch als Frage gelesen werden: Sind Menschen mit Migrationshintergrund hier willkommen? Wie stehen wir zu den Themen Heimat, Flucht und Migration? Es geht um eine Kulturbeschreibung durch Perspektivwechsel. Gleichzeitig hinterfrage ich die Rolle von Kunstinstitutionen in der Konfrontation mit dieser prekären Realität. Das Thema betrifft auch beispielsweise Menschen in den sterbenden Dörfern im Braunkohlegebiet Garzweiler in meiner Nachbarschaft. Sterbende Dörfer werden zu Orten der Entwurzelung. Die Menschen mussten dort bereits wegen des Braunkohleabbaus umziehen. Die Verbrennung der fossilen Energieträger ist wiederum Hauptverursacher der globalen Erwärmung und der Klimakrise, die wiederum zu Migration führt. Es geht um Entwurzelung, aber auch das neue Ankommen. Das hat beides miteinander zu tun. Ich finde, das trifft uns auf ganz vielen Ebenen. Die Ausstellung legt mit diesen gesellschaftlichen Fragen den Finger in die Wunde. Wie gehen wir mit unseren Erwartungen, auch mit den Klischees um? Entdecken wir in uns diesen gefährlichen, versteckten Rassismus und unsere Vorbehalte gegenüber anderen? Wie gehen wir miteinander um? Wie offen sind wir, wie viel Raum geben wir? Die gesellschaftliche Problematik betrifft die Integration auf beiden Seiten. Ich würde mir wünschen, dass eine größere Alltäglichkeit reinkommt im Umgang mit Menschen, unseren Nachbarn, Menschen aus unserer Gesellschaft.
Welche Bedeutung hat dieser spezifische Ort, Haus Esters und Haus Lange, für Sie?
Hier in Haus Esters, in Verbindung mit dem Haus Lange, gibt es die lange Tradition der Raumkonzepte, die auch vielfach mit leeren Räumen gearbeitet haben. Oder als Yves Klein 1961 hier eine Abstellkammer vorfand, die er weiß gestrichen hat. Ich bin dann eher der, der die Abstellkammer baut und den Schritt in die Realität geht. Hier, bei „Welcome“, wird diese abstrakte Leere noch mal mit einem anderen Inhalt verknüpft, mit einer aktuellen gesellschaftlich relevanten Problematik und dem Islam.
Warum sind die Räume dann jetzt leer oder fast leer? Warum haben Sie die Möbel der syrischen Familie nicht dort gelassen?
Dass sie jetzt ausgezogen sind, ist eben die Situation. Wenn etwas leer ist, wird es still und es wird ernst. Es entsteht ein Gedankenraum, in dem der Besucher mit diesen Fragen konfrontiert wird oder zumindest mit dem Raum, und er muss mit seiner Vorstellungskraft diesen Raum lesen, füllen. Abgesehen davon ist ja noch sehr, sehr viel da. Es gibt eine Beleuchtung, Tapeten, dort sind Vorhänge, es gibt auch noch Einbauten. Eine Wasserflasche steht auf dem Tisch. Ein Besen steht in der Küche herum. Das habe ich nicht arrangiert. Diese Annäherung an die Realität war mir wichtig. Die Wahrnehmung der Leere der Räume ist ebenso missverständlich wie kulturell unterschiedlich. In der westlichen Kultur erzeugt Leere meist Angst – als ob etwas fehlt, abwesend, mangelhaft oder verschwunden wäre. In der westlichen Sichtweise ist Leere oft eine Spur von etwas, das vorhanden war und nun fehlt, während sie in anderen Kulturen für sich steht. Die westliche Perspektive stellt einen „ikonischen Blick“ dar – ein zum Bild geronnener Blick. Diese Sehpraxis ist eine Vermessung des Blicks. Der Islam versucht im Unterschied zum westlichen Bild, sich dem nicht Darstellbaren zu nähern. Erst im Kulturvergleich erscheint der westliche Charakter: die besondere Beziehung zwischen Blick und Bild. Dem Betrachter und dessen Weltsicht wird dabei ein Spiegel vorgehalten. Kulturelle Überlagerungen interessieren mich schon lange. 2005 habe ich den schwarzen „Cube“ für Venedig entworfen, der in Form, Aussehen und Funktion eigenständig war. Dieser war inspiriert von der Kaaba in Mekka und von Kasimir Malewitschs „Schwarzem Quadrat“. Kulturübergreifende Zusammenhänge haben mich in der Skulptur fasziniert – ich sah mich jedoch bei der Realisierung mit Zensur konfrontiert.
Seit 1985 arbeitet der Künstler Gregor Schneider mit Räumen, anfangs im Haus auf dem elterlichen Betriebsgelände, einem bleiverarbeiteten Unternehmen in Rheydt, dem sogenannten Haus u r. Seine künstlerische Strategie besteht darin, vorhandene Räume in Räumen nachzubauen, zu wiederholen. Früh sammelte Schneider auch, mitunter von der Öffentlichkeit argwöhnisch beäugt, Materialien aus den zurückgelassenen Häusern der Dörfer in den Braunkohlegebieten des Niederrheins, die er in seinem Haus in Rheydt verbaute.
Sie arbeiten gerne in der Gegend, in der Sie geboren und aufgewachsen sind. Gibt es einen ganz spezifischen regionalen Bezug?
Es hatte sehr viel damit zu tun, dass ich Räume und Materialien aus den sterbenden Dörfern im Braunkohleabbaugebiet Garzweiler ausgebaut habe. „Haus u r“ hätte nicht stattgefunden ohne Braunkohle, ohne die Umsiedlung. Aber ich glaube, man kann das auch auf die gesamte Stadt Rheydt beziehen. Sie ist im Krieg zerstört worden. Viele, auch in Mönchengladbach, zu dem Rheydt heute gehört, haben einen großen Teil ihrer Heimat verloren. Dadurch, dass in der Nachkriegszeit hier wieder alles schnell aufgebaut werden musste, können wir uns mit der Geschichte schwer identifizieren. Ich beschäftige mich sehr stark mit den eigenen vier Wänden, der Straße vor der Haustür oder dem Braunkohleloch in der Nachbarschaft, dem Regionalen, mit den Dingen, mit denen ich einfach konfrontiert werde. Das Loch und die Folgen wurden lange kollektiv verdrängt. Und ich verbinde damit viele verlorene Chancen. Jetzt rufen sie dort „Garzweiler Valley“ aus!
In dem ehemaligen Braunkohlerevier entsteht nach dem beschlossenen Ausstieg aus der fossilen Energiegewinnung jetzt ein „Demonstrationsraum für innovative Standortkonzepte, in dem die Zukunft von Wohnen und Wirtschaften unter Reallaborbedingungen erprobt werden kann“ (Zweckverband LANDFOLGE Garzweiler).
Geben die vorgefundenen Materialien das Thema vor oder entwickeln Sie unabhängig davon eine künstlerische Idee?
Ich arbeite in einer eigenen künstlerischen Tradition sozusagen, wobei Kunst und Leben bei mir nah vermischt sind. Wichtig ist mir, mich künstlerisch weiterzuentwickeln. Ich habe immer den Eindruck, dass die Arbeit diese Entwicklung selbst vorgibt und ich mir das nicht ausdenken muss. Ich finde etwas vor, ahme es nach. Meine Arbeit ist ein Spiegel der Erlebnisse, der Dinge, die mir zustoßen. Und ich bin manchmal selbst so überrascht, wie eng die Dinge miteinander verwoben sind. Die Arbeit zeigt mir nicht nur, was der nächste Schritt ist, sondern die Arbeit klärt mich auch auf. Die Arbeit ist schlauer als ich es sein kann. Ich gehe sehr stark von der Realität aus, versuche, sie zu begreifen oder mich ihr anzunähern.
2007 erfuhr Gregor Schneider, dass sich nur wenige Gehminuten entfernt von „Haus u r“ das Geburtshaus von Joseph Goebbels (1897–1945) befindet. Eine Verwechslung der Hausnummern hatte dazu geführt, dass man im Stadtarchiv davon ausgegangen war, das Gebäude sei im Krieg zerstört worden. Später erwarb Schneider das Haus und machte seine Geschichte, die in Vergessenheit geraten war, wieder öffentlich. Er entkernte das Gebäude und transportierte den Bauschutt zunächst vor die Nationalgalerie in Warschau, danach war die Aktion mit dem Titel „unsubscribe“ zur Hundertjahrfeier vor der Berliner Volksbühne zu sehen.
Woher kommt Ihre Motivation, Kunst zu machen?
Das Unaussprechliche und Verdrängte hat eine wahnsinnige Energie. Es treibt mich um, es treibt zumindest an, und das ist vielleicht auch eine Form, damit zu leben. Was mich umtreibt, ist eine Annäherung an die Realität.
Gregor Schneider ist ein großer Sammler. In seiner riesigen Lagerhalle schlummern verpackt seine Bauten aus den Jahrzehnten, dort kann er zugreifen auf eine Enzyklopädie seiner Räume, von den ersten Arbeiten im „Haus u r“ über den aufsehenerregenden, an die Kaaba in Mekka erinnernden „Cube“, der nach Ablehnung in Venedig und Berlin dann 2008 in Hamburg zu sehen war, bis hin zu seinem „Sterberaum“, der einem Zimmer im Erdgeschoss von Haus Lange nachempfunden ist. Andere Räume hat Schneider auch an Museen und private Sammler verkauft, beispielsweise befindet sich das „Kaffeezimmer“ aus „Haus u r“ seit 2009 im Museum Abteiberg in Mönchengladbach. Der Ankauf wurde von der Kulturstiftung der Länder gefördert. Museen auf der ganzen Welt sammeln seine Werke, darunter das Museum of Contemporary Art in Los Angeles und die Tate Modern in London.
Zurück zur Ausstellung „Welcome“: Wohin ist die Einrichtung von „Haus Alhmam Aldaas“ jetzt verschwunden?
Ich habe die Familie gefragt: Was wollt ihr haben, was könnt ihr gebrauchen? Ein paar Sachen haben sie mit in die eigene Wohnung genommen, aber die Vorhänge passen zum Beispiel nicht dorthin. Und der Rest bleibt dann bei mir in meinem großen Lager. Das entspricht meiner Arbeitsweise: Das sogenannte Haus u r existiert in Mönchengladbach-Rheydt. Es existieren bis heute auch alle Räume, die ich in der Vergangenheit gebaut habe. Mithilfe meines Lagers, Raumgedächtnis nenne ich es, bespiele ich Ausstellungen. Wenn ich also eine Ausstellung mit 23 Räumen in der Bundeskunsthalle habe, werden diese Räume aus meiner Halle dorthin transportiert, die Räume werden nicht posthum nachgebaut, sondern sie sind tatsächlich im originalen Material erhalten.
Sie gehen jetzt an die Grenzen der Institution Museum, so war es in der Ankündigung für die Krefelder Ausstellung zu lesen. Was heißt das?
Man kann „Welcome“ auch als Institutionskritik lesen. Institutionen, finde ich, müssen sich auch immer wieder in Frage stellen. Das ganze Vorhaben findet in bestimmten Strukturen statt. Alle sind beteiligt an der Entstehung, die Institution mit ihrem Budget und ihrem Rahmen, die Haustechniker, die Kuratorin. Alles kann man, wenn man genau hinschaut, wiederfinden in der Gestaltung der Ausstellung. Letztendlich zeigen diese Dinge, wie viel Raum wir dieser Familie gegeben haben. Das ist natürlich auch eine politische Entscheidung, wie man sich als Museum positioniert. Will man an die Grenzen gehen dessen, was Kunst ist? Will ich meine Institution in Frage stellen? Oder habe ich andere Interessen zu berücksichtigen? Ist man vielleicht vorsichtiger im Umgang mit der Öffentlichkeit? Heute werden ja auch viele Diskussionen zurückgehalten, weil wir Ängste vor der Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit haben. Die Schere im Kopf haben wir schneller, als wir uns das vorstellen.
Die Grenzen ausloten, das hat in den Kunstmuseen Krefeld ja Tradition …
Richtig, als der Direktor Paul Wember einbeinig aus dem Krieg kam, hat er hier nebenan in Haus Lange mit seiner Frau und sieben Kindern im Obergeschoss gelebt, und unten wurde Kunst ausgestellt. Da gab es auch kaum eine Trennung von Kunst und Leben. Ich glaube, man muss den Museen freie Hand geben. Ich bin immer für starke, unabhängige Kuratoren. Das ist auch das Tolle am deutschen Beitrag in Venedig, dass jeder freie Hand hat, und das würde ich mir auch verstärkt für die Institutionen wünschen.
Herzlichen Dank, lieber Herr Schneider, für das Gespräch!
Gregor Schneider. Welcome
Kunstmuseen Krefeld – Haus Esters
Wilhelmshofallee 91–97, 47800 Krefeld
bis 21.9.2025