Wie nützlich ist Kunst?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Frau Pfeiffer-Poensgen hat mich wieder einmal aufgefordert, über ein Thema zu reden, von dem ich nichts verstehe. Ich kann weder mit der Lektüre großer Geister über den „Nutzen“ der Kunst aufwarten noch eigenen Kenntnisreichtum in die Waagschale werfen; das Einzige, was ich aufzubieten imstande bin, ist Affinität zum Thema, Erfahrung und einigermaßen gesunden Menschenverstand. Das zusammen muss Ihnen heute genügen, denn sonst hätten Sie sich einen Experten, zum Beispiel einen Kunsttheoretiker oder einen Kunstphilosophen, einladen müssen. Mein Vortrag hat ein offenes Ende, es gibt mehrere „Exitpunkte“, weil das Manuskript viel zu lang ist. Ich schaue mal selbst, was daraus wird …
Zwei Stichwörter stehen im Raum: Kunst und Nutzen. Da bekommt man erst einmal einen Schreck. Deswegen gehe ich ganz systematisch vor – als jemand, der sich das Thema erschließt, während er darüber spricht. Ursprünglich aus dem Althochdeutschen kommend, ist Kunst tatsächlich die Substantivierung des Verbums „können“. Es bezeichnet das, was man beherrscht: Kenntnis also, Wissen oder Meisterschaft. Wenn das zutrifft, wohnt dem Wort zugleich ein Qualitätskriterium inne – etwas will „gekonnt“ sein, um als Kunst akzeptiert zu werden. Qualität konstituiert geradezu das Wort „Kunst“. Genau genommen dürfte es demnach keine schlechte Kunst geben – es wäre keine Kunst. Dummerweise ist das Urteil darüber aber immer subjektiv. Für eine objektive Beurteilung gibt es kaum Kriterien und schon gar nicht eine Instanz. Ist das wirklich so? Über die Qualität von Kunst wird also noch zu reden sein.
Zunächst aber weiter zum Kunstbegriff. Er wird in ganz unterschiedlichen Ebenen gebraucht. Zum Beispiel in der Ebene von Wissen, Erkenntnis und Einsicht. Schon seit dem 16. Jahrhundert wird nämlich „Kunst“ nicht nur zur Beschreibung bestimmten Wissens oder Könnens gebraucht, sondern auch für Philosophie und Wissenschaft. Diese Sicht verweist auf die alte Symbiose von Wissenschaft und Kunst, denn in der Antike und später in der Renaissance sprach man von den „septem artes liberales“, den sieben freien Künsten. Innerhalb dieses Kanons gab es zum Einen das Trivium, Grammatik, Dialektik und Rhetorik – wenn man so will, die Grundbildung – und schließlich zum Anderen das Quadrivium mit Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Ich habe übrigens in der Schule noch gelernt, dass es eigentlich „die sieben Künste der Freien“ heißen müsste, um zu bedenken, dass es sich um den Bildungskanon der freien Bürger etwa Athens oder Spartas handelte, nicht der Sklaven. Und später im Studium erklärte uns Rosemarie Ahrbeck, dass eigentlich von den „sieben Künsten des freien Mannes“ die Rede sei … – „political correctness“ gab es bisweilen sogar schon in der DDR.
Für den Erwerb der Grundfertigkeiten, heute würden wir von „Kulturtechniken“ sprechen, hat sich vom Trivium her das Adjektiv „trivial“ erhalten. Wir verwenden es, wenn etwas einfach, grundlegend, übersichtlich ist – gelegentlich auch im Sinne eines Pejorativs. Für komplexere Sachverhalte hat sich indessen „quadrivial“ als Ableitung aus dem antiken Vierschritt interessanterweise nicht durchgesetzt.
Die geheimnisvolle Verbindung von Wissenschaft und Künsten besteht bis heute fort. Seit Gottfried Wilhelm Leibniz kennt man die Bezeichnung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen als Sprachkunst (Grammatica), Redekunst (Rhetorika), Messkunst (Geometria), Beweiskunst (Logika), Sittenkunst (Ethika), Sehkunst (Optica), Zergliederkunst (Anatomia) und Scheidkunst (Chymia). Man sprach auch hier von Wissenschaften im Sinne von Künsten, und die Trennung von Wissenschaft und Kunst, wie wir sie heute kennen, hat es in dieser Form nicht gegeben. Spätestens in der Goethezeit ist sie aber doch vollzogen worden. Von Goethe nämlich stammt die Bemerkung: „Kunst und Wissenschaft sind Worte, die man so oft braucht, und deren genauer Unterschied selten verstanden wird. Wissenschaft ist Vernunft, Kunst ihr Mechanismus.“ Diese Unterscheidung gefällt mir; ebenso wie seine Bemerkung, Wissenschaft sei das Theorem, Kunst das Problem.
Kunst wird auch oft im Sinne von Fertigkeit gebraucht, auch in der Wissenschaft. Dann sind zum Beispiel Fertigkeiten innerhalb eines Fachgebiets gemeint, etwa die Fähigkeit zu fechten, zu reiten, die Tanzkunst zu beherrschen, ebenso wie die Schreibkunst, die Kochkunst, die Heilkunst. Immer schwingen handwerkliche Ausdeutungen des Kunstbegriffs mit, die unmittelbar mit der „Nützlichkeit“ entsprechender Kunstfertigkeit verbunden sind.
Kunst und Kultur stehen in einem interessanten Gegensatz zum Begriff der „Natur“. Mit der Aufklärung und ihrem neuen Naturbegriff trennten sich diese Perspektiven, das Künstliche oder Künstlerische geriet in einen Gegensatz zum Natürlichen. Tatsächlich verwenden wir heute „Kunst“ auch wie ein Präfix für alles, was nicht natürlich ist: Kunstleder, Kunststoff, Kunstblume, Kunstauge und so weiter. In den Kunst- und Wunderkammern, den aufgeklärten Vorläufern unserer heutigen Museen, stellte man die Exponate geordnet nach Naturalien und Artefakten auf; auf der einen Seite also z. B. Mineralien, Präparate von Pflanzen und Tieren usw., auf der anderen die kunstvoll von Menschenhand aus Naturstoffen erst gemachten Dinge: Fächer, Krüge, Werkzeuge, Skulpturen und Vieles mehr. In der Mitte wurde in der überlieferten Architektur der Wunderkammern fast immer ein Globus aufgestellt, gleichsam als verbindendes Symbol für den Gesamtzusammenhang, das abgerundete und ausgeglichene „Ganze“. Bis heute kann man das in erhalten gebliebenen Wunderkammern betrachten, etwa im Kunst- und Naturalienkabinett der Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale.
In der Theologie begegnet uns schließlich Gott als Künstler, als Schöpfer der Welt. Aus dieser Perspektive der Naturbetrachtung oder gar -anbetung entdecken wir die Erhabenheit eines Flusslaufes, die Schönheit eines Sonnenuntergangs, die Faszination eines Gewitters – sofern man keine Angst davor hat – , der Ruhe des Waldes, die gebieterische Präsenz eines Berggipfels, die ästhetische Ordnung des Kranichfluges.
Bei dieser Gelegenheit könnte man übrigens fragen, ob auch Tiere Künstler sein können. Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Schließlich bewundern wir ja den kunstvollen Nestbau der Vögel, wir staunen über die Werke des Bibers, wir bewundern das Wabennest der Bienen, den Tanz der Delphine. Hier müsste man dann aber ebenso fragen, ob Tiere ihre Werke genießen, das heißt, ob sie sich bewusst daran erfreuen (oder ob nur wir das tun) und sich womöglich auch gegenseitig dafür bewundern.
Außerdem verwenden wir den Kunstbegriff als „schöne Kunst“. Die schönen Künste stehen heute für den heute am häufigsten gebrauchten Wortsinn, was insbesondere auf Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe und Schiller zurückzuführen ist. Sie alle haben in ihren Arbeiten zur Ästhetik genau das beschrieben: die menschlichen Hervorbringungen zum Zwecke der Erbauung, der Bildung – jetzt sind wir schon sehr dicht am Thema – , sei es im Theater, in der Literatur, in der Musik oder in anderen Kunstbereichen.
Und um eine letzte Dimension zu nennen: Auch im technischen Sinn gibt es den Begriff der Kunst, z. B. als Ingenieurskunst oder Baukunst. Wir sind fasziniert über eine gut funktionierende Maschine und bewundern die Kunst ihres Konstrukteurs. Technische Kunstwerke gibt es auch im engeren Sinn, z. B. im Falle von kinetischer Kunst, einer Art mechanischen Performance, mit der die tollsten Bewegungen, Übertragungen von Kraftimpulsen installiert und inszeniert werden. Im Phaeno Wolfsburg kann man eine Vielzahl solcher Exponate bewundern. Auch Gartenbau- oder die Wasserkunst gehören dazu – ich denke in diesem Moment etwa an die großen Gartenanlagen Peter des I. im russischen Petersburg, wo Wasserspiele in einer unglaublichen Virtuosität, komponiert wie Musikstücke, zu bewundern sind. Alle diese Beispiele zeigen die Schnittstelle von Wissenschaft, Technik und Kunst.
Aber eigentlich ist diese Dreiteilung und Zergliederung dem Kunstbegriff selbst gar nicht angemessen, denn er hat eine universelle Dimension. Nicht ohne Grund spricht man von „Lebenskunst“ oder von Lebenskünstlern. Kunst ist letztlich menschliche Ausdrucksform des Seins – ich müsste es eigentlich anders betonen: menschliche Ausdrucksform des Seins. Zu diesem Sein gehören Wahrheits- und Erkenntnissuche, Können und zugleich das Gefallen und die Freude daran, also auch Schönheit und Genuss, das Bewusstsein für Form und Gestalt, Freude an Wohlklang und Bewegung, an Klugheit, Mut und Witz. Genauso bedarf es der Kunst, um neben der Lebensfreude auch Trauer, Enttäuschung, Angst oder Erschütterung Ausdruck zu geben.
Aber nun sollte ich ja nach dem „Nutzen“ der Kunst fragen. Wenn Kunst nützlich sein soll oder kann, müssen wir dafür zunächst überlegen, welchen Nutzen sie haben könnte und wem sie nützt. In der Wissenschaft sprechen wir von Neugier und Nutzen – curiositas und utilitas. In der Wissenschaftsgeschichte kann man übrigens sehr schön verfolgen, wie das Erkenntnisstreben zunächst mit etwas ganz Elementarem – das Wort „Wissenstrieb“ klingt sehr elementar – zu tun hatte, nämlich menschliche Neugier zu befriedigen. Alsbald kam die Idee dazu, die Welt nicht nur zu verstehen, sondern sie auch zu verändern, also einen Nutzen aus erworbenem Wissen zu schlagen. Curiositas und utilitas sind die Universalien einer jeden wissenschaftlichen Weltbetrachtung. Wie verhält es sich aber mit der Kunst?
Wäre Kunst von Nutzen, dann könnte sie auch von Schaden sein. Kann denn Kunst tatsächlich schädlich sein? Das erinnert mich an meine Kinder, die mich immer gefragt haben, als sie zur Schule gingen, wieso es Nützlinge und Schädlinge gibt, Schädlinge seien doch eigentlich nur für Menschen schädlich. Bei der Gelegenheit habe ich gelernt, dass es eine ganz eigene, kindliche Ethik gibt, die die Welt erstaunlich unverstellt bewertet.
Wem könnte Kunst schaden? Besteht der Schaden vielleicht schon darin, dass sie allenfalls nutzlos oder überflüssig sein kann? Vielleicht ist es ja gerade ihr Nutzen, überflüssig zu sein. Aber bleiben wir noch einen Moment beim Schaden. Es gibt ja tatsächlich Kunst, die verführt, die verletzt, die beleidigt, die aufwiegelt – ja, es gibt sogar Kunst, die verblödet. Aber muss das dann immer auch schlechte Kunst sein? Oder handelt es sich in diesem Fall überhaupt um Kunst? Was also wäre schädliche Kunst? Denken wir z. B. einmal sehr ernsthaft an die kunstvollen Filmdokumentationen Leni Riefenstahls zur Berliner Olympiade 1936. Das ist großartige Ästhetik und zugleich höchst ambivalente Kunst, Kunst der Verführung. Dasselbe gilt für die Architektur Albert Speers.
Kunst gilt manchen Machthabern wiederum als gefährlich – als Gefahr für ihren Machterhalt. Kunst kann durchaus „aufwiegeln“; dann wird sie verboten, verfemt, als „entartet“ gebrandmarkt oder ins Feuer geworfen, wie Zehntausende Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz, eine Barbarei, die nun 80 Jahre zurückliegt. Bis heute werden an vielen Orten der Welt Künstler angegriffen, verboten, eingesperrt – denken wir nur an den chinesischen Aktionskünstler Ai Weiwei. Kunst wird ernst genommen. Wäre sie unnütz oder nur um ihrer selbst willen da – so groß die Versuchung ist, das so zu sehen – hätten diese historischen Ereignisse nie stattgefunden.
Ein Kunstphilosoph, ein echter, hätte Ihnen möglicherweise erzählt, dass Kunst sich einer Nutzendiskussion entzieht und hätte den Vortrag sicher abgelehnt, sogar mit guten Gründen. Ich wollte das auch machen, ich konnte es aber wegen Frau Pfeiffer-Poensgen nicht tun. Also hieß es, alles Bedenken beiseite zu schieben und tatsächlich zu fragen, ob Kunst einen „Gebrauchswert“ hat. Natürlich ist das schon vom Wort her eine Provokation.
Wozu kann man Kunst gebrauchen? Es kann ganz schlicht zunächst der Wiederverkaufswert eines Kunstwerkes sein, wenn ich es als Kapitalanlage sehe. Der Wert ärztlicher Kunst dagegen wird am Behandlungserfolg gemessen, der mit der richtigen Diagnose beginnt. Die Schönen Künste wiederum erfüllen ihren Nutzen, indem sie gefallen. Das ist sogar ein hoher Nutzen. Es gibt aber, wie gesagt, auch Künstler, die gerade im Sinne der Freiheit der Kunst sagen, Kunst solle und müsse völlig zweckfrei und nutzlos sein. Das sind aber vor allem Metaphern, um den Freiheitsanspruch der Kunst wie der Künstler zu unterstreichen. Ich kenne Künstler, denen es völlig egal ist, ob Ihre Werke gefallen; sie arbeiten allein um der Kunst willen.
Ich denke, keine Höhlenmalerei wäre je entstanden, wenn Kunst wirklich völlig nutzlos, sozusagen ganz frei von Zwecken wäre. Mindestens das Vergnügen der Menschen, das beim Entstehen wie beim Betrachten der Kunst eintritt, wäre ja ein Nutzen. Die Botschaft, die in solchen Höhlenzeichnungen verbreitet wird, war zudem ein wichtiges Medium des Wissenstransfers.
Also ist auch die Frage wichtig, wer eigentlich den Nutzen von Kunst bestimmt. Ist er fremdbestimmt, so tun sich sicher Probleme auf, andererseits aber gibt es Auftragskunst, politische Kunst, Plakatkunst oder Werbung. In der Humboldt-Universität gibt es noch viele Gebäude, die mit architektonischen Beigaben des „sozialistischen Realismus“ versehen sind. Das ist die DDR-Kunst der 60er und 70er Jahre, eine durchaus bisweilen qualitätsvolle Botschaftskunst, die gewissermaßen Indoktrination mit ästhetischem Anspruch verband.
Wie wollen wir das bewerten? Den Nutzen von Kunst kann man nicht verneinen. Aber bestimmt wird er von niemandem anders als vom Künstler selbst und vom Kunstbetrachter. Dann wird der Nutzen noch immer höchst unterschiedlich sein. Ein und dasselbe Kunstwerk kann gefallen – so träte der „Nutzen“ ein – oder missfallen, dann bliebe er aus, was man beim besten Willen nicht als Nutzen der Kunst bezeichnen kann (es sei denn, man hätte Freude am Missfallen). Einen objektiven Nutzen aber hat die Kunst letztlich nicht, einen subjektiven umso mehr. Erst darüber wird ihr Nutzen objektivierbar.
Allein die Frage, ob etwas Kunst ist oder nicht, hat schon viele Gemüter erhitzt. Dabei lässt sie sich einfach beantworten: Kunst setzt voraus, dass jemand da ist, der sie als solche betrachtet. Worum es sich dann im Einzelnen handelt, auch im materiellen Sinn, ist ziemlich egal. Der Hausmeister, der 1986 Joseph Beuys’ „Fettecke“ in der Düsseldorfer Kunstakademie wegwusch, hat sie eben nicht als Kunst betrachtet. Für ihn hat es sich subjektiv und objektiv nicht um Kunst gehandelt, und insofern war sein Handeln auch kein Frevel.
Bei der Gelegenheit ist mir meine Tochter Franziska eingefallen, die eine Forscherin für frühkindliche musikalische Hochbegabung ist. In einem Abschnitt über Wunderkinder in ihrer Doktorarbeit fand ich den bemerkenswerten Satz (sinngemäß): „Die erste Voraussetzung für die Feststellung eines Wunderkindes ist die Anwesenheit von jemandem, der sich wundert“. In diesem Satz steckt eine kluge Erkenntnis, weil damit gesagt wird, dass solche Zuschreibungen eine soziale Dimension haben. Auch Kunst erwächst aus Beziehung: Es gehören der Künstler und der Kunstbetrachter dazu.
Das hat mich auf den Gedanken gebracht, zu fragen, wie man die Qualität von Kunst beurteilen kann. Gewiss ist zunächst nicht alles, was Fragen aufwirft, zu Auseinandersetzungen führt oder gar die Gemüter erhitzt, gleich Kunst. Qualität von Kunst zu beurteilen ist ein schwieriges Unterfangen, schon weil Kunst von Subjektivität lebt. Dennoch ist es möglich, gute und weniger gute Kunst zu unterscheiden – nicht, wie gesagt, gefallende und nicht gefallende, denn das ist etwas anderes. Der Satz eines Kunstkritikers: „Das ist gut, aber es gefällt mir nicht“, sagt eigentlich alles.
Was ist zunächst allgemein betrachtet „Qualität“? Zunächst einmal ist sie Ausdrucksform des Grades der Eignung einer Sache für ihren Verwender. Qualität steht für die Frage, ob bzw. inwieweit eine Sache so beschaffen ist, dass sie für ihren Verwender den Zweck erfüllt, den er erwartet hat. Wer aber (außer ihm, damit wir ein objektivierbares Urteil treffen können) kann das beurteilen und hat die Legitimation dazu? Welche Instanz kann und darf diese Qualität prüfen, und nach welchen Zielen und Kriterien soll das Kunstwerk bewertet werden? All diese Fragen muss man für sich beantworten. Im normativen Sinne entscheidend ist sicherlich, danach zu fragen, ob eine Sache das erfüllt, was ich, wenn ich mich mit ihr umgebe, von ihr erwarte. So kann ich Qualität zumindest im subjektiven Sinn konstatieren oder der Sache absprechen. Dabei geht es um etwas grundsätzlich Anderes als im Falle von Quantität. Qualität und Quantität sind die beiden letzten Kategorien, die von den zehn Kategorien des Aristoteles übrig geblieben sind, leider. Alle anderen haben wir philosophisch irgendwie geglättet. Auch die Kategorie des „Leidens“, die mir sehr gefällt, gibt es nur noch als Alltagsempfinden, nicht mehr als eine Art von philosophischer Haltung. Von Qualität können wir Quantität auch im Falle von Kunst gut unterscheiden: Gibt es zu viel Kunst? Oder zu wenig? Wann haben wir „genug“ Kunst?
Mit etwas Mut kann man durchaus versuchen, Kriterien zur Beurteilung der Qualität von Kunst aufzustellen. Ich halte es z. B. für möglich, zu beurteilen, ob die Idee, die künstlerischen Ausdruck findet, relevant ist, Menschen anspricht oder berührt, sie betrifft und bewegt. Das wäre ein wichtiges Kriterium, denn andernfalls wäre Kunst langweilig. Relevanz und Authentizität könnten also als Kriterien gelten, damit auch inhaltliche Tiefe und Ernsthaftigkeit. Weiterhin müsste nach der Originalität, dem Neuigkeits- oder Überraschungswert des Ansatzes gefragt werden, nach Streitbarkeit, nach Beispielhaftigkeit, nach dem Potenzial für kritische Reflexion. Weitere Kriterien sind in der handwerklichen Ausführung verborgen, ist sie virtuos, ist sie materialangemessen und ordnungsgemäß? So gibt es durchaus ein paar allgemeingültige Kriterien für die Beurteilung der Qualität von Kunst – auch wenn ich weiß, wie gefährlich es ist, sie zu formulieren und dabei notgedrungen andere auszuschließen.
Lassen Sie mich das einmal am Beispiel der Architektur erläutern. Das Bauen – und natürlich der Erhalt der Bauten – ist vielleicht die ursprünglichste und universellste Weise der Entstehung von Kultur, der Generierung und Verwertung von Wissen, und zwar von technischem, von künstlerischem und von kulturellem. Der Nutzen von Wissen und Wissenschaft und von Kultur und Kunst lässt sich kaum anschaulicher darstellen als am Beispiel der Baukunst. Wie weit auch immer sich im Verlaufe der Geschichte unserer Zivilisation die Dinge auseinander entwickelt haben, Disziplinen und Künste sich trennten, Fächer sich verselbstständigten, Fachleute verlernten, einander zu verstehen; im Bauen haben sie sich eigentlich nie getrennt. Da finden sie bis heute immer wieder zusammen, denn Bauen ist kulturell wie technisch, wissenschaftlich wie künstlerisch universell. Man braucht – um die Wissenschaften zu nehmen – die Physik für die Materialauswahl und den Bauprozess selbst, die Mathematik für die Errechnung der Statik, die Biologie zur Auswahl der Rohstoffe, die Chemie für die Herstellung und richtige Mischung der Baustoffe, die Soziologie zur Beschreibung der Zeit, in der wir bauen und zur Deutung unserer Bedürfnisse, man braucht die Geschichte für die Organisation und das Entstehen von Fortschritt, die Kunst dafür, dass der Bau gefällt, die Philosophie zur Klärung des Sinns des Ganzen – und die Theologie zur Überwindung der Zweifel daran. Und man braucht die Zusammenarbeit aller dieser Fächer, also die Verständigung darüber, wie sie ihre je eigenen Beiträge zu einem Projekt zusammenführen können.
Wenn ich die Qualität von Architektur bewerten soll – in Berlin haben Sie ganz unterschiedliche Anlässe, das zu tun – dann stelle ich mir immer vor, wie das Gebäude altert. Die Qualität eines Gebäudes hängt offensichtlich davon ab, ob wir ihm die Chance zubilligen, Patina anzusetzen, in Würde zu altern, oder ob es nur zerrüttet und verfällt. Während hochwertige Gebäude in ihrer Materialität, in der Ausführung und vor allem im Konzept mit den Jahren immer schöner werden, sind weniger hochwertige schnell dem Verfall preisgegeben.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: die Fotografie. Als Verfahren betrachten wir sie ja als Kunst. Aber nicht alle Fotos würden wir als Kunstfotografien bezeichnen. Es gibt solche von ganz praktischem Nutzen, z. B. wenn sie etwas dokumentieren sollen. Solche Aufnahmen schickt mir gelegentlich die Verkehrspolizei, und sie haben selten künstlerischen Wert. Und es gibt Fotografien, die zum ästhetischen Genuss angefertigt werden, zum Beispiel Akt- oder Landschaftsbilder. Sind diese Fotografien deshalb nutzlos? Dienen sie nicht gerade dem Zweck des Genusses? Oft erfüllen sie ganz unterschiedliche Erwartungen. Piktogramme beispielsweise sollen beides sein, schön und zweckmäßig. Denken Sie an das wunderbare DDR-Ampelmännchen, dem trauere ich immer noch nach. Es ist schön – also ästhetisch ansprechend – und funktional. Hier kann man ganz sorglos vom Nutzen der Kunst sprechen.
Einen letzten Punkt kann ich zum Schluss nur noch anreißen: die Musen. Mir ist bei der Vorbereitung wieder diese merkwürdige Eselsbrücke eingefallen, die mir aus der Schule in Erinnerung geblieben ist: „Kliometerthal Euer Urpokal“. Nur wegen der (kunstvollen) Form dieser Eselsbrücke habe ich die neun Musen des Hesiod heute noch parat: Klio, Melpomene, Terpsichore, Thalia, Euterpe, Erato, Urania, Polyhymnia und Kalliope.
Kunst ist offenbar auch ein wichtiger Wissensspeicher, eine Art Kulturarchiv. Denken wir nur einmal daran, was wir alles von den antiken Statuen in Griechenland ablesen, was sie uns über Mythologie, Gesellschaftsstrukturen, Alltagswelten, Wissen, Fragen und Fertigkeiten der Menschen aus längst vergangener Zeit erzählen. In der Kunstgeschichte gibt es die Ikonografie, eine wissenschaftliche Lesetechnik zum Beispiel von Madonnenbildern, die ganze theologische Theorien begründen. Damit ist Kunst auch eine sehr wichtige Quelle der Rekonstruktion von Geschichte.
Am Ende aber bleibt ihre entscheidende Funktion das Gefallen. Das können Sie am Design einer Sache studieren, denn fast jeder von Ihnen würde sagen, eine Sache kann noch so funktional sein und alle Bedürfnisse erfüllen; wenn sie nicht gefällt, wird sie nicht ausgewählt.
Und es geht ja noch weiter: Leute wie ich sind bereit – in einem bestimmten Rahmen allerdings nur – funktionale Defizite hinzunehmen, wenn die Sache zumindest schön ist. Bestimmte Mobiltelefone sind primär deshalb ein Verkaufsschlager, nicht wegen ihrer technischen Vorzüge. Da geht es um Anmutung (ein wundervolles Wort), Haptik, symbolische Geltung und Vieles mehr.
Und Kunst lässt sich schließlich – was bereits ein neues Vortragsthema wäre – nicht trennen von Bildung. Schon das Stammwort „Bild“ darin verweist auf diesen Zusammenhang. Auf der einen Seite verbirgt sich hier die Idee des handwerklichen Verfertigens (unsere Hände „bilden“ an der Töpferscheibe einen Krug), auf der anderen Seite schaffen wir uns selbst damit – seit Meister Eckhart tun wir das „nach Gottes Ebenbild“ (imago dei): durch Bildung den Menschen so zu formen, dass er zum kunstvollen Abbild seiner selbst werden kann. Damit schließt sich der Kreis, und ich komme ich auf das Thema meines Vortrages auf dem vorigen „Kinderolymp“ zurück – nämlich auf die Schlussfolgerung, dass Bildung gar nichts Anderes sein kann als kulturelle Bildung.
Herzlichen Dank!