Auf seiner beachtlichen 173,5 x 210,5 cm messenden Holztafelmalerei „Kalvarienberg“ (um 1550) strukturierte der Münsterländer Maler Hermann tom Ring (1521 – 1596) ein bemerkenswert komplexes Bildgeschehen. In der Mitte, flankiert von den zwei Kreuzen der Verbrecher Dismas und Gestas, steht das Kreuz Christi. Darunter gruppierte der Maler zahlreiche Nebenschauplätze: Während die zusammengesunkene Maria links im Vordergrund umsorgt wird, verletzt der römische Hauptmann Longinus auf seinem Schimmel Christus mit der Lanze. Darunter, am Fuße des Kreuzes, trauert Maria Magdalena. Allem Anschein nach den Anweisungen eines Soldaten folgend, schlägt gleichzeitig ein Knecht auf einer Leiter mit einer Keule auf Christus ein. Doch der Fülle des Geschehens nicht genug, ordnete der Maler die Kreuzigung auf dem Kalvarienberg darüber hinaus in das biblische Geschehen ein, indem er das Tafelbild links um die Kreuztragung und rechts um die Grablegung Christi im Hintergrund ergänzte. Derart inhaltlich wie figürlich verdichtet, besticht das Tafelbild dennoch durch seine ausgeglichene Anordnung auf die Bildmitte hin. Nicht zuletzt gelang Hermann tom Ring dies durch seine lebhafte Lichtregie, die er bereits in früheren Schaffensjahren zu verfeinern lernte.
Zwar ist nicht bekannt, wer das Bild beauftragte und welches der Bestimmungsort der größten und detailreichsten Kreuzigungsdarstellung aus dem Gesamtwerk Hermann tom Rings war, doch wird ein hoher kirchlicher Auftraggeber angenommen.
Dass das Tafelbild, nachdem es lange in schlechtem Zustand im Museumsdepot geschlummert hatte, wieder in die Ausstellung des LWL-Museum für Kunst und Kultur zurückfand, ist einer studentischen Anfrage aus dem Jahr 2017 zu verdanken. Denn sie gab den Anstoß zu ersten technologischen Untersuchungen und der Frage, wie das Werk des in Münster fest verankerten Malers wieder in seiner Heimat gezeigt werden könne. Die nur lose mit rückwärtig angebrachten Leisten verbundenen Bretter der Bildtafel konnten daraufhin stabilisiert, offene Fugen geschlossen und verleimt werden. Auch die Bildoberfläche hatte sich im Laufe der Jahrhunderte verändert, denn malerische Bearbeitungen und Überzüge hatten das ursprüngliche Erscheinungsbild ebenso beeinflusst wie durch Umwelteinflüsse veränderte Farbtöne. Die in dünnen Malschichten aufgetragene Malerei war durch vorangegangene Reinigungen stellenweise abgetragen worden, sodass sich ehemals detailreiche Farbnuancen nunmehr in monochromen oder flächigen Stellen verloren.
Um spekulative Retuschen zu vermeiden und die Farbdünnungen als historisch gewachsene Bestandteile der Bildgeschichte offen zu vermitteln, wurde die Bildoberfläche konserviert und eine optische Beruhigung erreicht, indem jene Fehlstellen, die das Tafelholz sichtbar werden ließen, behutsam farblich geschlossen, jedoch nicht rekonstruiert wurden. An einer digitalen Medienstation mit einem hochauflösenden Multitouch-Display ist der Arbeitsprozess der abgeschlossenen Teilrestaurierung im LWL-Museum für Kunst und Kultur nun erlebbar. Mittels digitaler Zoom-Funktion in kleinste Bilddetails werden Beschädigungen und restaurierte Elemente sichtbar und darüber hinaus Verluste und Veränderungen erläutert.
Im Herzen Münsters, im LWL-Museum für Kunst und Kultur findet die Renaissancemalerei „Kalvarienberg“ nach ihrer abgeschlossenen Teilrestaurierung eine angemessene Heimstatt, die Hermann tom Rings engagiertem Schaffen in der Region Westfalen Rechnung trägt. Hineingeboren in eine Münsteraner Malerfamilie bestimmte Hermann tom Ring das westfälische Kunstgeschehen im 16. Jahrhundert maßgeblich mit. Nach dem Tod des Vaters war er es, der dessen Malerwerkstatt im Alter von 26 Jahren übernahm. Die künstlerischen Ambitionen des strenggläubigen Katholiken für seine zum Großteil katholischen Auftraggeber bescherten ihm eine gute Auftragslage nicht zuletzt deshalb, weil die Täufer im religiös motivierten Bildersturm die Kirchen bis 1535 verwüstet hatten. Diese Leerstellen galt es zu füllen.
Als die Mitglieder des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder 2022 in Münster anlässlich ihrer jährlichen Mitgliederversammlung zusammenkamen, erfuhren sie von den Zielen der zeitgemäßen Restaurierungsethik aus nächster Nähe bei einer exklusiven Führung. Daraufhin sammelten sie im Zuge einer Taschensammlung rund 11.100 Euro, um das Vorhaben zu unterstützen.