Von der Walzer-Mücke zum Marsch-Elefanten
Das Wort „Terra incognita“ der alten Landkarten und Weltkugeln hätten wissende Hände längst überzeichnet; brach liege nunmehr die Erde der irdischen Neugier. Welch ein Glück, dass Stefan Zweig mit seinem Bild einer geheimnislosen Welt, das er in seinen historischen Miniaturen unter dem Titel „Sternstunden der Menschheit“ skizzierte, die Kunst nicht mit einbezogen hat. Dann hätte er ja selbst die Feder zur Seite legen und schweigen müssen. Er hat es so wenig getan wie all die anderen Künstler und Forscher, die gelegentlich davon sprachen, nichts Neues mehr finden zu können, und dennoch weiter danach suchten. Was für faszinierende Entdeckungen man immer noch machen kann, lässt sich freilich nicht nur beim Erforschen einer ungewissen Zukunft oder von unbekannten Galaxien erkennen. Erfolg verspricht ebenso der scharfe Blick ins Obskure der Geschichte. Manchmal genügt auch ein Blick in den Auktionskatalog von Sotheby’s. Was dort urplötzlich wieder das Licht der Öffentlichkeit erblickt, war bisweilen Jahrhunderte verschollen, in Privatbesitz oder peripheren Archiven untergetaucht oder schien aus anderen Gründen unwiederbringlich verloren. So werden Handschriften, die kostbarsten Quellen geistiger Großtaten, bei ihrer Wiederkehr auch behandelt, als sei man bei einer schier aussichtslosen Schatzsuche auf wunderbare Weise fündig geworden. Als vor ein paar Jahren Paul Hindemiths Klaviermusik für Orchester op. 29 von 1923 in einer New Yorker Lagerhalle, ungeordnet in staubigen Pappkartons, wieder auftauchte und gut achtzig Jahre nach der Komposition in Berlin uraufgeführt wurde, richtete sich das Augenmerk nicht nur auf ein unbekanntes Werk eines der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, sondern auch auf einen hochinteressanten Interpreten. Hindemith hatte, wie Prokofjew, Ravel, Benjamin Britten und viele andere Komponisten seiner Zeit, ein Werk für den Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein, den kriegsversehrten, einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein geschrieben, dessen Handicap eine bemerkenswerte Spezialliteratur – Klaviermusik für die linke Hand – ausgelöst hat. Vor vier Jahren wurde bei Sotheby’s in London ein Konvolut von Autographen mit 35 Klavierstücken des deutschen Barockkomponisten Johann Jakob Froberger versteigert, von denen achtzehn bis dahin undokumentiert und unveröffentlicht gewesen sind und die das Œuvre des Komponisten um ein Fünftel erweiterten: eine musikhistorische Sensation, bedenkt man, wie wenige Manuskripte des 17. Jahrhunderts noch entdeckt werden und welchen Einfluss der Komponist auf nachfolgende Meister wie Buxtehude, Pachelbel oder Bach ausgeübt hat. Von Bachs Kantaten sind mehr als hundert verlorengegangen, „einer der schmerzlichsten Verluste der gesamten Musikgeschichte“, wie der Bachforscher Malcolm Boyd festgestellt hat. Und so ist auch zu verstehen, dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die bei Sotheby’s 1996 aus Privatbesitz angebotene Partitur zu Bachs Kantate „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“, BWV 2 aus dem Jahr 1724, zu einem Betrag von damals etwa 1,2 Millionen Mark mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder erworben hat. Die Reihe solcher erfolgreich abgeschlossenen Aktionen ließe sich um viele andere Beispiele vermehren. Die jüngste aber gehört, dem Rang des Komponisten wie des Werkes entsprechend, zu den glücklichsten Fügungen solcher bisweilen bizarren Wiederentdeckungen. Vor gut drei Jahren wurde auf einer Pressekonferenz des Beethoven-Hauses in Bonn die Sensation verkündet: Die Handschrift der Diabelli-Variationen sei dem Haus mit seiner weltweit größten und vielfältigsten Sammlung von Beethoveniana von privater Hand zum Verkauf angeboten worden. Damit gelangte zum ersten Mal nach fünfzig Jahren ein Manuskript dieser Größenordnung wieder auf den Markt. Dem Beethoven-Haus bot sich damit die Chance, ein Autograph zu erwerben, das seit mehr als siebzig Jahren nicht in Deutschland gewesen ist und an seinem Schweizer Standort auch nicht den Bestimmungen zum Schutz deutschen Kulturguts vor Abwanderung unterlag. Dass es nun nach drei Jahren gelungen ist, dieses gut erhaltene Autograph aus zweiundvierzig Blättern mit einundachtzig beschriebenen Seiten, die die Spuren der kompositorischen Arbeit in Form von Korrekturen erkennen lassen, in die voluminöse Autographen-Sammlung einzugliedern und die bereits vorhandenen Dokumente zu dem Werk zu ergänzen, verdankt sich einer fast beispiellosen Finanzierung mit staatlichen und privaten Geldern. Ausgangspunkt war eine von Andreas Eckhardt, dem langjährigen Leiter des Beethoven-Hauses, initiierte und vom Vorsitzenden des Vereins Beethoven-Haus, Kurt Masur, mitgetragene Spendenaktion, an der sich Künstler wie Christoph Eschenbach, Daniel Barenboim, Alfred Brendel, András Schiff, Anne-Sophie Mutter oder Gerhard Oppitz mit Benefizkonzerten beteiligten. Die Hälfte der Kaufsumme, über die man Stillschweigen vereinbarte, wurde so von der öffentlichen Hand – Bund, Land Nordrhein-Westfalen, Bundesstadt Bonn und Kulturstiftung der Länder – aufgebracht. Die zweite Hälfte aber kam durch private Geldgeber, darunter immerhin dreißig Banken und Stiftungen sowie zahllose Einzelspender, zustande, zu denen auch dreitausend Beethovenfreunde gehörten, die symbolische Patenschaften für Noten und ganze Takte des Werkes erwerben konnten.
Um dieses überwältigende Zusammenwirken von staatlichem und privatem Engagement annähernd zu verstehen, muss man sich allerdings in Erinnerung rufen, um welche Größenordnung eines Kunstwerkes es sich dabei handelt. Der Komponist und Verleger Anton Diabelli hatte seinerzeit fünfzig Komponisten gebeten, darunter der damals elfjährige Liszt, ferner Mozarts Sohn, Schubert, Czerny, Beethovens Schüler Erzherzog Rudolf und selbstverständlich Beethoven selbst, auf einen von ihm vorgegebenen Walzer je eine Variation zu schreiben, um diese dann als patriotisches Sammelwerk zu veröffentlichen. Beethoven aber, der sich seiner herausgehobenen Stellung als Künstler wohl bewusst gewesen ist, hat sich nicht nur mit einem einzelnen Beitrag für die Ausgabe mit dem zugkräftigen Titel „Vaterländischer Künstlerverein“ begnügt. Seine „33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli C-Dur op.120“, entstanden etwa zur Zeit der Komposition an der Neunten Symphonie, der Missa solemnis und den letzten drei Klaviersonaten, wurden ein kolossales Variationenwerk, in ihrer Größe eigentlich nur den Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach vergleichbar. Die Größe des Werkes hat auf Pianisten allerdings auch einschüchternd gewirkt, zumindest aber – wie im Interview mit András Schiff bestätigt – größten Respekt ausgelöst. Einen Mikrokosmos des Beethovenschen Genies hat Hans von Bülow diese Komposition genannt, die kein Variationenwerk im traditionellen Sinne darstellt, weil sie das Thema – Beethoven nannte es in seinem bisweilen sarkastischen Ingrimm einen „rechten Schusterflecken“ – nicht ornamental umspielt, sondern in seine Einzelteile zerlegt, um aus dem biederen musikalischen Material eine Enzyklopädie des Klavierspiels zu entwickeln. Diabelli war als Verleger weitsichtig genug, die Komposition, die gemeinsam mit den Variationen der übrigen Komponisten erschien, in der „Wiener Zeitung“ vom 16. Juni 1823 mit den Worten anzuzeigen, der Welt würden hier keine üblichen Variationen offeriert. In der Gegenüberstellung zu den anderen Werken – Rudolf Buchbinder hat 1973 erstmals eine Gesamtaufnahme aller Variationen, einschließlich des Beethovenschen Zyklus’ bei Telefunken herausgebracht – wird der ungeheuere Abstand deutlich, der die geniale Tat Beethovens von der kompositorischen Konvention seiner Zeitgenossen trennt. Schon die erste Variation macht, wie Joachim Kaiser es formuliert hat, aus der Walzer-Mücke einen Marsch-Elefanten. Und die gigantische Doppelfuge des Finales mit dem abschließenden Tempo di Menuetto als größtmöglichem Kontrast überstieg wohl auch die Vorstellungskraft des geneigten Publikums nicht nur zur Zeit Beethovens. Wohl keiner hat den Ausnahmefall, den dieses Werk darstellt, besser erfasst als der visionäre Kritiker der „Frankfurter Zeitung“, Paul Bekker, der darin den Versuch sah, das mangelhafte Instrument des Klaviers den Wünschen des Komponisten gefügig zu machen: „Wir sehen, wie hier die Instrumentalmusik, an der Spitze ihrer Entwicklung angelangt, im Entmaterialisierungsdrang sich gleichsam überschlägt: sie verleugnet sogar den Klang.“ All das, was über dieses gigantische Werk gesagt wurde, lässt sich jetzt an der Primärquelle des Autographs verifizieren, das das Beethoven-Haus in einer Sonderausstellung bis zum 20. April zeigt und im Internet einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Damit wird erreicht, was Gustav Mahler seinerzeit von den Verwaltern eines musikalischen Erbes forderte: das Forttragen des Feuers, nicht das Anbeten der Asche.