Und dazu der alte Fontane

Theodor Fontane an seinem Schreibtisch in Berlin am 30.12.1894, seinem 75. Geburtstag
Theodor Fontane an seinem Schreibtisch in Berlin am 30.12.1894, seinem 75. Geburtstag

Die Metapher vom „alten Fontane“ stammt nicht von Thomas Mann, doch hat er mit seiner gleichnamigen Rezension des zweiten, 1910 erschienenen Bandes der Fontane-Briefe unser Fontane-Bild nachhaltig geprägt. Fast ein halbes Jahrhundert später griff der inzwischen ebenfalls alte Thomas Mann erneut zur Feder und schrieb 1954 in der Weltwoche eine Rezension mit dem Titel: „Noch einmal der alte Fontane“. Wiederum war ein Band mit Fontane-Briefen erschienen. Doch passten diese bislang unbekannten Briefe, die Fontane an den Schmiedeberger Amtsrichter Georg Friedlaender geschrieben hatte, so gar nicht in das bis dato etablierte Bild vom „heiter darüberste­henden“ alten Fontane. In diesen Briefen schien ein anderer Fontane zu sprechen, ein unerbittlich kritischer, zuweilen sarkastischer, auch nörgelnder Fontane, der mit schonungsloser Offenheit und treffsicher auf die Schwachstellen der wilhelminischen Gesellschaft und ihrer Eliten zielte. Ein weiteres kam hinzu: Kurt Schreinert hatte 1954 mit dem Band Theodor Fontane. Briefe an Friedlaender die erste ungekürzte Briefedition vorgelegt und damit das Augenmerk auf die Editionspraxis der Fontane-Erben gelenkt. Heute spricht man von einer Fontane-Renaissance, wenn von den großen Fontane-Ausgaben der 1960er und 70er Jahre die Rede ist. Die „Briefe an Friedlaender“, im Verein mit jener Fotografie, die den im Lehnstuhl sitzenden Thomas Mann bei der Lektüre des Bandes zeigt, sind inzwischen zu Ikonen der Fontane-Verehrung geworden, wie das Ribbeck-Gedicht und die schaukelnde Effi von Max Liebermann. Schon deshalb ist es eine kleine Sensation, dass es dem Potsdamer Fontane-Archiv gelungen ist, diesen Schatz zu erwerben, der nun erstmals der Öffentlichkeit präsentiert werden kann.

Denn das berühmte Briefkorpus befand sich bislang ohne Unterbrechung in privater Hand. Elisabeth Friedlaender, die Tochter von Georg und Elisabeth Friedlaender, hatte es im Fluchtgepäck aus Schlesien mit in den Westen gebracht, um, dem Wunsch der Familie folgend, für seine Veröffentlichung zu sorgen. Leider erlebte Elisabeth Friedlaender das Erscheinen des berühmten Buches nicht mehr, und die Briefe verblieben in der Familie des Herausgebers, wo sie die Zeiten überdauerten. Obgleich einige Briefe aus dem Korpus mehrfach gedruckt wurden und eine zweite, allerdings unkommentierte Ausgabe (Walter Hettche, 1995) vorliegt, wurden die in Schriftbild und Textverteilung ungewöhnlich aussagekräftigen Originale von der Forschung schmerzlich vermisst.

Wer war nun dieser Georg Friedlaender (1843–1914), dem Fontane über viele Jahre hin vertrauensvoll offenherzige und bitterböse Briefe schrieb? 251 davon und 25 Postkarten sowie vier Briefe von Emilie Fontane umfasst das Friedlaender-Korpus. Über 1.000 beschriebene Seiten widmete Fontane dem Schmiedeberger Amtsrichter und späteren Amtsgerichtsrat. Und wie nähmen sich seine nicht selten zwölf und mehr Seiten umfassenden Briefe aus, wenn auch die Stimme des Adressaten vernehmbar wäre, wenn seine Briefe nicht von den Fontane-Erben vernichtet worden wären? Fontane scheint jedenfalls schnell ein feeling für den um vierundzwanzig Jahre jüngeren Schmiedeberger Juristen entwickelt zu haben, den er während des Sommerurlaubs im schlesischen Krummhübel kennengelernt hatte und dessen Einladungen er und seine Frau Emilie gern annahmen. Die Friedlaenders führten ein offenes, gastliches Haus, das im ländlichen Schmiedeberg einen gesellschaftlichen Mittelpunkt darstellte, wohl nicht zuletzt wegen des kommunikativen Talents des Hausherrn, der wie Fontane ein Meister der Causerie gewesen sein muss.

Etwas davon hallt noch in Fontanes Echo auf seine anekdotenreichen Berichte aus der Schmiedeberger Lebenswelt nach. Fontane verdankte ihm den Stoff für einige der kleineren Erzählungen des Bandes Von vor und nach der Reise und für die Erzählung Quitt. Georg Friedlaender seinerseits erhoffte sich von Fontane Unterstützung bei seinem Bemühen, in der Welt der Literatur Fuß zu fassen, denn auch er war auf der Suche nach einem Leben jenseits des juristischen Brotberufs. Einige wenige Veröffentlichungen in der Vossischen Zeitung zeugen davon. Ein weiteres kommt hinzu: Georg Friedlaender war kein „echter“ Schmiedeberger. Er entstammte jener berühmten Berliner jüdischen Gelehrtenfamilie von David Fried­laender, dem Schüler Moses Mendelssohns und bedeutenden Vertreter der Berliner Haskala, dessen Sohn, der Gelehrte Benoni Friedlaender, mit seiner berühmten Autographen- und Münzsammlung den Grundstock für das Berliner Münzkabinett legte. Der Friedlaendersche Horizont reichte mithin weit über das Schmiedeberger Tal hinaus in die Berliner Gesellschaft, in der Fontane als Theaterkritiker und nun – der erste Brief stammt vom 18. August 1884 – auch als Romancier eine Rolle spielte. Doch waren es gewiss nicht nur seine vollendeten gesellschaftlichen Umgangsformen, die den Schmiedeberger Juristen zum bevorzugten Gesprächs- und Korrespondenzpartner des alten Fontane werden ließen. Fontane selbst wurde nicht müde, jenes besondere „talent épistolaire“ an ihm zu würdigen, das er selbst so sehr schätzte und durch das er sich in seiner Briefschreibekunst anfeuern ließ. Umso mehr befremdet sein späteres distanziert-antisemitisches Urteil über den Freund im Brief an Friedrich Paulsen vom 12. Mai 1898, das auf diese so produktive Beziehung einen tiefen Schatten wirft.

Auch auf die Beziehung zu Fritz Mauthner fiel der Schatten der Fontaneschen Ambivalenz, wenngleich Mauthner, der Fontane sehr verehrte, erst posthum durch die Ausgaben der Familienbriefe (1905) und der Freundesbriefe (1910) von dessen wankelmütigen Äußerungen über ihn erfuhr.

In Fritz Mauthner, ebenfalls Jude, Spross einer angesehenen und wohlhabenden Prager Familie und im aufstrebenden Berlin der 1870er Jahre durch Parodien Nach berühmten Mustern bekannt geworden, begegnete Fontane einem – um drei Jahrzehnte jüngeren – Kollegen. Als Literatur- und Theaterkritiker für Rudolf Mosses Berliner Tageblatt hatte er eine ähnlich angesehene Position inne wie Fontane bei der Vossin. Und seit den 1880er Jahren wurden die beiden Konkurrenten. 1882, also in dem Jahr, aus dem die frühesten Zeugnisse ihrer wechselseitigen Kenntnisnahme stammen, veröffentlichten beide ihre ersten Berlin-Romane, Mauthner den Roman Der neue Ahasver und Fontane L’Adultera, wobei Fontane von Mauthners Besprechung nicht begeistert war. In näheren Kontakt traten die beiden vermutlich erst, als der Vorabdruck von Irrungen, Wirrungen in der Vossischen Zeitung wegen seiner vermeintlichen Unmoral zu einem veritablen Skandal geführt hatte und Fontane Unterstützung aus dem Kreis der Zwanglosen erhielt, zu dem neben Otto Brahm, Otto Erich Hartleben und Paul Schlenther auch Fritz Mauthner gehörte. Sein Roman Stine, der wegen des Skandals von der Vossischen Zeitung abgelehnt worden war, erschien denn auch in Mauthners neu gegründeter Zeitschrift Deutschland. Fontane besprach von nun an die Romane Mauthners – Quartett, Die Fanfare, Xantippe – und Mauthner die Fontaneschen.

Auch die persönlichen Beziehungen wurden enger, zuweilen fast freundschaftlich. Als Mauthner in einer Kurzrezension der Buchausgabe von Stine vom „alten Fontane“ spricht, zeigt sich dieser erfreut: „Und dazu der alte Fontane“, erinnernd an eine Äußerung Julius Fauchers, der gesagt haben soll: „das Höchste, was man in Berlin erreichen könne, sei die Bezeichnung ‚der alte‘“ (15.11.1890). In den neunziger Jahren, als wieder häufiger Briefe gewechselt werden, hat sich die Situation für beide Briefpartner entscheidend verändert. Fontane war auf dem besten Wege, sich als Romancier Weltruhm zu erobern. Fritz Mauthner hatte sich enttäuscht von der Schriftstellerei ab- und der philosophischen Sprachskepsis zugewandt. Seine Beiträge zu einer Philosophie der Sprache, die zwei Jahre nach Fontanes Tod zu erscheinen begannen, beeinflussten eine jüngere Schriftstellergeneration mit Hugo von Hofmannsthal, Gustav Landauer, Christian Morgenstern und Samuel Beckett. Insofern mag, jenseits aller persönlichen Ambivalenz, die größte substantielle Nähe beider Autoren im sprachkritischen Gedanken zu suchen sein, den Fontane literarisch, Mauthner philosophisch traktierte.

Dass man von den Briefen, die Fritz Mauthner selbst auf „an die hundert“ beziffert hatte, über lange Zeit nicht wusste, ist indes auf Fontanes berüchtigte Ambivalenz zurückzuführen. Mauthner war von Fontanes Äußerungen über ihn tief gekränkt, wofür seine Besprechung der Familienbriefe Theodor Fontane post­humus ein beredtes Zeugnis ist. Als er sich durch die Freundesbriefe (1910) abermals bloßgestellt sieht, erwägt er sogar gerichtliche Schritte. Noch 1912 sucht Gustav Landauer ihn mit der Bemerkung, Fontane sei eine Giftkröte, zu trösten (Brief vom 10.12.1912). Trotz allem rückte Mauthner von seiner Hochschätzung Fontanes nicht ab. Allerdings entschloss er sich zu einer folgenschweren testamentarischen Verfügung, die die Herausgabe einer Sammlung seiner Briefe untersagte. An diese Verfügung fühlten sich seine Erben gebunden, weshalb die Briefe lange verborgen blieben und es erst 1984/85 zu einer Veröffentlichung der meisten der damals noch vorhandenen Fontane-Briefe in den Fontane Blättern kam. Mit 56 Briefen Fontanes an Mauthner aus den Jahren 1888 bis 1898 konnte nun glücklich ein Großteil der bekannten Briefe erworben werden.

Und ob in der Rede vom „alten Fontane“ tatsächlich „was Wahres drin“ liegt, wie Fontane, Faucher kolportierend, behauptet hatte, kann jetzt auf dieser Grundlage erneut gefragt werden.