Viele Grüsse Franz
Sie war die jüngste seiner drei Schwestern, und sie war ihm die liebste. Seine „beste Prager Freundin“, wie er in einem Brief an Felice Bauer schrieb, seine Vertraute, Ratgeberin und irgendwann seine verlässlichste Stütze. Auch nachdem Ottla, die offiziell Ottilie hieß, im Juli 1920 ihren katholischen Verlobten, den Tschechen Josef David, geheiratet hatte, blieb die enge Beziehung der Geschwister ungetrübt, und später dehnte Franz Kafka seine Zuneigung auf Ottlas Töchter Vera (geb. 1921) und Helene (geb. 1923) aus. Er hatte ihr bei ihrer Berufswahl den Rücken gestärkt – als sie mit zunehmendem Interesse an der zionistischen Bewegung ihre Begeisterung für die Landwirtschaft entdeckte – und nach dem Ausbruch seiner Lungenkrankheit einen ganzen Winter (1917/18) auf ihrem kleinen Hof verbracht. Sie kümmerte sich um ihn, als seine Krankheit immer weiter fortschritt und besuchte ihn in seinem letzten Lebensjahr in Berlin. Der Tod ihres großen Bruders blieb nicht der einzige Schicksalsschlag in Ottlas Leben. Ihre Ehe verlief unglücklich und endete mit der Scheidung im August 1942; danach war sie der Judenverfolgung schutzlos ausgesetzt. Im Oktober 1943 wurde sie gemeinsam mit einer Gruppe jüdischer Waisenkinder, die sie begleitet hatte, in Auschwitz umgebracht.
In den Briefen und Karten, die der Bruder ihr schreibt – insgesamt 111 haben sich erhalten –, lernt man einen anderen Kafka kennen: familiär, verspielt, zutraulich wie ein Kind. Die düstere Note, die beklemmende Atmosphäre, das, was man gewöhnlich als „kafkaesk“ bezeichnet – hier fehlen sie fast vollständig. Wohl klingt auch hier gelegentlich ein verschwörerischer Ton an, aber er wechselt gleichsam nach Dur oder auf die heitere Seite. So heißt es gleich im ersten Brief an Ottla von 1914: „Den Brief musst Du weder zeigen, noch herumliegen lassen. Am besten Du zerreißt ihn und streust ihn in kleinen Stücken von der Pawlatsche den Hühnern im Hof, vor denen ich keine Geheimnisse habe.“
Da Postkarten sich wenig zum Transport von Geheimnissen eignen, Kafka aber auch mit großer Lust farbige Ansichtspostkarten von seinen Reisen nach Italien, Frankreich und in die Schweiz schreibt, erfindet er raffinierte Beschreibtechniken, die aus einem Stückchen farbigen Kartons ein kleines Gesamtkunstwerk aus Schrift und Bild und ein gleichsam dreidimensionales Objekt machen, das der Leser fast umkreisen muss, um seine Botschaft zu entziffern. Dass er mit einem sehr speziellen Humor auf die Abbildungen Bezug nimmt und ihnen einen unvermuteten Dreh ins Absurde gibt, versteht sich bei diesem Absender von selbst.
Keine Frage, Kafkas Post an Ottla ist ein Schatz, den man gesehen haben muss: Wer ein Herz für die Literatur hat, wird spüren, wie es schneller schlägt. Diese beglückende Erfahrung zu machen, ist derzeit ganz leicht, man braucht dazu nur nach Marbach zu fahren. Noch bis zum 11. September sind dort die kostbaren Grüße von der Hand Franz Kafkas aus der Nähe zu betrachten. Die Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne bildet den Abschluss einer Erwerbungsgeschichte, die es an Tempo und Spannung mit einem kleinen Krimi aufnehmen kann. Um sie der Reihe nach zu erzählen, muss man anderthalb Jahre zurückgehen.
Damals kam den Archivaren der Bodleian Library in Oxford und des Deutschen Literaturarchivs in Marbach erstmals der Wunsch der Erben Ottlas zu Ohren, das Gesamtpaket der Briefe und Karten zu verkaufen. Zu diesem Zeitpunkt lag das Konvolut bereits seit Jahrzehnten als Depositum in Oxford. Aber weder Oxford noch Marbach sahen sich in der Lage, den von den Erben genannten Preis aufzubringen – obwohl dieser, gemessen an den für Kafka-Briefe mittlerweile üblichen Kunstmarktpreisen, durchaus als maßvoll zu bezeichnen war. Beide Archive ließen nichts unversucht, um die entsprechenden Mittel einzuwerben, und beide mussten am Ende das Scheitern ihrer Bemühungen eingestehen. Für die Marbacher hatte sich die Sache dadurch wider Erwarten kompliziert, dass der Jerusalemer Prozess um das Erbe Max Brods und die Pressekampagne, die ihn begleitete, mögliche Geldgeber in Deutschland kopfscheu gemacht hatten. Die Gefahr, mit der Unterstützung einer Kafka-Erwerbung durch ein deutsches Archiv in die negativen Schlagzeilen der Weltpresse zu geraten, schien zu akut.
Als im Januar dieses Jahres die Berliner Autographenhandlung Stargardt die Briefe Kafkas an Ottla zur Versteigerung am 19. April 2011 anbot, schrillten die Alarmglocken: Musste man jetzt nicht damit rechnen, dass das Ensemble der Briefe, das nach dem Willen der Erben nicht zerrissen werden sollte, bei einem Weiterverkauf doch noch das Schicksal der Verstreuung erleiden würde? Wer garantierte dafür, dass nicht die Briefe an Ottla, wie bereits vor Jahren Kafkas Briefe an Felice Bauer, auf Nimmerwiedersehen aus der Öffentlichkeit verschwinden würden? Alles schien denkbar, und die deutsche Presse wurde nicht müde, die drohenden Gefahren auszumalen und Marbach der Untätigkeit zu zeihen. Eine Reihe prominenter deutscher Wissenschaftler und Autoren rief in einem offenen Brief dazu auf, die Briefe der Forschung und der Öffentlichkeit zu erhalten. Und das Wunder geschah, es meldeten sich die ersten Unterstützer und Mäzene.
In dieser Situation kam es für Marbach, seine „klassischen“ Zuwendungsgeber Bund und Land sowie für die Kulturstiftung der Länder, die sich dankenswerterweise des Falles angenommen hatte, darauf an, zwei Dinge in Erfahrung zu bringen. Erstens: Zu welchem Preis würden die Erben einem Verkauf vor der Auktion am 19. April zustimmen? Zweitens: Wäre auch das Haus Stargardt für einen solchen Vorgriff zu gewinnen – und unter welchen Bedingungen? Nachdem beide Fragen positiv beantwortet waren, wandte sich Marbach an Oxford. Die Kollegen, die den Schatz jahrzehntelang treu gehütet hatten, sollten jetzt den Vortritt haben – gesetzt, sie konnten zu den neuen Konditionen, die sich gegenüber denen des Vorjahrs neuerlich erschwert hatten, zugreifen. Und plötzlich, im Gespräch mit Oxford, tauchte ein ungewöhnlicher und aufregender Gedanke auf: Wie wäre es, wenn wir zusammengingen? Wenn wir nicht alternativ und in Konkurrenz miteinander ins Erwerbungsgeschäft träten, sondern einträchtig und mit der Perspektive geteilter künftiger Verantwortung für Bewahrung, Erforschung und Ausstellung des Schatzes?
Um die Geschichte an dieser Stelle abzukürzen: Von der Entscheidung zusammenzugehen und das Kafka-Konvolut künftig in „co-ownership“ zu besitzen bis zur Ausfertigung sämtlicher notwendigen Verträge (zwischen Marbach, Oxford, Stargardt und den Erben) verging nicht mehr als eine Woche: eine grandiose Leistung, deren „unsung heroes“ an dieser Stelle herzlich zu danken ist. Am 4. April, zwei Wochen vor der angekündigten Versteigerung, konnte auf einer Pressekonferenz in den Räumen der Kulturstiftung der Länder das fantastische Ergebnis mitgeteilt werden: Erstmals in der Geschichte der literarischen und kulturellen Archive gehen die führenden Institutionen zweier europäischer Länder zusammen und erwerben gemeinsam die Papiere eines Autors, der zum Welterbe der literarischen Überlieferung gehört. Angesichts der sich beständig weiter öffnenden Schere zwischen den Ankaufsetats der Institutionen und den Preisen auf dem Kunst- und Autographenmarkt dürfte diesem Zusammengehen Modellqualität zukommen.
Zumal es nicht bei der gemeinsamen Erwerbung bleiben soll: Von Anfang an war es beschlossene Sache, dass die Briefe Kafkas an Ottla so rasch wie möglich der Öffentlichkeit präsentiert werden sollten. Keine zwei Monate nach der Erwerbung konnte die Ausstellung in Marbach eröffnet werden; im September wird sie nach Oxford wandern und von Oktober an dort gezeigt werden. Beide Archive, schon seit langem die beiden wichtigsten Sammelstellen von Kafka-Manuskripten und -Briefen weltweit, werden eine gemeinsame Homepage zu Kafka einrichten und die Forschung zu Kafka durch gemeinsame Stipendienprogramme und Tagungen fördern. Darüber hinaus laufen Vorbereitungen für eine gemeinsame Ausstellung zur Literatur des Ersten Weltkriegs, die wiederum zuerst in Marbach (Herbst 2013) und später in Oxford (Frühjahr 2014) zu sehen sein wird.
Zum Schluss noch ein besonderer Clou: Aus Freude über den auch in ihren Augen wunderbaren Ausgang einer spannenden Erwerbungsgeschichte spendeten die Erben Ottlas weitere insgesamt 35 Briefe an Ottla: 22 davon stammen von der Mutter, Julie Kafka, und richten sich an ihre Kinder Franz und Ottla; drei Briefe schrieb Dora Diamant, Kafkas letzte Geliebte, an dessen Schwester; und neun Briefe stammen von Robert Klopstock, Kafkas Freund und Arzt in seiner letzten Lebenszeit. Alle diese Briefe waren bisher unveröffentlicht und nur wenigen Forschern bekannt. Jetzt gehören sie der literarischen Öffentlichkeit und sind noch bis zum 11. September in Marbach, danach in Oxford, zu sehen.