Startkapital für alle Sinne

„Was man nicht kennt, danach sehnt man sich nicht“, sagte der ungarische Komponist und Musikpädagoge Zoltán Kodaly in den zwanziger Jahren. Er meinte damit die Musik, er rührte an die Defizite musikalischer Bildung in Ungarn und löste eine beispielhafte Bewegung in seinem Land aus, die bis heute nachwirkt und ungarische Kinder bereits im Vorschulalter mit Musik vertraut macht. Was für die Musik gilt, trifft aber ebenso für die Literatur, die bildende Kunst, Theater und Tanz, und für neuere Kunstformen wie Film und Medienkunst zu.

Nun scheint es, dass Kodalys Bekenntnis zur Bildung mit und durch Musik und Kunst gegenwärtig Beherzigung findet: Kinder und Jugendliche sind in den letzten Jahren zunehmend Gegenstand des Interesses von Kultureinrichtungen aller Sparten: Orchester gehen Patenschaften mit Schulen ein, Museen bieten ihre pädagogischen Angebote in Ganztagsschulen an, feste Partnerschaften zu Schulen sind für viele Theater bereits dauerhaft im Programm. Ein Grund dafür mag die Erkenntnis sein, dass es im Publikum an Nachwuchs mangelt – mit langfristig drohenden Folgen für die Kultureinrichtungen. Aber das notwendige Engagement in Sachen Vermittlung ist mehr als nur eine Herausforderung an die Kreativität pfiffiger Kulturmarketingstrategen. Denn Kinder sind nicht nur das konsumierende „Kulturpublikum von morgen“. Kinder sind auch das Publikum von heute. Sie nehmen hier und jetzt kulturelle Angebote wahr – und bezahlen dafür. Und wir, die wir von der Wichtigkeit künstlerischen Schaffens, von der Botschaft der Kunst überzeugt sind und uns für unser kulturelles Erbe verantwortlich fühlen, müssen uns überlegen, wie das – kleine – Publikum von heute zum – großen – Publikum von morgen wird. Kinder und Jugendliche werden als Erwachsene nur dann kulturelle Angebote in aller Vielfalt wahrnehmen, wenn sie diese bereits in frühen Jahren als selbstverständlichen Teil ihrer Lebenswelt schätzen gelernt haben und nicht mehr missen möchten. Aber um beispielsweise zu einem begeisterten Theatergänger von morgen zu werden, bedarf es durchaus mehr als den einmal im Jahr erfolgenden obligatorischen Besuch des Weihnachtsmärchens im städtischen Theater – so prägend solche Inszenierungen für das einzelne Kind sein mögen. Kultur vermittelt sich jedoch nicht von selbst – dafür sind die Formen und Zusammenhänge, die sich in der Kunst zum Teil in Jahrhunderten entwickelt haben, zu komplex. Kinder müssen Kultur trainieren und auf der spannenden Entdeckungsreise zu Kunst und Kultur an die Hand genommen werden. Wem bereits als Kind die Möglichkeit gegeben wurde, die Sprache der Kunst zu entschlüsseln, der wird sein ganzes Leben lang durch die Künste immer wieder neue Welten entdecken und seine eigene Kreativität und Phantasie entwickeln. Und einem solchermaßen geschulten, unabhängigen Geist wird es leichter fallen, sich mit sozialen und politischen Gegebenheiten reflektierend und kritisch auseinanderzusetzen.
Kulturvermittlung ist in unserer Gesellschaft auf verschiedene Schultern verteilt. Verantwortlich sind zunächst einmal die Eltern gemeinsam mit Kindergarten und Schule. Natürlich werden nicht nur kulturelle Bildung, sondern ganze Wissenskodizes an Kinder und Jugendliche weitergegeben, in denen aber Musik und bildende Kunst, Theater und Literatur in der Regel nur eine Randposition einnehmen. Dies ist die Folge von seit inzwischen fast zwei Generationen mangelnder Einsicht in die Notwendigkeit kultureller Bildung – übrigens nicht zuletzt auch bei Bildungspolitikern. Kompetenzerwerb in Sprachen und Naturwissenschaften steht für die meisten Eltern, Erzieher und Lehrer nach wie vor an oberster Stelle. Und dies, obwohl inzwischen gerade aus den Naturwissenschaften, aus der Entwicklungsphysiologie und Hirnforschung auf den entscheidenden Impuls auf die Entwicklung von Kinder und Jugendlichen hingewiesen wird, der vom kreativen Umgang mit den Künsten ausgeht.

Wuppertaler Grund- und Hauptschüler gemeinsam im künstlerischen Einsatz. Impulsgeber und künstlerischer Pate ist das Kulturzentrum „die börse“. Preisträger im Wettbewerb 2006/2007

Verantwortlich für die Vermittlung von ästhetischer Bildung sind aber auch die Künstler und die Kultureinrichtungen! Und wer könnte Kunst besser, kompetenter, authentischer vermitteln als die Künstler selbst? In Deutschland mangelt es nicht an hochklassigen und vielfältigen Kultureinrichtungen in allen Sparten und Regionen: berühmte Orchester und Theater, hervorragende Opernhäuser, weltbekannte Museen, Bibliotheken – allesamt mit „Bildungsauftrag“. Die Einrichtungen der kulturellen Bildung, z. B. Musikschulen und Jugendkunstschulen, leisten seit langem bereits einen wichtigen Beitrag zur Kulturvermittlung außerhalb der Schule. Deren Angebote in ganz Deutschland erreichen schon heute Tausende Kinder und Jugendliche, wenn sie denn den Weg dorthin finden.

Bei all denen, die heute künstlerisch tätig sind und die für die Kultur verantwortlich sind, wächst das Bewusstsein für ihren Bildungsauftrag – nicht nur ausgelöst durch die Sorge um leere Häuser und zurückgehende Einnahmen. Hier muss noch viel mehr passieren, will man den kulturellen Reichtum Deutschlands auf Dauer bewahren.

Die Umsetzung und Ausgestaltung dieses Bildungsauftrags in den Kultureinrichtungen hat aber nur dann eine wirkliche Chance, wenn das Thema Vermittlung zur sogenannten Chefsache wird. Nichts gegen die tüchtigen Pädagogen mit ihren Angeboten – Rückenwind bekommt das Schiff, wenn die Pädagogen durch die Leitung der Institution tatkräftige Unterstützung erhalten, wenn sich ein Intendant, ein Museumsdirektor, ein Generalmusikdirektor der Sache ernsthaft annimmt, sie in überzeugender Weise zu seiner eigenen macht und sie auch gegenüber den Geldgebern in Politik und Verwaltung nachdrücklich vertritt.

Dafür gibt es einige hervorragende Beispiele – so die Junge Oper in Stuttgart unter Klaus Zehelein oder die Berliner Philharmoniker und Sir Simon Rattle –, aber auch kleinere Häuser wie etwa in Aachen zeigen, wie es gehen könnte. Dabei muss sich das Vermittlungsangebot der Kultur in der Zukunft an eine denkbar breite Zielgruppe wenden. Natürliche und wichtige Partner sind Kindergärten. Dort sind alle Kinder anzutreffen – übrigens auch mit ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergründen.

Für die Zukunft – und hier bietet die Ganztagsschule eine besondere Chance – werden langfristige integrative Modelle gebraucht, bei denen sich Künstler und Kultureinrichtungen, Lehrer und Eltern in der Verwirklichung kultureller Bildung gegenseitig unterstützen. Dabei muss die kulturelle Bildung in den Schulalltag eingebettet sein – und zwar nicht als eine Randerscheinung, sondern als unverzichtbarer Teil des Unterrichts wie alle anderen Unterrichtsangebote.

Hier genau setzt die Jugendinitiative KINDER ZUM OLYMP! der Kulturstiftung der Länder an, die im Herbst 2003 mit dem Ziel ins Leben gerufen wurde, Kinder, Jugendliche und Kultur in einen aktiven und innovativen Kontakt zu bringen. Die Initiative legt ihren Schwerpunkt auf die enge Vernetzung von Kunst, Kultur und Schule. KINDER ZUM OLYMP! steht für den kreativen und rezeptiven Aspekt von kultureller Bildung. Kinder und Jugendliche sollen in ihrer Phantasie und Kreativität gefördert werden und lernen, Kunst und Kultur in ihren unterschiedlichen Äußerungsformen wahrzunehmen und wertzuschätzen. Dies geschieht in besonderem Maße durch den Wettbewerb „Schulen kooperieren mit Kultur“, den die Kulturstiftung der Länder seit 2004 mit Unterstützung der Deutsche Bank Stiftung auslobt. Die zahlreichen bereits im Rahmen dieses Wettbewerbs entstandenen ambitionierten Projekte zeigen in beeindruckender Vielfalt, wie eine lebendige Zusammenarbeit zwischen Kultur und Schule im Sinne einer ästhetischen Bildung für alle aussehen kann.

Dass ästhetische Bildung von nachhaltig positiver Wirkung auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung sein kann, erkannte 1795 allerdings auch schon Friedrich Schiller, als er in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ feststellte: „Es gibt keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch macht.“