Schreiben für die Ewigkeit
Was soll, was darf die Nachwelt aus meinem Nachlass über mich, meine Arbeit und mein Privatleben erfahren können? Diese knifflige Fragestellung – lieber Leser, erproben Sie sie einmal im Selbstversuch! – steht im Raum, wenn der Archivar mit dem Künstler spricht. Verhandelt man mit Hinterbliebenen, macht deren besondere Beziehung zum Verstorbenen die Situation nicht einfacher. Der Archivar interessiert sich zunächst für: „alles“. So zumindest beantwortet er die am häufigsten gestellte Frage, welche Materialien denn für das Archiv wichtig seien. Auch eine kleine Kritzelei, eine Karteikarte, sogar eine Rechnung kann aufschlussreich sein. Was dann tatsächlich ins Archiv kommt, ist das Resultat eines längeren Auswahlprozesses. Auch dem ersten Erwerbungsgespräch geht eine Auswahl voraus – und zwar auf beiden Seiten. Das informelle Netzwerk zwischen Künstlern bzw. deren Angehörigen funktioniert gut; welche Erfahrungen andere mit dem jeweiligen Archiv gemacht haben, ist für die Geber ein wichtiges Entscheidungskriterium. So werden an die Akademie der Künste – meist indirekt – viele Angebote aufgrund von Empfehlungen anderer Archivgeber herangetragen. Aber auch der Archivar überlegt vorab, was an künstlerischer Qualität oder archivarischer Aussagekraft – ein weniger bedeutender Autor kann durchaus herausragende Briefwechsel führen – zu den eigenen Sammelschwerpunkten passt. Die Institution investiert ja viel Arbeitszeit und Geld für die Verzeichnung und das Zugänglich-Machen dessen, was sie „auf Zeit und Ewigkeit“ übernimmt. Natürlich hat der Archivar die „Bedeutenden“ im Blick, die auch andere Archive reizen könnten. Aus der Rezeptionsgeschichte kennt er die jähen Abstürze und unvorhergesehenen Aufstiege, die einen Künstler post mortem ereilen können. So wird er ein besonderes Vergnügen daran finden, Archive zu gewinnen, an die die anderen nicht denken würden. Natürlich gibt es zwischen Archiven Konkurrenz, doch kann sich eine etablierte Einrichtung Gelassenheit gönnen: Hauptsache, die Bestände sind in einem der öffentlichen Archive gut aufgearbeitet zugänglich.
Grundanliegen eines Personenarchivs ist es, den kreativen Prozess der Werkgenese sowie Biographie und sozialen Kontext des Autors so erschöpfend wie möglich aufzeigen zu können. Dieses erfordert größere Mengen an Dokumenten, deren äußere Attraktivität, etwa im Gegensatz zum glanzvollen Museumsstück, begrenzt ist. Um so wichtiger und erfreulicher ist es, dass die Kulturstiftung der Länder auch die Erwerbung solch großer Papierbestände unterstützt, die bei Brecht die Zahl von einer Million Dokumente erreichen oder beim Autor und Lebensgeschichten-Sammler Walter Kempowski 615 laufende Regalmeter füllen können. Schlimm ist für den Archivar die Zerstörung von Überlieferungszusammenhängen, wenn etwa Auktionen zusammengehörige Manuskriptbestände oder Briefschaften an einzelne Meistbietende zerstreuen. Da die finanziellen Mittel nicht für alles Erhaltenswerte ausreichen, werden auf diese Weise wichtige kulturgeschichtliche Zusammenhänge zerstört, die Archive bewahren könnten. Nach Erwerbung und sachgerechter Verwahrung ist die Erschließung der Bestände und die Veröffentlichung der Findmittel, heutzutage im Internet, unsere vornehmste Pflicht. Einer digitalen Veröffentlichung der Inhalte steht hingegen häufig das Urheberrecht entgegen, das die materielle Versorgung der Künstler schützt. Nach Erledigung der Pflichten, zu denen ebenso die Vermittlung von Forschungsinhalten an Wissenschaftler und Editoren zählt, widmen wir uns gerne auch der Kür. Nicht nur indirekt über die im Lesesaal arbeitenden Forscher, sondern auch aktiv durch eigene Publikationen, Veranstaltungen und Ausstellungen vermag das Archiv das scheinbar Vergangene einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen zu führen. Die Vergegenwärtigung von Kunst, Künstlern und Kulturgeschichte prägt und bereichert unsere kulturelle Identität.