„To remove the work is to destroy the work“, proklamiert Richard Serra (1938–2024) als Reaktion auf die Entfernung seiner monumentalen Stahlskulptur „Tilted Arc“ von der Federal Plaza in Manhattan 1981. Seine Aussage kann bis heute als Diktum der ortsspezifischen Installationskunst gelesen werden. In Abkehr von der autonomen Skulptur im Sinne des Modernismus, die sinnbildlich und meistens auch wortwörtlich auf einem Sockel und ganz für sich selbst steht, nehmen Künstlerinnen und Künstler seit den 1960er-Jahren den Raum ein, beziehen sich auf ihn oder gestalten ihn neu. Wahrnehmung und Bewegung der Betrachtenden werden selbst Teil des Kunstwerks. Vorläufer der Installation, noch bevor es den Begriff überhaupt gab, lassen sich zahlreich bei den historischen Avantgarden finden, strebten sie doch nach der Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Leben. Man denke an Kurt Schwitters’ (1887–1948) „Merzbau“, jenes wuchernde, über Jahre geschaffene Gesamtkunstwerk, das letztlich die Wohnung des Dada-Künstlers in Hannover vollständig einnehmen sollte. Dass der Entstehungsort eines Kunstwerks nicht getrennt sein dürfe von dem Ort seiner Rezeption, fordert 1979 der französische Konzeptkünstler Daniel Buren (*1938) in seinem viel zitierten Essay „The Function of the Studio“. Buren ist es auch, der den Begriff „in situ“ für den zeitgenössischen Kunstdiskurs populär macht. Ebenso wie beim englischsprachigen „site-specific“ ist hier etymologisch nicht nur der Ort, sondern auch die spezifische Situation, das Hier und Jetzt gemeint. Ein Umstand, dem das deutschsprachige Attribut „ortsspezifisch“ nicht ganz gerecht werden kann.
Burens Arbeit „Plan contre-plan“ (Plan – Gegenplan) aus dem Jahr 1982 ist eines von rund 70 auf den Ort bezogenen Werken und temporären Projekten, die nun in der von der Kulturstiftung der Länder geförderten Ausstellung „Teilweise möbliert, exzellente Aussicht“ wiederbelebt werden, wenn auch in diesem Fall nur in dokumentarischer Form. Wie der augenzwinkernde Titel schon nahelegt, waren die Häuser Lange und Esters nordöstlich der Krefelder Innenstadt unweit des Stadtwaldes einst Wohnorte: Kein Geringerer als der Bauhaus-Architekt Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969) erbaute die beiden Villen Ende der 1920er-Jahre. Seine Auftraggeber: der Textilfabrikant und Kunstsammler Hermann Lange (1874–1942) und dessen Freund und Geschäftspartner Josef Esters (1884–1966), Gründer der Verseidag AG und damit wie Lange Protagonist der in Krefeld florierenden Seidenindustrie. Daniel Buren arbeitet hier direkt mit den Grundrissen der Häuser: Er „pflanzt“ den Bauplan von Haus Lange in Haus Esters ein und verbaut zu diesem Zweck rahmenartige Versatzstücke im Innen- und Außenraum, die mit Stoffbahnen bespannt sind. Die Überlagerung der Raumstrukturen macht die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede der „zweieiigen Zwillinge“ sichtbar.
Die Bezugnahme auf den Ort, sei es der physische Raum oder das Museum als Institution, mag heute als selbstverständliche Praxis zeitgenössischer Kunst gelten, ist in den 1960er-Jahren jedoch revolutionär. So ist es in Krefeld besonders die Tatsache, dass es sich um Wohnhäuser, nicht um klassische Museums- oder Galerieräume in der typischen Ästhetik des „White Cube“, dem vermeintlich neutralen Gefäß der autonomen Kunst, handelt, die Künstlerinnen und Künstler anzieht. „Damals waren das noch ‚andere Räume‘, heute werden die ikonischen Häuser des Neuen Bauens als Klassiker wahrgenommen“, erklärt Sylvia Martin, Kuratorin der Ausstellung. 1955 überträgt Ulrich Lange, der Sohn Hermann Langes, der Stadt Krefeld das Haus seiner Eltern zunächst für zehn Jahre zur Nutzung. Dabei erweist er sich als dem künstlerischen Fortschritt verpflichtet – ganz wie der Vater, hat sich Hermann Lange doch schon in den 1920er-Jahren u. a. als Förderer und Sammler der historischen Avantgarden einen Namen gemacht. Die Kunst der Moderne (die damals freilich noch die Gegenwart miteinschließt) soll für die nächsten einhundert Jahre in der Villa gezeigt werden, lautet schließlich die Maßgabe bei der offiziellen Schenkung an die Stadt 1968. In Paul Wember (1913–1987), Direktor des Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museums, findet Ulrich Lange einen begeisterten Mitstreiter.
Wember setzt sich bereits in den frühen 1950er-Jahren, auch gegen zahlreiche Widerstände, dafür ein, die Moderne zu sammeln und auszustellen. „Museen sind immer revisionsbedürftig“, gibt er in einem Interview zu Protokoll, ein Museum müsse ein „hyperaktives Aufklärungsinstitut“ sein. Wember, der ursprünglich zur westfälischen Stein- und Holzplastik des 13. Jahrhunderts promoviert hat, bringt in der Nachkriegszeit die 200.000-Einwohner-Stadt am Niederrhein auf die Karte der internationalen Kunstszene. „Die heimliche Hauptstadt der Avantgarde“ titelt die Frankfurter Rundschau 1969. Nicht unerwähnt bleiben soll hier die Vorleistung Hermann Langes, hat er doch schon in den 1920er-Jahren durch gezieltes Sammeln, Netzwerke nach Berlin und geschickte Einflussnahme auf die Verantwortlichen des Kaiser-Wilhelm-Museums das Seinige getan, um die aktuelle Kunst nach Krefeld zu holen. Haus Lange wird unter Wember zum Laboratorium, zum Aushandlungsort zeitgenössischen Kunstgeschehens und seiner Rezeption. Mit dem richtigen Gespür und unerschütterlichem Einsatz für die Gegenwart kauft der Museumsdirektor zu günstigen Preisen Arbeiten von jungen Künstlern an, darunter Yves Klein, Jean Tinguely, Christo, Gerhard Richter, Hans Haacke. „Mit 500 Mark können Sie ebensoviel kaufen wie für 50 000 Mark. Es kommt auf den Zeitpunkt an“, erläutert Wember 1967 seine Sammlungsstrategie in der ZEIT. Bereits 1961 konzipiert Yves Klein (1928–1962) die Ausstellung „Monochrome und Feuer“ eigens für Haus Lange. Eine Gliederung in Farbzonen schafft ein immersives Kunsterlebnis; der völlig leere, weiß gestrichene Raum „Le Vide“ ist bis heute erhalten geblieben. Es soll die einzige museale Schau zu Lebzeiten des jung verstorbenen Künstlers bleiben. 1965 gibt es dann in Krefeld die erste Marcel-Duchamp-Retrospektive in Deutschland zu sehen. Die epochenprägende Gruppenschau „When Attitudes Become Form“ des Schweizer Kurators und späteren Leiters der documenta 5 Harald Szeemann (1933–2005) in der Kunsthalle Bern gastiert 1969 in Haus Lange. Die Ausstellung macht international Furore und setzt Maßstäbe für das Kuratieren. Die Auflösung der Form und die Entstehung der künstlerischen Arbeit – in situ im Museum – stehen im Mittelpunkt. Der britische Land-Art-Künstler Richard Long (*1945) gestaltet in diesem Zuge im Garten von Haus Lange u. a. einen aus Erde aufgeschütteten Ring. Die Arbeit findet 1979 in dem für die kunsttheoretische Erschließung der noch jungen Gattung der Installation einflussreichen Text „Sculpture in the Expanded Field“ von Rosalind Krauss (*1941), eine der bedeutendsten Kunstkritikerinnen des 20. Jahrhunderts, Erwähnung. Es sind viele Meilensteine der Nachkriegskunst in Krefeld.
Das Museum als Institution wird ab den späten 1960er-Jahren selbst Gegenstand der Kunst. Künstlerinnen und Künstler hinterfragen seine sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen. Die sogenannte Institutionskritik, der auch Hans Haacke (*1936) zuzuordnen ist, macht sichtbar, wie Museen die bestehenden Machtverhältnisse reproduzieren. 1972 erhebt Haacke in Haus Lange per Fragebogen Besucherprofile und stellt diese aus. Sie legen offen, welche Gesellschaftsschichten sich überhaupt zeitgenössische Kunst anschauen.
Ein parallel zu „Teilweise möbliert, exzellente Aussicht“ entstandenes Handbuch kontextualisiert erstmals all diese Arbeiten unter dem Aspekt der Ortsspezifik. In der Gesamtschau wird auch die stringente Sammlungsstrategie deutlich: Immerhin 60 von 70 in der Ausstellung zusammengebrachten Kunstwerken bzw. mittels Archivmaterial dokumentarisch aufbereiteten temporären Projekten sind Teil der Sammlung der Kunstmuseen Krefeld, unter deren Dach heute das Kaiser-Wilhelm-Museum sowie Haus Lange und Haus Esters zusammengefasst sind.
Aber nur zurückzuschauen wäre zu wenig: Mit der neuen Arbeit des Raumkünstlers Gregor Schneider (*1969) in Haus Esters ist den Kunstmuseen Krefeld vermutlich ein weiterer denkwürdiger Coup gelungen. Schneider baut Räume, verschließt Räume, verdoppelt Räume, verbaut Räume bis ins Unkenntliche und baut sie schließlich ganz woanders wieder auf. 2001 transferierte er Teile des ursprünglich zum Familienbesitz gehörenden Hauses in Mönchengladbach-Rheydt, das „Haus u r“, das er seit 1985 kontinuierlich bearbeitet, in den Deutschen Pavillon der Biennale in Venedig. Er wurde für das dort als „Totes Haus u r“ betitelte Werk mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. In den Krefelder Kunstmuseen hat er in den letzten drei Jahrzehnten mehrfach ausgestellt. Ein Stück „Haus u r“ steckt sowieso schon in Haus Lange: 1994 hatte Schneider ein Wandelement aus dem Rheydter Gesamtkunstwerk gegen eines im Obergeschoss der Villa Lange ausgetauscht, was wohlkaschiert und mit Wandfarbe überstrichen selbst im Museum in Vergessenheit geriet und erst kürzlich bei den Vorbereitungen zu „Teilweise möbliert, exzellente Aussicht“ wieder zum Vorschein gekommen ist.
Teilweise möbliert, exzellente Aussicht
Kunstmuseen Krefeld – Haus Lange
Wilhelmhofallee 91–97, 47800 Krefeld
bis 21.9.2025