Die Museumssammlung, so sollte man meinen, zeigt nicht nur Kulturgüter vergangener Epochen, sondern spiegelt auch die Haltung des Museums wider. Symbolisch, inhaltlich und ganz praktisch macht die Sammlung das Museum aus, ermöglicht fundierte Forschung und bildet die Grundlage für Ausstellungen.
Museen verstehen sich aber längst nicht mehr nur als Orte, in denen Kunst oder kulturelle Objekte aufbewahrt und ausgestellt werden. Es geht um eine veränderte Haltung und Rolle von Museen, die zunehmend als Plattform gesellschaftlicher Aushandlung und Begegnungsort gesehen werden oder auch gesehen werden wollen. Also müssen sie Antworten darauf finden, wie Museen zum Beispiel der Diversität der Gesellschaft gerecht werden – wie sie wirklich von allen gestaltet, für alle heute bedeutsam werden. Die Reflexion über die eigene Sammlung – etwa Versäumnisse und Repräsentationslücken zu identifizieren und den Mut zu finden und die eigenen Fähigkeiten zu erweitern, mit einer Vision wirklich neue Wege zu gehen – ist oft noch zu zaghaft.
Um zu erfahren, wie es derzeit in der Sammlungspraxis aussieht und wo es in Zukunft hingehen kann, hat Arsprototo mit drei Vertreter:innen aus der Museumswelt gesprochen.
Was kommt ins Museum, wie und warum? Welche Rolle spielen Museen heute? Um diese Fragen kreist das Gespräch mit den Museumsdirektor:innen Regina Selter (Museum Ostwall im Dortmunder U), Thomas Köhler (Berlinische Galerie) und Thomas Bauer-Friedrich (Kunstmuseum Moritzburg Halle/Saale). Die Fragen stellte die Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Beatrice Fischer-Miersch
Hören Sie die Langversion des Interviews im Podcast der Kulturstiftung der Länder.
Arsprototo: Herr Bauer-Friedrich, was macht Ihre Sammlung im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) aus?
Thomas Bauer-Friedrich (TBF), Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale): Wir sind eine über bald 150 Jahre gewachsene Sammlung, die wirklich sehr breit gefächert ist: von der Antike bis in die Gegenwart, von der angewandten Kunst bis hin zu den klassischen künstlerischen Themen. Trotz dieses breiten Spektrums und dieser langen zeitlichen Spanne gibt es viele Lücken in unserer Sammlung. Uns geht es vor allen Dingen immer wieder darum: Welche Lücken wollen wir schließen, welche müssen wir schließen, welche können wir verkraften? Dabei zählen die Verfügbarkeit von Werken und natürlich finanzielle Aspekte. Was in jüngster Zeit hinzukommt, ist die Frage: Gibt es Themen, die aufgrund eines zeitbedingten Fokus in der Vergangenheit einfach nicht im Visier der Verantwortlichen waren – die wir aber für so wichtig halten, dass sie ins Museum gehören?
Frau Selter, wie sieht Ihr Sammeln im Museum Ostwall im Dortmunder U aus?
Regina Selter (RS), Museum Ostwall: Wir recherchieren ebenso: Wie stellt sich unsere Sammlung zusammen? Dabei kommen wir – wie die meisten Sammlungen – zu dem Ergebnis, dass sie sehr weiß, sehr männlich, sehr westlich und maximal noch nordamerikanisch ausgerichtet ist. Wie können wir sie nun erweitern? Das ist die zentrale Frage. Gleichzeitig soll sie natürlich auch zugänglich für die Stadtgesellschaft sein – und nicht einfach eine Erweiterung, sondern auch mit unserem Leitgedanken verbunden sein: die Verschränkung von Kunst und Leben. Wir ließen uns dafür von der Fluxus-Bewegung in den 1960er-Jahren inspirieren, von der wir auch einen großen Bestand in der Sammlung haben mit Kunstwerken, Dokumenten, Relikten. Der zweite Schwerpunkt liegt im Expressionismus mit der Sammlung Gröppel. Sie bildet den Grundstein. Der Bochumer Industrielle Karl Gröppel bot 1956 seine expressionistische Sammlung zum Verkauf an. Zum Glück ist es Leonie Reygers, unserer Gründungsdirektorin, gelungen, ein privates Darlehen für die Stadt Dortmund zu erhalten, sodass nun die rund 300 Werke in unserer Sammlung sind. Heute erweitern wir unseren zeitgenössischen Bereich durch Medienkunst, Fotografie, Installation. Bis 2009 waren wir als eigenständiges Museum am Ostwall beheimatet, seit 2010 sind wir im Dortmunder U – ein Kunst- und Kulturhaus mit vielen unterschiedlichen Institutionen neben Angeboten, die einen dauerhaften Dialog mit den Menschen schaffen sollen. Denn wir merken: Unser Publikum und damit sein Interesse verändern sich, und auch unser Wissen wächst!
Herr Köhler, Ihre Sammlung der Berlinischen Galerie wird im Rahmen des 50. Geburtstages neu gezeigt – auch in Verbindung mit Objekten aus dem Stadtmuseum. Wie schauen Sie auf Ihre Sammlung?
Thomas Köhler (TK), Berlinische Galerie: Die Auseinandersetzung mit dem Thema Sammlung ist für mich immer retrospektiv: Erst mal schauen, was man überhaupt hat. Schließlich ist das im Falle der wilden Gründung der Berlinischen Galerie nicht uninteressant! Meine beiden Vorgänger haben durch Anschaffungen, aber auch durch Geschenke, durch unterschiedliche Bestände erst mal Tatsachen schaffen müssen, weil die Berlinische Galerie immer auch ein wenig davon bedroht war, vielleicht aufgelöst zu werden. Heute bedeutet das für uns einerseits, bei unserer Arbeit das Depot im Blick zu haben, also die Sammlung als Ressource. Zum anderen versuchen wir natürlich, die zeitgenössische Szene in Berlin durch Ankäufe wenigstens ausschnitthaft abzubilden. Die Berlinische Galerie unternimmt zudem seit Jahren Anstrengungen, um ein möglichst barrierefreies Museum zu werden – übrigens seinerzeit als erstes Kunstmuseum in Deutschland für ihre Dauerausstellung. In enger Kooperation mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) haben wir von 2015 bis 2017 in dem Projekt „Kultur mit allen Sinnen“ daran gearbeitet, die Sammlungspräsentation „Kunst in Berlin 1880–1980“ mit Tastmedien, Boden-Leitsystem und einer Museums-App auszustatten, um ein inklusives Kunsterlebnis zu schaffen. Einige Kunstwerke, wie etwa Otto Möllers Bild „Straßenlärm“ (1920) oder das Gemälde von Werner Heldt „Die Tür“ aus dem Jahr 1946 sind als Tastreliefs umgesetzt worden. Dabei werden Umrisse oder sogar Farben in unterschiedlichen Oberflächen und Materialien ertastbar.
Frau Selter, Sie hatten als damalige Doppelspitze des Museums zusammen mit ihrer Co-Direktorin Florence Thurmes die Idee, ein Projekt bei der Kulturstiftung der Länder einzureichen. Was hat Sie motiviert – persönlich sowie institutionell? Können Sie uns auch einen kleinen Einblick in die Zusammenarbeit mit dem Bürger:innen-Beirat geben?
RS: Wir haben uns sehr über das Förderprogramm „Neues Sammeln“ der Kulturstiftung der Länder im Jahr 2022 gefreut. Es kam zu einem Zeitpunkt, wo wir sehr konkret überlegt haben: Wie können wir peu à peu unsere Sammlung diversifizieren? Wir überarbeiten alle drei Jahre unsere Sammlungspräsentation. Dafür wollten wir schon länger mit „Critical Friends“ zusammenarbeiten – also einer Gruppe von Menschen, die als Experten im jeweiligen Bereich unsere Arbeit begleiten, Feedback geben, sie kritisch hinterfragen und damit entscheidend mitgestalten. Vor diesem Hintergrund kam unsere Sammlungsleiterin Nicole Grothe auf die Idee, einen Beirat aus Menschen aus der Stadtgesellschaft einzurichten, der keine explizite Kunstexpertise mitbringen muss – nur ein Interesse an Kunst und Kultur. Wir diskutierten im Museumsteam viel über seine Zusammensetzung: In welcher Größe, woher, wie bewerben wir ihn? Wir haben schließlich verschiedenste Communitys für eine Teilnahme angefragt. Daraus ergab sich eine Gruppe aus acht Personen, die sowohl in Bezug auf Alter, kulturelle Identität als auch berufliche Identifikation möglichst unterschiedlich sein sollte. Dieser sogenannte MO_Beirat (Museum Ostwall-Beirat) trifft sich nun seit dem Jahr 2023 alle zwei Wochen. Das ist ein großes Zeitinvestment, das wir – das war uns sehr wichtig – finanziell kompensieren. Er ist weitestgehend autonom und ruft Informationen bei uns ab. In Zukunft entscheidet der Beirat auch selbst, wer hinzukommt, wenn jemand austritt. In der aktuellen Sammlungspräsentation gibt es für den Beirat einen eigenen Raum, in dem er Ideen und Ergebnisse präsentieren kann. Wir sind für die Kommunikation nach außen zuständig. Unter der Leitung des MO-Beirats konnten in diesem Jahr mit einem Budget von 30.000 Euro Kunstwerke von zwei Künstlerinnen angekauft werden: von Camille Chedda (*1985) und Joséphine Sagna (*1989). Zudem haben wir eine neue dauerhafte Stelle geschaffen, die eng mit dem Beirat zusammenarbeitet. Michael Griff als Kurator für Community Engagement begleitet den gesamten Prozess.
Herr Bauer-Friedrich, Sie haben auch Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit „Critical Friends“ gemacht, richtig? Tauschen Sie sich dazu mit Frau Selter aus?
TBF: Uns hat ein besonderes Wanderausstellungsprojekt miteinander verbunden, das bei uns den Namen trug: „It’s all about collecting … Expressionismus | Museum | Kolonialismus. Die Sammlung Horn zu Gast in Halle (Saale)“ (2024). Dabei haben wir beide unterschiedliche Erfahrungen sammeln können. Die Station bei Frau Selter in Dortmund war die zweite Station dieser Tour in den Jahren 2022/23/24. Die Sammlung Horn aus Schleswig ist an drei verschiedenen Orten – in Davos, in Dortmund und in Halle (Saale) – gezeigt worden. Drei verschiedene Blicke auf dieselbe Sammlung und unterschiedliches Arbeiten mit der Sammlung, die wir in unserem Haus mit der eigenen Geschichte verzahnt haben. An allen drei Orten wurde mit den Museumsteams ebenso wie mit internationalen Berater:innen gearbeitet. Das war für mein Team und mich persönlich ein intensiver Lern- und Erfahrungsprozess: Deutungshoheit abgeben sowie kritische Meinungen von externen Partner:innen mit einbeziehen – trotz des engen Zeitplans. Die Zusammenarbeit mit Externen realisieren wir seitdem immer wieder in einzelnen Projekten und für unsere Vermittlungsarbeit. Für unsere derzeit entstehende neue Dauerausstellung des Landesmünzkabinetts beziehen wir von Anfang an bewusst Jugendliche und junge Erwachsene ein, die hierfür zu unseren definierten Zielgruppen gehören. Wir entscheiden nicht allein, sondern entwickeln Konzepte gemeinsam mit ihnen.
Deutungshoheit abzugeben, mit unterschiedlichen Menschen oder „Critical Friends“ zusammenzuarbeiten und ihr Wissen aktiv einzubeziehen, sind zentrale Ansätze für das Neue Sammeln. Ebenso wie mit anderen Museen oder Kulturinstitutionen zusammenzuarbeiten, dadurch Wissen und vielleicht sogar die eigene Sammlung zu teilen. Wie ist Ihr Blick in der Moritzburg in Halle (Saale) auf die Geschichte Ihres Hauses, auf Kunstwerke aus der NS-Zeit sowie aus der ehemaligen DDR?
TBF: Mir war der Blick auf die Kunst aus diesen Zeiten extrem wichtig, als wir unsere Sammlung 2017/18 komplett neu inszeniert haben. In deutschen Kunstmuseen war es bis dahin noch unüblich, die Kunst aus der DDR-Zeit in Dauerausstellungen als eigenständige Abschnitte der Kunstgeschichte sichtbar zu machen. Wir zeigen die Vielfalt dessen, was in diesen Jahrzehnten jeweils möglich war. Auch die Kunstwerke der NS-Zeit von 1933 bis 1945 wollte ich dauerhaft präsentieren – und zwar nicht nur das Fortwirken der Moderne, sondern auch die ideologisch angepassten Positionen. Wir zeigen NS-Kunst, aber kommentiert und kontextualisiert und fragen uns: Warum haben sich Künstler so verhalten? Was waren ihre Motivationen? Wie sieht diese Kunst überhaupt aus, über die wir sonst nur anhand von Reproduktionen urteilen? Auch bei der Kunst in der ehemaligen DDR zeigen wir die gesamte Bandbreite: von den sogenannten Staatskünstlern bis hin zu oppositionellen oder nonkonformen Positionen. Alles, was in der DDR möglich war – das gehört für uns selbstverständlich dazu! Unsere Sammlungspräsentation ist zudem nicht nach kunsthistorischen Stilbegriffen wie „Expressionismus“ oder „Kubismus“ sortiert, sondern entlang der alles definierenden gesellschaftlichen, historisch–politischen Rahmenbedingungen in Deutschland: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus sowie DDR.
Die Berlinische Galerie ist dafür bekannt, sich auch mit dem Kanon auseinanderzusetzen und ihn zu diversifizieren. Ich denke etwa an die herausragenden Künstlerinnen Hannah Höch (1889–1978) ebenso wie Lotte Laserstein (1898–1993) und Jeanne Mammen (1890–1976). Die Ausstellung „Jeanne Mammen. Die Beobachterin. Eine Retrospektive 1910 – 1975“ (2017/18) war ein großartiger Erfolg. Diese Kunst Berlins – als die Stadt der Hotspot der Kreativität nach dem Ersten Weltkrieg war – sie schlummert in ihrem Depot und könnte vielleicht heute wieder zum Vorbild werden für Berlin. Mit welcher Strategie graben Sie sich durch Ihr Depot, Herr Köhler?
TK: Den Kanon infrage zu stellen, ist eine großartige Aufgabe – und man findet oft mehr, als man erwartet hätte! Ich hatte auch einfach sehr tolle Vorgänger – Eberhard Roters und Jörn Merkert. Die haben schon ziemlich früh Künstlerinnen wiederentdeckt und angekauft, die damals noch gar nicht viel Geld kosteten. So ist das zum Beispiel mit Hannah Höch. Sich mutig und beherzt für Nachlässe von Künstler:innen zu engagieren, war damals ebenso wichtig für das Haus und ist heute leider kaum noch möglich. Aus dieser Ressource können wir heute schöpfen. Eine weitere Idee bei der Gründung der Berlinischen Galerie war, sich für die „verlorene Generation“ einzusetzen – für Künstler:innen, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ins Exil gezwungen oder ermordet worden sind. Das zeigt sich schon an der ersten Erwerbung: Wir haben jetzt aus Anlass des 50. Geburtstags des Hauses mal geguckt, welcher der erste Ankauf war: Was hat die Inventarnummer 00001? Das war eine „Kassandra“ – ein Bild aus den 1950er-Jahren von Werner Scholz (1898–1982), der eine vielversprechende Karriere in den 1920er-Jahren begonnen hatte, aber in den 1930er-Jahren dann ins Exil gegangen ist. An dieser Ausrichtung der Gründungsväter und -mütter der Berlinischen Galerie arbeiten wir heute weiter.
Frau Selter, mit Ihrem Beirat wollen Sie den Ankauf von FLINTA*- und BIPoC-Künstler:innen unterstützen, um die Lücken in der Sammlung des Museums Ostwall weiter zu schließen. Wie offen und divers ist Ihr Museum aktuell?
RS: Wir haben angefangen zu erfassen, wie viele weibliche Positionen bei uns vertreten sind. Wir kommen aktuell auf circa 12 Prozent. Das bedeutet: Auch wenn unser Ankaufsetat für unsere Verhältnisse gut ist, brauchen wir bei dem Ziel einer 50-Prozent-Angleichung natürlich viel Zeit. Aber Diversifizierung geschieht nicht nur über Ankäufe – sondern auch durch Recherche. Unser Sammlungsschwerpunkt liegt im Expressionismus, vor allem bei Künstlern der „Brücke“. Wir haben uns gefragt, wie wir expressionistische Künstlerinnen einbinden oder ankaufen können – mit dem Budget, das uns zur Verfügung steht. Die Preise auf dem Markt sind oft nicht mehr realisierbar für uns. Aber es gibt ja viele – wie schon gesagt wurde – „verlorene Generationen“ an Künstlerinnen. Sei es, dass sie jüdischer Herkunft waren, ausgewandert sind oder durch gesellschaftliche Zwänge nicht weiterarbeiten konnten. Genau diese wiederzuentdecken – das ist unsere Aufgabe. Wir hatten kürzlich eine Ausstellung zu „Künstlerinnen im Expressionismus und Fluxus“ (2024/2025). Dort haben wir -Positionen wie Else Berg (1877–1942), Madame d’Ora (1881–1963), Vally Wiesel-thier (1895–1945) und Charlotte Moorman (1933–1991) gezeigt, bei denen es sich lohnt, sie wiederzuentdecken und die wir mit unserem finanziellen Budget auch in die Sammlung holen könnten. Es gibt in unserer Sammlung noch viele Künstle-rinnen, die wir viel sichtbarer machen wollen.
TBF: Ich möchte den Aspekt der Recherche in den eigenen Beständen, in Archiven und Sammlungen stärken. Oft ist es ja so, dass man gar nicht weiß, was vorhanden ist – einfach weil man eine bestimmte Perspektive nicht hatte oder sie nie systematisch verfolgt hat. „Wo sind die Künstlerinnen in den verschiedenen Jahrhunderten?“, fragten wir uns. Dafür habe ich ganz pragmatisch unsere Datenbank durchforstet und gezielt nach weiblichen Positionen gesucht. Das ist natürlich nicht hundertprozentig repräsentativ, aber es war ein Anfang. Im ersten Schritt war das Ergebnis – wie erwartet – enttäuschend. Es war bei Weitem nicht so viel, wie man sich wünschen würde, und wird erst mehr, je näher man dem 20. Jahrhundert kommt. Wir haben anschließend gezielt qualitativ hochwertige Werke in der Sammlung identifiziert, die völlig zu Unrecht jahrzehntelang unberücksichtigt waren – und seit 2022 Teil unserer Sammlungspräsentation sind. Es ist schön zu sehen, welche positive Macht Museen haben können! Wenn wir Werke sichtbar machen, sie integrieren, online publizieren – dann werden sie auch von außen wahrgenommen. Zum Beispiel bei der Künstlerin Edith Dettmann (1898–1987). Sie war eine der ersten Künstlerinnen, die davon profitierten, dass ab 1919 Frauen das Studium an Kunstakademien in Deutschland erlaubt wurde. Sie studierte in Düsseldorf und wurde eine wichtige -Malerin der neuen Sachlichkeit. In den 1930er/40er-Jahren lebte sie zurückgezogen in ihrer Heimat an der Ostsee. In der DDR hat sie erst am Ende ihres Lebens wieder kreativ gearbeitet und konnte nur bedingt an ihren Erfolg vor 1933 anknüpfen. Genau diese Künstlerin ist nach unserer „Entdeckung“ und Integration in die Sammlungspräsentation nun schon mehrfach mit Leihgaben von uns in wichtigen Ausstellungen vertreten gewesen, zuletzt in der großen Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum“ (2024/2025) in Mannheim. Die Kurator:innen hatten sich bewusst vorgenommen, genau jene Positionen sichtbar zu machen, die vor 100 Jahren nicht berücksichtigt wurden.
Ein wichtiger Ansatz für einen neuen Umgang mit dem Thema „Neues Sammeln“ lautet also: genauer hinschauen, was schon da ist – aber aus historischen Gründen nie thematisiert oder gezeigt wurde. Wenn man darauf aufbaut, den Umgang weiterentwickelt und weiter sammelt – dann kann man wirklich etwas bewegen.
TK: Ich habe eine Frage an Regina Selter und Thomas Bauer-Friedrich! Wir haben das natürlich auch gemacht: Wir wollten wissen, wie das Geschlechterverhältnis in unserer Sammlung aussieht. In unserer Datenbank gibt es allerdings kein Feld zur Markierung von Gender – wir mussten das händisch durchgehen, weil die üblichen Datenbanken da keine Möglichkeit bieten – immerhin ist das Ergebnis dann akkurat. Ergebnis war: Wir landen immerhin bei 15 Prozent (weiblich gelesener, d. Red.) Positionen. Das ist auch nicht übermäßig, aber eine ganz gute Basis, auf der man aufbauen kann. Bei der Erfassung der Daten kommen aber schon die nächsten Fragen: Wie markiert man? Das ist ja durchaus auch sensibel – wenn es ein solches Feld gäbe. Wie ist bei meinen Gesprächspartner:innen die Gender-Aufteilung? Das würde mich mal interessieren!
TBF: Das ist natürlich ein bisschen schmunzelnd zu sehen. Auch bei uns ist das recht traditionell: In der Datenbank kann ich Künstler:innen als „männlich“ oder „weiblich“ klassifizieren. Das heißt, wenn das korrekt eingegeben wird, kann ich zumindest in dieser binären Kategorie auswerten. Natürlich wissen wir alle, dass das nicht divers im heutigen Sinne ist – aber es ist ein Anfang. Es hilft, um überhaupt erstmal zu verstehen, wo wir stehen.
RS: Wir stellen auch fest, dass wir an Kategorisierungen in den Datenbanken wie Geschlecht und Herkunft weiterarbeiten müssen. Wie wird das eigentlich bisher in der Datenbank angegeben? Wird der Geburtsort genannt? Sagt dies überhaupt etwas über Zugehörigkeit aus? Wie verfahren wir damit?
Das ist ein weiterer, wichtiger Aspekt: Die Überarbeitung der Software und die Qualifizierung von Mitarbeiter:innen. Die Kategorien und Begrifflichkeiten müssen sich mitentwickeln, genauso wie die Suchfunktionen und der sensible Prozess des Zuschreibens und Einordnens. Das ist mit hohem Arbeitsaufwand verbunden. 600.000 Einheiten, wie in Ihrer Sammlung, Herr Köhler, durchzuschauen! Mit 15 Prozent sind Sie in dieser Runde schon ziemlich gut dran – aber insgesamt natürlich weiterhin fatal im Hinblick auf eine solch starke Unterrepräsentanz weiblich gelesener Künstler:innen in Ihrer Sammlung. Sie sitzen mitten in Berlin-Kreuzberg, in einer sehr diversen Nachbarschaft mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Wie finden Sie heraus, was die Menschen an Ihrer Sammlung interessiert?
TK: Ein neuer Aspekt, den wir gerade untersuchen – der besonders für Berlin, aber ich glaube auch für jede deutsche Großstadt interessant ist –, ist die Frage, inwieweit sich Migrationsgeschichte auch in der Kunstgeschichte spiegelt. Und das ist schwieriger als es auf den ersten Blick klingt. Wer kam in der Weimarer Republik aus anderen Ländern nach Deutschland, um hier zu studieren? Was ist aus diesen Menschen geworden? In unserer Sammlung finden sich nur sehr wenige dieser Namen. Dasselbe gilt für die Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte – sowohl in der DDR als auch in der BRD. Wo sind die Werke dieser Künstler:innen, wo ist die zweite und dritte Generation? Die Berlinische Galerie hatte 40 Jahre lang gar keinen Ankaufsetat, was notwendigerweise die Entwicklungsmöglichkeiten für eine Sammlung doch sehr eingeschränkt hat. Damit beschäftigen wir uns gerade.
Es gab in Berlin übrigens eine ganz tolle Initiative, die ich gerne noch erwähnen möchte: Die „Soziale Künstlerförderung“. Der Berliner Senat hat seit den 1950er-Jahren bis ins Jahr 2004 Werke von zeitgenössischen Künstler:innen angekauft – anstelle einer Sozialhilfe. So ist ein großes Konvolut entstanden mit fast 20.000 Werken. Ein Teil dieser Werke gehört der Berlinischen Galerie, ein anderer Teil dem Stadtmuseum. Erst seit wenigen Jahren rückt dieser Bestand wieder ins Zentrum des Interesses. Ich bin sehr gespannt, was man da noch entdecken wird – wo sind all die Namen, die bislang aus dem Kanon herausgefallen sind? Es wird sicher bald bei uns Ausstellungen dazu geben! Einige gab es bereits woanders – zum Beispiel letztes Jahr im Museum für moderne Kunst in Frankfurt am Main: „There is no there there“ (2024) war für mich ein Augenöffner – zumal viele Leihgaben aus unserem Bestand dort zu sehen waren. Ich dachte mir: Mensch, das hätten wir auch zeigen können!
Herr Bauer-Friedrich, Sie haben ja schon angedeutet, dass das Kunstmuseum sich künftig komplett neu aufstellen wird – auch wegen einer anstehenden Bauphase. Wie schauen Sie in Zukunft auf Ihre eigene Sammlung und das „Neue Sammeln“?
TBF: Wir haben mehrere Baustellen, mit denen wir uns beschäftigen. Neben der Diskussion über das „Neue Sammeln“ müssen wir uns auch mit der Geschichte und unserem Haus auseinandersetzen. Wir sind eines der Museen, die im 20. Jahrhundert stark von der Geschichte gebeutelt wurden. Unsere erste Sammlung der Moderne wurde in der NS-Zeit als „entartete Kunst“ beschlagnahmt – wir haben sie verloren. Wenn eines dieser Werke wieder auf dem Markt auftaucht, ist das jedes Mal ein bittersüßes Gefühl. Dann heißt es, ein weiteres Mal viel Geld zu organisieren, um diese Lücke zu schließen. Denn es kehrt etwas zurück, das bereits einmal Teil unserer Sammlung war. Wir müssen unsere Sammlung nicht nur erweitern, sondern auch qualitativ verdichten. Was mich besonders umtreibt, ist, dass man in den 1990er- und 2000er-Jahren in der Moritzburg kaum mehr strategisch gesammelt hat. Das hat zur Folge, dass die letzten 30 Jahre riesige Lücken aufweisen. Das möchte ich ändern. Unsere alte erzbischöfliche Residenz ist aufgrund ihrer ursprünglichen Funktion zudem architektonisch nicht sehr einladend – sie ist kein sogenannter Dritter Ort und man muss einige Barrieren überwinden auf dem Weg ins Museum. Daran müssen wir arbeiten. Wir ziehen wegen verschiedener Baumaßnahmen 2028 temporär aus dem Museum aus und beziehen ein Interimsquartier in der Stadt. Ein Ort, der zur experimentellen Spielwiese werden soll, um Neues auszuprobieren, Konzepte zu testen und um den Kontakt mit der Stadtgesellschaft zu intensivieren. Wir möchten nicht nur Verwalter der eigenen Vergangenheit sein, sondern ein Museum, das am Puls der Zeit agiert. Dazu kommen die Themen, die wir hier im Interview besprechen. Wenn wir dann 2032 zurückziehen, wollen wir ein Ort sein, der in und mit der Stadt lebt – u. a. mit einer komplett überarbeiteten Präsentation der Sammlung.
Herr Bauer-Friedrich, zum Schluss bitte ein kleines Blitzlicht-Finale: Was kann das Museum der Zukunft?
TBF: Das Museum der Zukunft kann emotional abholen, intellektuell bilden – und vor allem ein integrativer Ort sein. Ein Ort, der animiert und an dem man gern verweilt. Architektonisch ist das in unserem Fall eine Herausforderung – aber ich glaube, man muss das Unmögliche wagen, um einen Schritt in die richtige Richtung zu schaffen.
Frau Selter: Das Museum der Zukunft kann …
RS: … zuversichtlich und mutig sein – in jeder Hinsicht.
Herr Köhler?
TK: Ich würde sagen: Das Museum muss! Es muss seine Relevanz behalten. Und das kann es nur, wenn es sich zeitgemäß weiterentwickelt – in all seinen Aufgabenbereichen, wie meine Kolleg:innen sie eben beschrieben haben. Dann, finde ich, sind auch die nächsten 50 Jahre kein Problem.
Es wird deutlich: „Neues Sammeln“ ist nicht nur ein Schlagwort, sondern ein Aufruf! Museen stehen vor Aufgaben der nachhaltigen Transformation, inklusiver Teilhabe, internationaler Zusammenarbeit und vor allem: sozialer Verantwortung.
Ich danke Ihnen allen für dieses offene und sehr inspirierende Gespräch!