Rückkehr der Marien

Von langen Gewändern umhüllt beweinen die in stiller Klage versunkenen Marien den Opfertod des Gottessohnes unter dem hohen Kreuz. Die filigran aus Eichenholz gearbeitete Figurengruppe bietet ein eindringliches Bild tiefer spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Bis in die 1950er Jahre schmückte der 1430/40 entstandene kostbare niederländische Kalvarienberg den Altar der Schlosskapelle in Saint Martin de la Place bei Angers, dann zerriss das Schicksal die anrührende Kreuzigungsszene: In zwei verschiedene Privatsammlungen kamen die trauernden Marien einerseits und die übrige Figurengruppe andererseits. 1965 konnte das Kölner Museum Schnütgen bereits die Darstellung der Kreuzigung mit ihren zahlreichen Begleitfiguren, wie Soldaten und dem guten und bösen Schächer, erwerben. Nun kehren auch die Marien zurück in ihre ursprüngliche Aufstellung. Das Kölner Museum schließt somit durch Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Peter und Irene Ludwig Stiftung, der Sparkassen-Kulturstiftung Rheinland eine schmerzliche Lücke seiner Sammlung.

Kalvarienberg, Niederlande, um 1430-40; Museum Schnütgen, Köln © Rheinisches Bildarchiv, Köln/W.Meier
Kalvarienberg, Niederlande, um 1430-40; Museum Schnütgen, Köln © Rheinisches Bildarchiv, Köln/W.Meier

Kalvarienberge sind die geschnitzte Meistererzählung des christlichen Glaubens: Als eine Art hölzernes Figurentheater verdichten sie das Passionsgeschehen auf der Schädelstätte Golgatha vor Jerusalem zu einer dramatischen Kreuzigungsszene. Im Altarraum animierte das Schnitzwerk – unter Aufbietung des prominenten biblischen Personals – die Gläubigen zum frommen Mitleiden am Erlösungsgeschehen: Neben der ohnmächtig zu Boden sinkenden Mutter Gottes trauern ihre Schwestern und Maria Magdalena in der 22 x 50 cm messenden jetzt zurückgekehrten Figurengruppe. Technologische Untersuchungen der Farbfassung bewiesen eindeutig die Zugehörigkeit der Mariengruppe zu dem in Köln verwahrten Retabel.

Ein unbekannter, vermutlich in Gent wirkender Bildschnitzer formte das spätmittelalterliche Figurenensemble – inspiriert von der Tafelmalerei Jan van Eycks. Damit erscheint der reich bemalte Kalvarienberg gleichsam wie ein skulpturales Geschwister der Altargemälde van Eycks, des wohl bedeutendsten spätmittelalterlichen Künstlers der Niederlande. In kompositorischer Radikalität, mit seiner lebendigen Bilderzählung, den ausdrucksstarken Gesichtern erstrahlt im Museum Schnütgen dieses singuläre Beispiel niederländischer Skulptur nun wieder in ganzer Pracht.