Ost-westlicher Vorlass
Gesellschaftskritische Instanz nicht nur für Intellektuelle und Künstler, politische Stimme in Ost wie West, national wie international geachtet, vielgelesen: Volker Braun, der 1939 in Dresden geborene Lyriker, Dramatiker, Prosaautor und Essayist, prägte das literarische Leben der DDR als künstlerische Schlüsselfigur. Zur und nach der Wende entfachten Gedichte wie „Das Eigentum“ heftige Debatten, sein Stück „Iphigenie in Freiheit“ (1992) galt als „höhnisches Pamphlet auf das vereinte Deutschland“ (Die Zeit), Rolf Michaelis schrieb bei Erscheinen: „So etwas werden wir nicht mehr zu lesen bekommen. Diese Art literarischer Parodie, ein Flickenteppich verdrehter Zitate, ein Wolkenbruch von Wortspielen, Kalauern, gereimten (und ungereimten) Witzeleien, die Projektion der bösen Gegenwart auf die vermeintlich heile Welt eines klassischen Stücks der Vergangenheit: Schreib-Tricks, wie Autoren sie in einem Land der Zensur entwickeln.“
Nun gelangt Volker Brauns vollständiges, rund 150 Kästen aus den Jahren 1960 bis 2014 umfassendes Archiv mit Werkkomplexen zur Dramatik, Prosa, Lyrik und Essayistik mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Deutschen Forschungsgemeinschaft in die Akademie der Künste in Berlin. Braun, der als Erbe der literarischen Moderne mit Methoden der Fragmentierung und Montage seinen schriftstellerischen Kosmos entwirft, präsentiert sich im Archiv als Meister der Materialsammlung, die er wie manch anderer Literat bereits als erste Stufe des künstlerischen Prozesses versteht: In zahlreichen Bänden seiner Lebens- und Arbeitschronik „Werktage“ verschränkt er Fremdmaterialien mit Kommentaren, Zeichnungen und Fotos – ähnlich wie in Bertolt Brechts „Arbeitsjournalen“. Weiterhin finden sich im Vorlass des Autors zu nahezu allen Manuskripten seiner Werke wie „Die Kipper“ (1965), „Wir und nicht sie“ (1970), „Die Übergangsgesellschaft“ (1987), „Der Wendehals“ (1995) die handschriftlichen Bleistiftfassungen. Gedichtentwürfe, unveröffentlichte Texte und Notate versammeln die über Jahrzehnte geführten rund 50 Notizbücher, die als Fundgrube die Erforschung von Werk und Leben des Schriftstellers, aber auch des literarischen Lebens in Deutschland bereichern werden. Der Autor Braun, der in der DDR als Provokateur, als „ständiges öffentliches Ärgernis” galt, bündelte auch Konvolute, die minutiös offensichtliche wie verdeckte Zensur und Einflussnahme des DDR-Regimes beispielsweise beim „Druckgenehmigungsverfahren” zwischen 1981 bis 1986 zum „Hinze-Kunze-Roman” dokumentieren. Die mit rund 20.000 Blatt sorgfältig erfasste Korrespondenz fügt sich in den reichen Spiegel der historisch-sozialen Entwicklungen in der DDR.
Der nun erworbene Vorlass des Georg-Büchner-Preisträgers 2000 trifft in der Akademie der Künste auf illustre Gesellschaft: Sammelt man dort doch bereits seit langem ambitioniert die Archive von Literaten wie Bertolt Brecht, Christa Wolf, Heiner Müller und Anna Seghers.