Heimkehr nach 200 Jahren

Die in Versalien gemeißelte Inschrift annonciert den Porträtierten: Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), Begründer der wissenschaftlichen Archäologie und einer der Leitfiguren des europäischen Klassizismus. Rom war die ästhetische Inspirationsquelle, Wahlheimat des Gelehrten und der Entstehungsort der Skulptur: Im Auftrag des bayerischen Kronprinzen Ludwig (I.) von Salvatore de Carlis (1785 bis nach 1839) realisiert, gehörte die Büste zu den ersten Kunstwerken, welche die geplante Walhalla, das Nationaldenkmal in Donaustauf bei Regensburg, schmücken sollten. 1812 nach München gelangt, fand sie ihre Aufstellung bis 1837 im sogenannten Saal der Neueren der 1830 vollendeten Glyptothek, um danach in eine der Wittelsbacher Privatresidenzen überführt zu werden. So erzählt die Geschichte ihrer Aufbewahrungsorte vom Bedeutungswandel der Skulptur und dem Schicksal eines nur kurz vom Glanz fürstlicher Patronage begünstigten Künstlers.

Den vom Kronprinzen präzise formulierten Auftrag hatte de Carlis gewissenhaft erfüllt: Aus Carrara-Marmor gefertigt, „ohne aller Costume in einer einfachen gerade vor sich hin sehenden Richtung“, in einer von Winckelmanns wahrscheinlich berühmtestem Zitat inspirierten „stillen ruhigen Seelengröße“. Dabei hatte de Carlis eine entscheidende Schwierigkeit zu überwinden: ein posthumes Bildnis eines ihm Unbekannten anzufertigen. Eine Porträtähnlichkeit war angesichts der seit dem Tod des Vorbilds vergangenen Zeit nicht zu erwarten; doch König Ludwig und seinen Beratern gefiel das Porträt nicht, es war mit seiner Höhe von 68 cm auch zu klein für die Reihe der später beauftragten, dann deutlich größer angelegten Walhalla-Büsten. Im neuen Aufstellungsort, der Münchner Glyptothek, sollte das Bildnis Winckelmanns besonders die wissenschaftliche Bedeutung des Nestors der Klassischen Archäologie bei der Klassifizierung von Kunstwerken herausheben. Wohl im Jahr 1853 gelangte die Büste zur Eröffnung der Neuen Pinakothek ins dortige Erdgeschoss zur Ausstellung, später weiter ins Herzog-Max-Palais in München, dann ins Schloss Tegernsee und schließlich auf den Kunstmarkt.

Ein Mann in der Blüte seines Lebens, mit wachem, konzentrierten, staunenden Blick: Für die heutigen Betrachter stellt sich daher die Frage nach dem Bild, das sich die Nachwelt und der Bildhauer de Carlis von Winckelmann machte. Dieser Frage kann nun endlich wieder in den Staatlichen Antikensammlungen und Glyptothek München nachgegangen werden, denn die Büste kehrt aus dem Kunsthandel an ihren ersten Ausstellungsort zurück. Am 9. Dezember, dem Geburtstag Winckelmanns, wird sie in der Glyptothek neben der Büste Ludwigs als Kronprinz von Bertel Thorvaldsen im Museumsfoyer präsentiert.