Neugierig auf das Neueste: Die Sammlung Goetz

Alles beginnt immer mit einer großen Faszination für kleine Dinge. Bei der Münchner Sammlerin Ingvild Goetz waren es Sammelbildchen von Margarineverpackungen, später Kunstpostkarten. Dann wollte sie Künstlerin werden, glaubte aber, nicht genug Talent zum Malen zu besitzen. So gründete sie 1969 einen Grafikverlag, später die Galerie „Art in Progress“, die erst in Zürich, dann in München und Düsseldorf Künstler vertrat. Doch das Verkaufen machte ihr weniger Spaß als das Besitzen von Kunst. Als 1941 geborene Tochter des Versandhausgründers Werner Otto hatte sie ab 1984 die finanziellen Möglichkeiten, sich ganz dem Sammeln und Besitzen von Kunst zu widmen. Sie begann mit der Arte Povera, der Kunst der Gleichaltrigen.

Die Sammlerin Ingvild Goetz
Die Sammlerin Ingvild Goetz

Der ersten Faszination folgt eine lange Sammelphase. Irgendwann in dieser – nach außen – meist stillen Sammelphase reichen die privaten Wohnungswände nicht mehr, die Lager füllen sich, quellen über und immer noch kommt Neues hinzu. Die Option, einfach aufzuhören, gibt es für einen richtigen Sammler nicht. An diesem Punkt angekommen, geben manche Sammler Teile ihrer Schätze als befristete Leihgaben in Museen. Ingvild Goetz gründete selbst ein Museum, denn sie wollte nicht vorrangig Platz schaffen, sondern „die Arbeiten in größeren Zusammenhängen sehen“, wie sie sagte. Auf Empfehlung des Künstlers Helmut Federle wandte sie sich 1989 an die damals noch wenig bekannten Basler Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Sie bekam ein Museum, das Sammlerin und Kritiker jubeln ließ. Vom „Edel-Container“ war die Rede, der „eine asketische Gegenstimme“ erhebe. Der elegante, schlichte Bau gilt als Gegenentwurf zur lauten Eventkultur der Jahrtausendwende. Auch die Architekten waren sehr stolz auf ihren Bau – und sind es bis heute. Ihr aktuelles Werbematerial kommt nie ohne den Hinweis auf diesen frühen Auftrag aus, obwohl sie längst als Architekten so spektakulärer Bauten wie dem Olympia-Stadion in Peking, dem Umbau der Tate Modern in London, der Münchner Allianz Arena und der Elbphilharmonie in Hamburg bekannt und berühmt geworden sind.
Das Haus, 1993 eröffnet, wurde als Privatmuseum betrieben, doch nach Anmeldung konnten die halbjährlich wechselnden Ausstellungen, die die Sammlerin selbst kuratierte, besucht werden. Bald trafen sich nicht nur Münchner Kunstliebhaber, sondern auch Museumsdirektoren aus der ganzen Welt zu den Ausstellungseröffnungen in der Sammlung Goetz.

Was bei älteren Sammlungen als abgeschlossene Geschichte von Mäzenatentum, Schenkungen, Ankäufen, besonderen Einigungen erzählt werden kann, ist im Fall der Sammlung Goetz frisch und erst für einen Teil entschieden. Doch die Parallelen zu all den Sammlern, die mit ihren Schenkungen und Stiftungen den Grundstock für öffentliche Museen legten, sind offensichtlich: Sie warten nicht, dass ihre Erben sich um die Sammlungen kümmern. Sie entscheiden zu Lebzeiten, was mit den Werken geschieht. So können sie sehen, wie ihre Sammlungen in den Museen ankommen.
Eben das hat auch Ingvild Goetz getan: Sie schenkte dem Freistaat Bayern zum 1. Januar 2014 ihre Medienkunstsammlung. Das sind 375 Arbeiten, die zwischen 1966 und 2012 entstanden. Viele der wichtigsten Künstler und der interessantesten Werke der internationalen Medienkunst gingen damit ins Eigentum Bayerns über. Einige der bekanntesten illustrieren diesen Text, doch naturgemäß kann die Auswahl bei 375 Arbeiten nur unvollständig sein.
Klaus Schrenk, bis Ende 2014 Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, bezeichnet die Sammlung als die beste neben denen des Centre Pompidou und der Tate Modern. Bayern ist mit dieser Schenkung von einem Tag auf den anderen nicht nur einer der weltweit wichtigsten Standorte von Medienkunst geworden, sondern gleichzeitig Eigentümer eines neuen Museums. Denn Goetz schenkte auch das Ausstellungshaus und machte zur Bedingung, dass die Kompetenz ihrer zehn Mitarbeiter weiterhin genutzt wird. Dass diese Art des Schenkens und öffentlich Zugänglichmachens den zukünftigen Erben Steuervorteile bringt, ist kein Geheimnis, aber auch keine ungewöhnliche Art der Vorsorge.

Den „Rest“ ihrer Sammlung stellt Goetz seit 2013 drei bayerischen Museen als zehnjährige Dauerleihgabe zur Verfügung: der Pinakothek der Moderne, dem Neuen Museum Nürnberg und dem Haus der Kunst, mit dem sie bereits seit 2010 kooperiert. Diese Dauerleihgabe „Rest“ zu nennen ist natürlich mehr als eine Untertreibung. Denn dieser „Rest“ besteht aus etwa 4.600 Kunstwerken aller Genres. Tendenz steigend.
Über die Dauerleihgabe sagte Ingvild Goetz vor zwei Jahren: „Ich wollte entscheiden, was nach meinem Tod aus der Sammlung wird. Meine Kinder wollen damit nichts zu tun haben. Verkaufen wollte ich nicht. Vererbe ich alles nach meinem Tod dem Staat, habe ich keinerlei Kontrolle, was damit geschieht. Durch die jetzige Regelung kann ich beobachten, wie es funktioniert, ob pfleglich mit den Dingen umgegangen wird und wie ernst es dem Staat damit ist, zu sagen: Wir wollen das wirklich haben. Davon sind weitere Entscheidungen abhängig.“ Was ein wenig nach Zwang zum Wohlverhalten klingt, wird von den drei Museen vor allem als große Chance verstanden. „München wird durch die Sammlung als Standort für zeitgenössische Kunst entscheidend gestärkt“, sagt Bernhart Schwenk, Kurator an der Pinakothek der Moderne, und erklärt: „Wir haben selbst erst spät begonnen, Medienkunst zu sammeln. Mit der Sammlung Goetz eröffnen sich uns nun ganz neue Möglichkeiten. Die Pinakothek der Moderne besitzt zum Beispiel ein Werk von Omer Fast. Zusammen mit den drei Werken aus der Sammlung Goetz kann ich schon eine kleine Ausstellung machen.“ Bis Mai präsentierte die Pinakothek der Moderne erstmals eine große Ausstellung mit Werken aus der Medienkunstschenkung. Über diese aktuellen Vorhaben hinaus ist Schwenk sicher: „Ich denke, diese Schenkung wird auch ein Anreiz für andere Sammler sein, uns ihre Werke anzuvertrauen.“

Ulrich Wilmes, Kurator am Haus der Kunst, kennt die Sammlung durch die Kooperation seit 2010 schon länger. In diesem Sommer eröffnet die achte Themenausstellung mit Goetz-Werken im Haus der Kunst. Wilmes lobt Größe, Vielfalt und Einmaligkeit der Sammlung. Denn Ingvild Goetz habe unabhängig von Beratern, von Trends und Moden gekauft. Immer wieder heißt es deshalb, Goetz sammle mit den Augen, nicht mit den Ohren. Das bedeutete für die Sammlerin, sich früh für einen Künstler zu interessieren, sein künstlerisches Potential zu erkennen, seiner Kraft und Ernsthaftigkeit zu vertrauen, ihn oder sie – kennenlernend, Freundschaft schließend, Werke kaufend – zu begleiten. „Ich bin sehr neugierig auf alles, was in der Welt ¬passiert. Mich interessiert die Lebenswelt der jungen Generation. Was ich nicht verstehe, kann ich über die Kunst erfahren. Ich versuche, die Arbeiten mit großer Offenheit anzuschauen, ohne sie direkt mit den Künstlern aus der Vergangenheit zu vergleichen“, sagt Goetz. Erst seit kurzem falle es ihr schwer, Neues zu entdecken. „Inzwischen finde ich, dass es nur noch wenige Positionen in der Gegenwartskunst gibt, die wirklich interessant sind.“

Das bedeutet nicht, dass die Sammlerin nichts mehr kauft. Doch sie wird wählerischer. Immer wieder hat sie sich von Werken und Künstlern auch getrennt. Welche das waren, darüber spricht sie nicht gern, aber zum Beispiel der Hang mancher Künstler zu Großformaten irritierte sie sehr. Solche Umschichtungen und Präzisierungen sind nicht unüblich, denn beim privaten Sammeln geht es viel mehr um Gefühle und Leidenschaften als das im Museum möglich sein darf. Ganz offiziell trennte sich die Sammlerin 2013 von 128 Werken und ließ sie versteigern. Mit dem millionenschweren Erlös unterstützt sie verschiedene soziale Projekte wie ein Magersuchthilfsprogramm und Projekte für Flüchtlinge in München.

Trotz Verkäufen, Schenkung und Dauerleihgabe ist ihr das „Sammler-Gen“ nicht verlorengegangen und die Sammlung wird stetig größer, wie Katharina Vossenkuhl, die Direktorin der Sammlung Goetz, weiß. Vossenkuhl war schon als Kunstgeschichtsstudentin fasziniert von der Möglichkeit, in der Sammlung Goetz die neuste, jüngste Kunst kennenzulernen. Jetzt ist sie seit 15 Jahren dort und stellt fest: „Es wird nie langweilig, denn immer kommen neue Werke und auch neue Künstler hinzu.“ Die Sammlerin beziehe das Team in ihre Recherchen über junge Künstler frühzeitig ein. „Was sie kauft, entscheidet sie aber immer ganz allein“, sagt Vossenkuhl, die zusammen mit den anderen Mitarbeitern zu den ersten gehört, denen die Sammlerin stolz die Neuerwerbungen zeigt. „Sie sammelt wirklich mit dem Herzen“, sagt Vossenkuhl. Würde es in diesem Text um einen historischen Sammler gehen, stünden dieser und der nächste Satz von Katharina Vossenkuhl stark unter Klischeeverdacht. Denn Vossenkuhl sagt außerdem: „Frau Goetz lebt mit der Kunst, sieht sich jeden Abend Werke auf DVD an. Es ist sehr beeindruckend, dass sie jedes der 5.000 Werke aus ihrer Sammlung kennt.“ Skepsis wäre angebracht, doch auch Kuratorin Patrizia Dander erzählt von einer Sammlerin, die zu jedem Kunstwerk Auskunft geben kann. Dander, bis vor wenigen Wochen Kuratorin am Haus der Kunst in München und jetzt in gleicher Position im Museum Brandhorst, hat in den vergangen Jahren zwei Ausstellungen mit Kunst aus der Sammlung Goetz zusammengestellt. „Ich habe einige Künstler durch die Arbeit mit der Sammlung Goetz überhaupt erst intensiv kennengelernt, denn die Sammlung enthält viele Werkgruppen, die über einen längeren Zeitraum die Entwicklung der Künstler nachzeichnen“, sagt Dander.

Pinakothek-Kurator Bernhart Schwenk verbindet mit den neuen Medienkunstwerken nicht nur neue Möglichkeiten für Ausstellungen, sondern auch die Hoffnung, dass sein Museum durch Schenkung und Dauerleihgabe wächst – sowohl in seiner Attraktivität für medienkunstbegeisterte Besucher als auch praktisch. Denn die Pinakothek der Moderne sei für die Präsentation von Medienkunst in abgedunkelten Räumen baulich nicht gut geeignet.
Eva Kraus, Direktorin der Kunsthalle Nürnberg, sieht es ähnlich. Einerseits biete die Kooperation mit der Sammlung Goetz die Möglichkeit, die „Medienkunst stärker in der Nürnberger Kunsthalle zu verankern“. Andererseits fehlen auch in Nürnberg bisher die Räume, um Medienkunst dauerhaft angemessen zeigen zu können. Kunst-Geschenke und Museumserweiterungen waren schon immer eng miteinander verbunden. Die Entscheidung von Ingvild Goetz, erst nach einer zehnjährigen Frist über den endgültigen Verbleib der Dauerleihgabe zu entscheiden, wird vor diesem Hintergrund durchaus verständlich.
Viele Sammler, auch der in Arsprototo 1/2015 vorgestellte Bartholt Suermondt, gelten als absolute Kenner ihres Sammelgebietes. Das ist bei Ingvild Goetz nicht anders. Bewundert wird sie aber besonders, weil sie sich gleichermaßen für die Kunst von Frauen wie von Männern interessiert, so dass es in ihrer Sammlung zu gleichen Teilen Werke von Künstlerinnen und von Künstlern gibt. Für Ingvild Goetz war es nie ein Thema, welches Geschlecht ein Künstler hat. 1998 stellte sie fest: „Zur Zeit gibt es mehr junge Künstlerinnen als Künstler in der Sammlung, weil sie Tabuthemen aufgreifen, sehr persönliche Themen, die mich interessieren und die neu in der Kunst sind.“ Dieses selbstverständliche Interesse für die Arbeit von Künstlerinnen imponiert auch gestandenen Kunst-Betrachtern und Kunst-Käufern wie dem Ex-Generaldirektor der Baye¬rischen Staatsgemäldesammlungen Klaus Schrenk, der während der Entstehung dieses Textes extra noch einmal anruft, um diese Besonderheit zu betonen und zu loben.

Stehen am Anfang einer Sammlerkarriere Leidenschaft und Faszination, sind es am Ende vor allem Verantwortungsbewusstsein und der Wille, den Kunstwerken die beste Betreuung zu sichern. Ingvild Goetz hat mit der Medienkunst-Schenkung begonnen – jetzt ist es an den Museen, zu zeigen, dass sie ebenso neugierig, offen und kreativ bei der Arbeit mit den Leihgaben sind wie die Sammlerin bei ihren Ankäufen. Denn noch ist das Ende dieser Sammlungsgeschichte offen, auch wenn Ingvild Goetz mehrfach betont hat, dass sie es sich durchaus vorstellen kann, Bayern weitere Teile ihrer Sammlung zu schenken.