„Merckwürdigkeiten“ in Mitteldeutschland
Der Straßburger Orgelbauer Johann Andreas Silbermann begab sich im Frühjahr 1741 auf eine lang geplante Reise. Die Zeit war günstig, eben konnte er den Abschluss einer Arbeit in St. Thomas vermerken: „Mittwoch den 8. Febr: habe mit Gottes Hülf diese Orgel fertig gebracht“ und trotz voller Auftragsbücher die nächsten Aufgaben für ein paar Monate verschieben oder delegieren. Einen frischen Bogen Papier nahm er kurz nach der Einweihung der neuen Orgel zu Hand und notierte:
Nachdem ich mir schon längstens eine Reyse in Sachsen zu thun vorgenommen, solche aber von einer Zeit zur andern aufschieben müssen wegen beständiger vielen bestellten Arbeit, so habe mich deme ungeacht endlich entschlossen, ein paar Monat daran zu wenden, und alles so viel mir diese kurze Zeit erlauben wird, gleichsam auf der post zu besehen, bin derohalben dienstags d 21 february 1741 morgens frühe in Compagnie H. Nahlen des Bildhauers mit der durlacher Postkutsche von hier abgereyßet.
Mit diesen Worten begann Silbermann festzuhalten, was ihm die nächsten vier Monate auf einer Reise nach und durch Mitteldeutschland begegnen würde. Knapp 300 Seiten füllte er, ergänzt um etwa 50 Stiche, die er Postkarten gleich von den besuchten Orten mitbrachte, und band sie nachträglich unter dem Titel „Anmerckungen derer Auf meiner Sächsischen Reysse gesehehen Merckwürdigkeiten“ zusammen. Dokumentiert sind in diesem Journal Begegnungen, Ereignisse, Fakten und Geschichten von nahezu jeder Station Silbermanns.
Auf den Spuren seiner Familiengeschichte, der Vater stammte aus dem Frauensteiner Land, mit feinem Gespür für kulturhistorische Besonderheiten der Gegend – Kunst und Architektur, Geschichten und Mythen, gesellschaftliche Umstände –, aber mit ebenso großer Neugier seinem eigenen Metier, dem Orgelbau, gegenüber, erfuhr er in den kommenden Wochen das Land und hielt seine Eindrücke in lebendigen Schilderungen fest. Zunächst reiste er sehr schnell; die kurzen Pausen zum Wechseln von Pferden und Kutschen nutzte er dennoch für ein touristisches Programm, das ihn zu den Sehenswürdigkeiten in Heidelberg, Fulda und Frankfurt führte. In Sachsen angelangt, verringerte sich das Tempo, und Silbermann hielt sich in Leipzig, Freiberg, Zittau, Dresden, Wittenberg und Berlin jeweils für mehrere Tage, ja Wochen, auf. Dort traf er alte Bekanntschaften und schloss neue, erkundete die umliegende Gegend, besah ausführlich herrschaftliche Palais, Kunstkammern, Kirchen, Klöster, Schlösser, Gärten, Kuriositätenkabinette und Rüstkammern und dokumentierte den präsentierten Reichtum, wie zum Beispiel in Dresden:
Im Graffen von Brühl, welcher premier Minister ist seinem pallais habe die garderoppe gesehehn.
darinnen seyend 24 schräncke – jeder schranck hat 12 fache. auf jedem liegen bey 2 oder 3 Kleide[r] – 5 comode und in der mitte 2 lange commode dessen jedes 6 Ehlen lang, und in jedem 18 schubladen, in denen fenstern noch 6 commode, in jedem 3 schubladen. noch ein schreibtisch, von 9 schubladen. – die Mad. hat auch wieder eine garderobe von dieser größe –
Der Kleider sind 350. 500 paar schue, bey 50 paar stieffel stehen oben auf den schäfften – der diener sagte das H graff gar viel in leibzig mit hat –
In den Commoden ist ein ungemeiner Vorrath von […] Gold, Silber und Seite, tücher, gold und silbern band in großer menge. Seitern Strümpf, Stieffelstrümpff Camaschen, Handschug, Nachtzeuge Masquarath Kleider, Degengehencke.
Auch ein Schranck von Degen und hirschfänger, auch Stöcke worunter einer von achat mit einem goldenen Knopff, 2 stöcke, welche vor 3 Jahren vom König und der König […] praesente waren. der eine 10000 Thlr. der andere 6000 Thlr. wegen denen diamanten [im] werth. auch stöcke worinnen golden uhren sind.
an tisch[l]er arbeit hat die gardeoppe gekostet 800 thl. / schlösser 325 / gürtl 50 / laquiren vom mahler 440 / mit papir ausfütern 130 / [=] 1735 thl
Erstaunlich ist, wie öffentlich und zugänglich die Paläste waren. Über den jeweiligen Bettmeister erhielt Silbermann Zutritt zu den Schlössern und „privaten“ Räumen. Details wie die Beschaffenheit von Baumaterialien und Stoffen, von Entstehungs- und Erhaltungskosten, von besonderen Konstruktionen für Feuerlöscher, Wasserspender, Glockengeläute und -spiele oder die Straßenbeleuchtung durchziehen seine Notizen und vermitteln ein lebendiges Bild des 18. Jahrhunderts.
Die jeweilige Kultur nahm der junge Orgelbauer aufmerksam wahr und dokumentierte neben musikalischen Ereignissen zum Beispiel die Gottesdienste in Sachsen oder einen Besuch in der Berliner Synagoge. Er interessierte sich für Kulinarisches ebenso wie für Militärisches: Paraden, Militärlager, Kriegsnachrichten, Gieß- und Zeughäuser werden neben Frühstückserlebnissen, Einladungen zum Mittagessen oder einer Speisekarte beschrieben – und in der Nähe von Großenhain kam beides sogar zusammen:
Bey diesem ort stunde ao: 1730 das prächtige lager welches der verstorbene König Augustus gehalten – dieses Campement bestund aus 36 000 Mann, erstreckte sich biß Mühlberg. Darin wurde ein grosser Kuchen gebacken, dabey waren 24 Viertel Meel, und 60 donnen Milch à 60 Maß. Er war lang 13 Ehlen. 5 Ehlen breyt, und 3/4 Ehlen dick. Er wurde mit 4 pferdten in den offen gezogen, die ketten giengen beyderseits durch die gegen einander sehente offenlöcher. Zu gleicher Zeit wurden noch 4 Köstliche Kuchen gebacken. der große wurde mit einem Messer mit einem sehr langen stiehl wie ein großer schreiner Schnitzer verschnitten, anfangs schnitte man damit in der mitte ein viereckigt loch heraus, dan stund einer dahinein und machte follends stücke die gantze Armee bekam davon zu essen. Der Backoffen bestunde aus lauter kleinen gewölblein unten.
Selbstverständlich besichtigte er auch etliche Orgeln – wobei Blick und Ohr sich nicht täuschen ließen und manches Werk nicht vor Silbermanns Urteil bestehen konnte. In der Leipziger Paulinerkirche ließ er sich in Begleitung des jungen Komponisten Gottfried August Homilius die Orgel vom Meister des Werkes, Johann Scheibe, zeigen – und ließ kaum ein gutes Wort an ihr. Die Casparini-Orgel in Görlitz irritierte ihn nachhaltig, und auch die allerorten gelobte Gröninger Orgel von David Beck überzeugte ihn nicht. Wiewohl er für die „Orgelsachen“ ein gesondertes Heft führte, zeugt doch auch sein Tagebuch vom aufmerksamen Blick des Handwerkerkünstlers auf die Instrumente. Bei aller Kritik lassen die Bemerkungen zu den Orgeln den offenen und zugewandten, den interessierten Menschen erkennen, der mit seinen Kollegen Johann Gottlieb Tamitius in Zittau und Joachim Wagner gute Bekannte erhielt. Und: Vergnüglich zu lesen sind seine Kommentare allemal!
Unterstützt werden seine Beschreibungen durch eigene Zeichnungen oder beigelegte Kupferstiche. Einen Besuch in Oybin reichert er z. B. mit Auszügen aus der Zittauer Chronik an und bewegt sich nach dieser Anweisung:
Wir giengen nun weiter den berg hinauf. in dem alten schloß und kirch gewölbern und Kellern herum. dan über den kirchhoff, als wohin noch täglich die leuthe vom dorff Oybin begraben werden, hervor zum lusthauß. Ich nahme pulver mit mir, und ließe die Mörser laden und loßzünden, um den Echo zu höhren. Es gab eigentlich keinen Echo der vielfältig ist wie es die beschreibung melden will, sondern gehet in einem donnern ohnabgesetzt im zirckel auf denen umliegenten bergen herum. Nach dem Knall giebt es erstlich ein Braußen, so gleich aber einen schlag in der stärcke wie der Schuß, gleich einem donnerstreich und rollt mit einem sehr starcken geprasse auf denenbergen völlig in der runde herum und zwar zimlich langsam, und alzeit schwächer. […] Weiter besiehe die Beschreibung.
In den Kuriositätenkabinetten interessierten ihn ausgestellte Anomalien, in spiritu vino eingelegte Tiere, Fossilien und exotische Besonderheiten – auch hier fügt er Abbildungen bei, wie um die Unglaublichkeit der erfahrenen Geschichten durch das Bild zu belegen.
Seine Aufmerksamkeit reichte dabei von China bis Golgatha:
Ein Chinesischer Haußaltar woran hier in Kupfer seine rechte größe vorgestelt ist, er ist wie ein glaß so glat schwarz mit gold untermengt laquirt. die drey aufgerichteten Götzen sind aus Reißkörnern geschnitzelt, und hinter demselben stehen die hülsen davon noch in die höhe wie Nichen. Der mittelste Götz heißt FO der auf der rechtenhand Confucius und der zur lincken Lancy. Unter denen Reliquien ist ein beinlein von apostel Paulo, ingleichen etwas holtz vom Creutz Christi.
Überhaupt interessierte er sich nicht nur für beobachtete Realien, sondern nahm ebenso neugierig die Geschichten der Gegend auf: Kunz von Kauffungen, die Legende vom verfluchten Sohn Lorentz Richters, den Jungfernsprung, die Mordbrücke und viele andere historiae ergänzen seine Beobachtungen.
Silbermann überwand mit der Distanz von etwa 2.000 Kilometern, die er in weit mehr als 400 Stunden zumeist in der Postkutsche zurücklegte, nicht nur die räumliche Entfernung zwischen Straßburg, Zittau und Berlin. Sie bedeutete auch den Unterschied von einem überwiegend katholisch geprägten Kulturraum (mit der protestantischen Insel Straßburg) an der französischen zu einem protestantischen an der böhmischen und polnischen Sprachgrenze. Hinzu kamen die Strapazen einer Kutschreise durch mehrere Dutzend Kleinstaaten mit je verschiedenen Währungen, Maßen und bürokratischen Finessen. All das jedoch hinderte ihn nicht an der Verwirklichung einer Reise dieser Dimension. Silbermann, der Besonderheit seines Unternehmens gewahr – ein zweites Mal würde er die 1734 vom Vater übernommene Orgelwerkstatt nicht für so lange Zeit verlassen können –, nahm intensiv alles auf, was ihm begegnete und füllte sein Journal sowohl vor Ort, im Stehen und Gehen als auch in Ruhe am Abend mit Notizen und Zeichnungen. Auch nach der Reise nutzte er das Büchlein – schon dessen mehrspaltige Anlage verweist auf seine verschiedenen Funktionen: Neben die Dokumentation der konkreten Reiseverhältnisse mit Angaben zu Wetterbedingungen, Reisezeiten, Bekanntschaften etc. tritt eine enzyklopädische Lust, die besuchten Orte detailreich zu beschreiben und mit sowohl aktuellen Fakten wie historischen und systematischen Erklärungen anzureichern. Für die Auffindbarkeit der Informationen in diesem über das Persönliche weit hinausreichenden Nachschlagewerk sorgen Stichwörter am Rand.
Mit dem Tagebuch, das im vergangenen Herbst aus Privatbesitz zur Versteigerung gelangte, konnte die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) dank der Unterstützung verschiedener Förderer einen außergewöhnlichen Schatz an kulturhistorischen Beschreibungen aus der unmittelbaren Perspektive eines reisenden Künstlers, Handwerkers und Bürgers des 18. Jahrhundert erwerben. Der Kulturstiftung der Länder verdankt die SLUB dabei einen wesentlichen Beitrag. Die Aufzeichnungen sind ein anrührendes authentisches Zeugnis des kulturellen Lebens der besuchten Gegenden, aber auch der Interessen und Blickwinkel ihres Urhebers. Einen Eindruck der festgehaltenen Vielfalt wie des einnehmenden Stils vermittelt das Digitalisat (http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/111740/1/), das über die SLUB-Homepage erreichbar ist. Nicht nur die Distanz von 2.000 km auf 350 Seiten wird damit überbrückt, sondern auch die von 274 Jahren.