Kein Kinderspiel
Trotz der lauten Rufe scheint jede Warnung vergebens. Während das Unheil naht, hüpft er noch unbekümmert über die Bühne, der rote Zipfel seiner Mütze schwingt fröhlich von links nach rechts. Doch die Sorgen der jungen Zuschauer sind unbegründet: Ob mit Tücke oder Kraft – seit Generationen schafft es der Kasper, seine Kontrahenten zu bezwingen, das Krokodil ebenso wie den Teufel oder die Hexe. Und so können am Ende einer jeden Theatervorstellung alle Kinder erleichtert aufatmen, wenn sich die wohl berühmteste Figur des deutschen Puppenspiels aus ihrer Not befreien konnte und sich unversehrt von ihrem Publikum verabschiedet.

Von Handpuppen über Marionetten bis hin zu Schattenfiguren: Die Geschichte des deutschen Figurentheaters reicht weit zurück. Doch war das Puppenspiel ursprünglich gar nicht als Unterhaltungsprogramm für Kinder gedacht, sondern als Theaterform nur für Erwachsene. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts nahmen die Spieler vermehrt auch Stücke für jüngere Zuschauer in ihre Repertoires auf. Als willkommene Abwechslung zum monotonen und freizeitarmen Arbeiteralltag waren sie besonders ab Ende des 18. und im 19. Jahrhundert beliebt, vor allem in Form reisender Marionettentheater, die als „Kulturbringer“ oft den ersten Kontakt zum Theater überhaupt darstellten. So waren es auch Siedlungsgebiete der Textilindustrie, des Bergbaus und des Hüttenwesens, die bevorzugt angesteuert wurden. Alleine im mitteldeutschen Raum waren um 1900 fast 200 Marionettenbühnen unterwegs. Mit rund 20.000 Vorstellungen im Jahr prägten sie besonders die ländlichen und kleinstädtischen Regionen vom Vogtland über die Lausitz bis hin zur böhmisch-sächsischen Grenze im Erzgebirge. In der Regel handelte es sich um Familienunternehmen, die ihre Fähigkeiten und Kenntnisse von Generation zu Generation weitergaben und ihre Betriebe weitervererbten. Noch heute zählen die Familien Ritscher, Richter-Gierhold, Bille, Hänel, Apel und Dombrowsky zu den bekanntesten Puppenspielerdynastien Deutschlands.
Einer, der sich dem Figurentheater besonders verpflichtet hat, ist Ralf Uschner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Mitteldeutschen Marionettentheatermuseum Bad Liebenwerda. Anfang der 1990er-Jahre war Uschner auf die Forschungen des Theaterwissenschaftlers Olaf Bernstengel zum sächsischen Wandermarionettentheater aufmerksam geworden und tauchte immer tiefer in das Thema ein. Bernstengel war es auch, der Uschner auf die Rolle der Region um Bad Liebenwerda als „Komödiantennest“ und beliebtes Winterquartier zahlreicher Marionettenspielerfamilien hinwies. Fest entschlossen, das Elbe-Elster-Land als Wiege des mitteldeutschen Wandermarionettentheaters einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, erarbeiteten sie gemeinsam eine Konzeption für die Profilierung des damaligen Kreismuseums als Mitteldeutsches Marionettentheatermuseum – mit einer Dauerausstellung zur Geschichte des regionalen Marionettentheaters, die schließlich 1998 eröffnen sollte. Über die Jahre konnte das neue Herzstück des Museums ausgebaut und die Sammlung um wichtige Positionen erweitert werden. Neu waren die Einordnung des regionalen Figurentheaters in die Gewerke des 19. und 20. Jahrhunderts – wie das Töpfer- und Korbmacherhandwerk – und die Betrachtung des Themas aus einer soziokulturellen Perspektive.

Tatsächlich fällt es Ralf Uschner schwer, seine Faszination für das traditionelle Puppenspiel und die Geschichte seiner Heimatregion zu verbergen: „Das Elbe-Elster-Land verbindet eine 250-jährige Tradition mit dem Wandermarionettentheater. Unsere hiesigen Puppenspieler sind weit gereist, über die Region hinaus, bis ins Böhmische hinein.“ Mit Pferde-, Wohn- oder Packwagen zogen die Marionettentheater durch Städte und Dörfer, von Gasthof zu Gasthof. Zu ihren meist über 100 Stücke umfassenden Repertoires gehörten dramatisierte Märchen, Sagen und Legenden ebenso wie Ritterdramen und historische Ereignisse. Mit Titeln wie „Genoveva“, „Raubgraf Schreckenstein“, „Kasper, der lustige Lumpenbaron“, „Ella, die Seiltänzerin“ oder „Die Teufelsmühle am Wiener Berg“ lockten die Marionettenspieler die Zuschauer in ihre Vorstellungen. Dabei verstanden sie sich in erster Linie als Gewerbetreibende, die mit ihren Stücken ein breites Publikum zu überzeugen hatten. Zahlreiche Anekdoten kann Ralf Uschner zum Thema erzählen: von seiner ersten Begegnung mit dem inzwischen verstorbenen Karl „Karli“ Gierhold – einem der letzten Vertreter seines Gewerbes –, dessen Nachlass inzwischen Teil der Liebenwerdaer Sammlung ist. Oder von den komplizierten Familien- und Arbeitsbanden reisender Puppenspielerfamilien, über die niemand so genau Bescheid wusste wie der Ahnenforscher Kurt Bille aus Hameln, selbst Nachfahre reisender Marionettenspieler. Und von seinen eigenen Bemühungen, den Landkreis Elbe-Elster als Träger des Museums und das Land Brandenburg für seine Ideen rund um das Marionettentheatermuseum zu gewinnen – erfolgreich, wie sich gerade erst wieder zeigt: So förderte das Brandenburger Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur gemeinsam mit der Kulturstiftung der Länder, der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und der Sparkassenstiftung „Zukunft Elbe-Elster-Land“ jüngst den Ankauf einer der wichtigsten privaten Sammlungen zum internationalen Figurentheater aus dem Nachlass des Puppentheaterhistorikers, Sammlers und Marionettenspielers Uwe Brockmüller. Mit der Erwerbung der über 2.000 Figuren und 79 wertvollen Masken, deren Entstehungszeiten von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts reichen, sowie einer umfangreichen Fachbibliothek, Graphiken, Fotografien, Filmdokumenten und Drucksachen rückt das Mitteldeutsche Marionettentheatermuseum in Bad Liebenwerda auf einen Schlag zur internationalen Spitze der Puppentheatermuseen auf. So ermöglichen die neuen Bestände nicht nur eine noch breitere Erforschung der regionalen Sammlung im nationalen Kontext, sondern sie erlauben darüber hinaus internationale Vergleiche zur weltweit präsenten Tradition des Puppenspiels.
Reicht die Geschichte des deutschen Figurentheaters zwar weit zurück, so befindet sich ihre Erforschung noch vergleichsweise am Anfang. Erst mit dem 20. Jahrhundert wurden die bewegten Figuren, ihre Spieler und Bühnen Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen. Auch die Hälfte aller Einrichtungen, die sich des Themas als Gewerbe, Volkskunst oder Kunst annehmen, wurde erst in den letzten 30 Jahren ins Leben gerufen. Wenn auch inzwischen aus verschiedenen Perspektiven wie der Pädagogik, Ethnologie, Musikgeschichte, Theater- oder Literaturwissenschaft untersucht, so blieben doch einige Teilbereiche zum Puppenspiel bislang gänzlich unerforscht. Und dennoch: Die Anerkennung des Figurentheaters als darstellende Kunst wächst. Nicht zuletzt tragen hierzu Bildungsangebote wie die der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart und der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin bei, die seit rund 40 Jahren „Zeitgenössische Puppenspielkunst“ und „Figurentheater“ als Studiengang oder Ausbildung anbieten.
Dank der geglückten Erwerbung des Mitteldeutschen Marionettentheatermuseums gelangten nun Handpuppen und Marionetten aus Deutschland, Stabmarionetten aus Böhmen und eine beeindruckende Vielzahl an historischen Handpuppen aus Italien, Belgien, Frankreich und England ebenso wie zahlreiche Marionetten, Stabfiguren und Schattenfiguren aus Indien, China und Indonesien ins Elbe-Elster-Land. Filigran geschnitzte Köpfe, reich verzierte Kostüme: Selbst ungespielt wohnt den Figuren ein ganz eigener Charakter inne – dem chinesischen General mit prunkvollem Kopfschmuck aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ebenso wie dem noch jüngeren Tarzan im zarten Leoparden-Kleid (s. Seite 6). Zur Kollektion des Museums gesellen sich aus der Privatsammlung Brockmüller ferner beeindruckende afrikanische Figuren sowie Figuren des traditionellen, jahrhundertealten vietnamesischen Wassertheaters, die im Spiel unter der Wasseroberfläche mit Bambusstöcken bewegt werden. Dutzende Figuren zeugen von der reichen Handwerkskunst der Thüringer Kasperschnitzer. Neben Objekten aus der Rhön und Franken sammelten die Puppentheaterenthusiasten Uwe und Karin Brockmüller aber auch europäische „lustige Figuren“ wie die der Commedia dell’arte entlehnten Pulcinella-Puppen oder die Verkörperungen des französischen Puppentheaterhelden Guignol. Besonders kostbar sind die rund 150 Hohnsteiner Handpuppen des Schnitzers Theo Eggink aus dem Erzgebirge, teilweise entstanden in der frühen Zeit des Figurentheaters in der Sächsischen Schweiz um 1924. Dagegen fast lebensgroß sind die sizilianischen Stangenmarionetten gefertigt. Als Meisterwerke der italienischen Schnitzkunst – dem immateriellen Kulturerbe der UNESCO zugehörig – gelten sie als kaum mehr auf dem Markt erreichbare, hochbegehrte Sammelobjekte.
Eines wird bei der Betrachtung des internationalen Figurenkosmos schnell deutlich: Es braucht ohne Zweifel viel Geschick und Übung, um die zarten Fäden an der richtigen Stelle zu ziehen, die sperrigen Stäbe fließend zu bewegen und die eigenen Hände so zu koordinieren, dass die Illusion eingehauchten Lebens über die ganze Vorstellung bestehenbleibt und sich das Publikum unterhalten fühlt.
In Bad Liebenwerda ist man glücklich über die Internationalität und Vielfalt, die nun mit der Sammlung Brockmüller ins Museum einzieht. Schließlich wird auch das Internationale Puppentheaterfestival im Elbe-Elster-Land, das 2016 zum 18. Mal unter künstlerischer Leitung Olaf Bernstengels stattfand, vom enorm erweiterten Puppentheater-Kosmos profitieren. Wie eine Klasse voller Kinder, deren Charaktere, Biographien und Talente man mit ihrer Einschulung erst kennenlernen muss: So empfindet Ralf Uschner den glücklichen Neuzuwachs in der Liebenwerdaer Sammlung. Der 2009 verstorbene Schweinfurter Sammler Brockmüller hinterließ einen bestens dokumentierten Bestand, der die Herkunft aller Figuren verzeichnet und so eine genaue Zuordnung zu Spielorten und Herstellern ermöglicht – beste Voraussetzungen also für die weitere wissenschaftliche Erforschung in Bad Liebenwerda.
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, Ostdeutsche Sparkassenstiftung, Sparkassenstiftung „Zukunft Elbe-Elster-Land“