Nachdem die Mitglieder des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder im Rahmen ihrer Mitgliederversammlung 2023 nach Braunschweig gereist waren, führte sie eine Besichtigung durch die Werkstätten des Herzog Anton Ulrich-Museums. Dort fiel ihr Blick auf ein prunkvolles und zugleich von den Spuren der Zeit gezeichnetes Möbelstück: einen von August Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel (1662–1731) beauftragten Sammlungsschrank. Unbestritten war er einst mit Erfindungsgeist, großer Liebe zum Detail und größter handwerklicher Sorgfalt geschaffen worden. Dass er ein Geheimnis verbarg, ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.
Geduldig zeigte die Restauratorin Ursel Gaßner die kunstvollen, teilweise beschädigten Schnitzereien, machte aufmerksam auf die losen, fehlenden und farblich veränderten Holzfurniere und auf wenig geglückte frühere Retuscheversuche. So wurde deutlich, welche besonderen Herausforderungen eine Restaurierung mit sich bringen würde. Dank eines Spendenaufrufs in Arsprototo, mithilfe der vor Ort durch die Freundeskreismitglieder veranlasste Taschenspende von rund 9.500 Euro und der Förderung durch mobile Gesellschaft der Freunde für Möbel- und Raumkunst ist seitdem viel geschehen: Die Restauratorinnen vergoldeten die lebhaften Schnitzwerke neu. Wo es nötig war, wurden teils gebrochene Partien geklebt oder fehlende Bestandteile nachgeschnitzt. Alle im Inneren angebrachten Spiegel reinigten die Restauratorinnen sorgfältig und überarbeiteten auch die feuervergoldeten Messinggitter an der gläsernen Vitrinentür. Nachdem oxidationsbedingte Ablagerungen entfernt wurden, kommt das spannungsvolle Wechselspiel zwischen matten und glänzend polierten Flächen im Rankenwerk wieder neu zur Geltung. Zuletzt wird nun die Lackbeschichtung rekonstruiert, um die ursprünglichen Farbnuancen der Holzfurniere und die Leuchtkraft eines barocken Glanzlacks wiederherzustellen. Während frühere Überarbeitungen mit Schelllack und Dammarharz die Farben vereinheitlicht hatten, soll nun die Differenzierung von hellen Eschenhölzern bis hin zu dunklen Palisandereinlegearbeiten sichtbar werden. Die Entschlüsselung der originalen Lackrezeptur gelang durch wissenschaftliche Untersuchungen an einem Schrankzwilling. Denn von den zehn durch August Wilhelm beauftragten Sammlungsschränken haben sich heute noch vier Möbel im Museum erhalten. Der restaurierte Sammlungsschrank wird als erster Vertreter für diese Gruppe bald wieder Teil der umfassenden Dauerausstellung sein.
Seinen ursprünglichen Auftraggeber hätte diese Aussicht sicherlich gefreut, schließlich war August Wilhelm ein stolzer Sammler. Für den großen repräsentativen Sammlungsraum im Südflügel seines neuen Schlosses, des ab 1717 errichteten Braunschweiger Residenzschlosses, ließ August Wilhelm die kunstvolle Schrankgruppe als Aufbewahrungsmöbel mit Botschaft anfertigen. Denn in einer Zeit, in der Wissen als kostbares Gut betrachtet wurde, verlieh August Wilhelm durch seine Sammlung seinem erheblichen materiellen Besitz Ausdruck. Doch zugleich dokumentierte er mit den erlesenen Pretiosen und einer durchdachten Anordnung seinen aufgeschlossenen Geist, seine wissenschaftliche Neugier sowie seinen Kunstgeschmack. In den kunstvollen Sammlungsschränken kamen die kleinen Kostbarkeiten aus Edelstein, Elfenbein, Gold, Silber, Perlen und Bernstein optimal zur Geltung: Große Glasflächen beließen die Stücke sichtbar, schützen sie zugleich aber vor Staub. Spiegel reflektierten die vielfältige Fülle und unterstützen den Eindruck einer geradezu geheimnisvollen Auswahl.
Ein wirkliches Geheimnis lüfteten die Restauratorinnen erst kürzlich, beinahe 300 Jahre nach der Entstehung des Schrankes, als im oberen Teil des Gesimses ein feiner Riss von 3 mm Breite auffiel. Er führte in einen kleinen Hohlraum, der ein auf die Jahre 1729/1730 datiertes Schriftstück verbarg. Hierin gibt sich der namentlich bekannte Braunschweiger Meister Johann Ulrich Staats als Schöpfer der Möbelgruppe zu erkennen. Durch diesen außergewöhnlichen Fund tritt er als Künstlerpersönlichkeit klar hervor. Die unerwarteten Erkenntnisse der Restaurierung eröffnen neue Perspektiven für die Forschung zu seinem Œuvre und zum regionalen Kunsthandwerk und sind Gegenstand weiterführender Projekte am Herzog Anton Ulrich-Museum.