Der spätromantische Archäologe

Herbst 1966, ein Messegast in Leipzig, mit einem Besucherausweis einer westdeutschen Stahlfirma als Tarnung, aber eigentlich „Geheimagent in Sachen Kunst“, wie er sich selbst nennt: Der noch relativ unbekannte Hannoveraner Galerist Dieter Brusberg fühlt sich in seinem Leipziger Hotel von einem Ensemble wandhoher Bilder Werner Tübkes erdrückt und macht sich auf die Suche nach der anderen Kunst der DDR. „Ich suchte eine Kunst, die in diesem Land nichts galt. Weniger als nichts: zersetzend.“ Er findet sie eine Stunde entfernt in der alten Residenzstadt Altenburg im Thüringischen, im zerfallenden Irgendwo. Am Rand der Stadt verborgen in einer kleinen Gasse eine verwunschene, zugewachsene kleine Villa mit einem Garten voller seltener Gewächse und seltsamer Steinskulpturen: Am Braugartenweg lebt im ursprünglichen Elternhaus, das er im Lauf der Jahrzehnte zu einem Gesamtkunstwerk mit Skulpturen und bauplastischen Reliefs umgestaltet, inmitten seiner Graphiken, Zeichnungen und zwischen Bergen von aufgeschlagenen Büchern der wohl eigenwilligste Zeichner des ostdeutschen Staats. Schon damals umwittert von geheimnisvollen Legenden, malt und zeichnet hier der noch wenig bekannte Altenbourg – weit weg vom „Realismus Leipziger Provenienz“, der „Staatskunst“ und dem „Verrat an der Moderne“ (Brusberg). Der Galerist entdeckte dort begeistert „gezeichnete Gedichte und gemalte Lieder, großes, intimes Welttheater, wirbelnde Reigen, Mittsommernachtsträume, panische Stunden, Turbulenzen der Liebe in funkelnden Grotten, märchenhaften Wäldern, in entrückten grau-silbernen Landschaften“.

Gerhard Altenbourg, Wie ägyptische Gottheiten bekrönt, undatiert
Gerhard Altenbourg, Wie ägyptische Gottheiten bekrönt, undatiert

So lernt Brusberg Gerhard Ströch kennen, der sich ab 1955 Gerhard Altenbourg nennt und nahezu sein ganzes Leben in diesem Haus verbringt, das der Vater, ein Baptisten-Prediger, 1932 bauen ließ. Altenbourg, 1926 in Rödichen bei Friedrichroda im Thüringischen geboren, ist ein künstlerischer Sonderling. Geprägt von Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg – 1944 tötet er beim Sturm auf den Dukla-Pass einen gegnerischen Soldaten –, zeigt Altenbourg den fratzenhaften Schrecken neben traumgleichen Naturstudien, den bitteren Spott neben kühnen Phantasmagorien: ein immenses motivisches und koloristisches Repertoire. Seine Bildwelten unterscheiden sich damit fundamental vom offiziellen Kunstkanon der DDR. In seiner stillen, selbstgewählten Exklave hat Altenbourg seit den 1950er Jahren eine Zeichenkunst erfunden, die die Einflüsse der klassischen Moderne und des Surrealismus, von Paul Klee und Lyonel Feininger, von Max Ernst oder Wols und auch der Wiener Sezession erkennen lässt; eine Kunst, die weder dadaistische Vorläufer noch romantische Einflüsse leugnet, sich dafür aber in Lithographien und Radierungen, Künstlerbüchern voller Poesie und anspielungsreichen Zeichnungen überdeutlich von offiziellen Kunstauffassungen absetzt. Seine Bilder sind dichte, meist – ohne plakative Opulenz – farbenreich gestaltete, phantastisch anmutende Blätter. So zeitlos und historisch entrückt seine skurrilen Bilderfindungen zunächst erscheinen mögen, so verwebt Altenbourg doch in seinen Blättern Motive aus seiner geliebten und bei Tag und Nacht vielfach erwanderten Landschaft der umliegenden thüringischen Natur – „die Farbigkeit der Nächte“, so sagt er selbst, „ist enorm“. Er bezieht sich auf antike Mythen, biblische Geschichten und Motive der spätmittelalterlichen Malerei. Auf dieser manchmal hermetisch anmutenden Folie der Imagination fließt in seinem Bildkosmos in enormer Varianz alles Dargestellte ineinander, Figuren und Köpfe werden zu Landschaft, Landschaft verwandelt sich in Physiognomie. Altenbourg wählt einen hohen Horizont und breitet die Landschaft dann nicht in ihrer Weite aus, sondern geht in die Tiefe der thüringischen Hügel. Fast wie eine geologische Tiefenerkundung, so wirken einige seiner Bilder wie flächige, kraftvoll gemaserte Querschnitte in unbekannte Schichten der Natur, in die Tektonik der Erde. Sie wird zu seiner intimen Seelenlandschaft: „Ich liebe die Struktur, das innere Gefüge der Dinge, die Struktur als Zeichen, als Hieroglyphe“, sagt Altenbourg 1958, „Grabungen in den Wildnissen der Psyche“ nennt er seine Kunst ein anderes Mal. Der spätromantische Archäologe lässt das Vegetabile triumphieren über das Realistisch-Konkrete, das in dieser Zeit en vogue gewesen ist. In dieser motivischen Opposition ist er den Kunstbeauftragten des ostdeutschen Staates längst suspekt und steht unter strenger Überwachung. Seinem hermetisch anmutenden, fast abstrakten Bilderkosmos ist schlecht beizukommen. Altenbourg wird in der DDR weiter in die Isolation gedrängt. Von der Kunsthochschule in Weimar hat man den Studenten Anfang der fünfziger Jahre wegen „Amoralität seiner Motivwahl“ und „dekadenten künstlerischen Auffassungen“ verwiesen. 1957 richtet ihm das Altenburger Lindenau-Museum zwar eine erste Ausstellung aus. Obwohl oder weil er bereits 1959 an der Documenta II in Kassel teilnimmt, wird er in der DDR in der Folge ängstlich ignoriert und observiert. Später nennt man ihn gar einen „negativen Bildkünstler der DDR“. Doch in Westdeutschland findet er bald Förderer, Rudolf Springer zeigt Werke Altenbourgs mehrfach in seiner Berliner Galerie und verkauft sogar ein Blatt an das New Yorker Museum of Modern Art.

Der umtriebige und forsche Dieter Brusberg wird Altenbourg Ende der sechziger Jahre ein vitalerer Promoter seiner Kunst. In der Folge macht der Galerist mit Ausstellungen den Künstler einem Sammlerpublikum im Westen stärker bekannt. 1969 folgt eine Retrospektive, die in Hannover, Baden-Baden, West-Berlin, Hamburg und Düsseldorf gastiert. Bereits 1964 hatte Brusberg ein Sammlerehepaar auf Altenbourg aufmerksam gemacht. Wilfried Rugo, Ost-Beauftragter eines Saarbrücker Stahlunternehmens, und seine Frau Astrid tragen in den folgenden Jahrzehnten die größte private Sammlung Altenbourgscher Werke zusammen. Sie werden, da sie nach Altenburg reisen können, auch zu leidenschaftlichen Besuchern des Künstlers am Braugartenweg. Dort öffnet ihnen zumeist Anneliese Ströch, die mit ihrem Bruder Gerhard alle Jahrzehnte im elterlichen Haus wohnt und ihn unterstützt. Altenbourg, der feines Tuch liebt und Maßanzüge seines Berliner Schneiders trägt, kommt bestens gekleidet die Treppe hinunter, „mit fabelhaft gewichsten Schuhen“. Das Ritual bleibt über die Jahre gleich – mit etwas Glück erhaschen die Rugos einen Blick ins Atelier, wo Altenbourg seine aktuellen Blätter an Wäscheleinen aufzuhängen pflegt. Manchmal können sie einiges erwerben, manchmal müssen sie jahrelang auf ein begehrtes Blatt warten, da sich der Künstler nicht trennen will. Im Gegenzug schicken sie dem vielbelesenen und hochgebildeten Eremiten ersehnte Bücher von Gottfried Benn oder James Joyce oder verzücken Altenbourg mit der Übersendung einer honigfarbenen Fliege nebst passenden Tüchern. Dringend benötigtes qualitätvolles Arbeitsmaterial wie kostbares Papier, Kreiden und Farbe lässt er sich kommen. Das teure Papier wird im Garten gerne auf seine Lichtempfindlichkeit getestet und in der Sonne immunisiert. Mit großer Präzision bezeichnete Altenbourg immer seine Blätter. „Tempera, Gouache, Kasein-Farbe, Aquarell und Chinesische Tusche auf Richard de Bas‚ couleurs chinées blanc’ mit weißen Fasern, hellbraun“ fügt er dann seinen beziehungsreich gewählten Bildtiteln hinzu. Seit dem letzten Jahr hat die Sammlung Rugo im Altenburger Lindenau-Museum ihre neue Bestimmung gefunden. Dort sammelt man den Sohn der Stadt seit langem, doch jetzt kann das Museum die größte Altenbourg-Kollektion überhaupt sein eigen nennen. 111 Arbeiten, darunter Hauptwerke wie „Der Tod der Matrosen“, „Flügelt empor“, „Rahel entschreitet“, „Silence: Silence, Silence“, „Ach, all das Vergangene“ und Künstlerbücher mit kostbaren Miniaturen und Farbholzschnitten wie das 1984 von Brusberg in einer „West-Ausgabe“ herausgegebene „Wund-Denkmale“ (die „Ost-Ausgabe“ erschien bei Reclam Leipzig) bereichern die vorhandene Druckgraphik Altenbourgs – 1996 konnte bereits die Sammlung Gisela und Hans-Peter Schulz erworben werden – um wichtige Zeichnungen und Aquarelle. Gerhard Altenbourg erlebte in den 1980er Jahren schließlich auch in der DDR noch die verdiente Wahrnehmung seiner einzigartigen Bilderwelt. 1986/87 feierte ihn endlich eine umfangreiche Retrospektive in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin zu seinem sechzigsten Geburtstag. Tragisch dann sein Tod bei einem Autounfall im Dezember 1989. Einige Tage zuvor war er noch auf Einladung Helmut Kohls zu einem Treffen mit anderen Künstlern nach Dresden gefahren.