Gemalte Briefe

Ich möchte Ihnen übrigens doch Ihr Bildnis, wenn es Ihnen gefällt als Schenkung an Ihre Sammlung überlassen nach der Ausstellung […] Sie sind so gut und nobel gewesen dass das nur der schuldige Dank von mir wäre“, schrieb Ernst Ludwig Kirchner am 26. März 1933 an Carl Hagemann. Seit spätestens 1915 korrespondierte der Künstler mit dem Frankfurter Sammler und Mäzen, der 1867 in Essen geboren wurde und 1920 in die Mainmetropole übergesiedelt war, um dort die Leitung der Cassella Werke in Mainkur (später I.G. Farbenindustrie) zu übernehmen. Obgleich seiner erfolgreichen Laufbahn in der Chemiebranche, galt doch seine Liebe schon früh den Künstlern der eigenen Zeit – insbesondere den Malern der „Brücke“ und Ernst Ludwig Kirchner –, deren wichtiger privater Förderer er werden sollte.

Ernst Ludwig Kirchner, Farbstiftskizze zum Hagemann-Teppich. Aus dem Brief von Ernst Ludwig Kirchner an Carl Hagemann vom 12. Februar 1932
Ernst Ludwig Kirchner, Farbstiftskizze zum Hagemann-Teppich. Aus dem Brief von Ernst Ludwig Kirchner an Carl Hagemann vom 12. Februar 1932

Doch nicht nur Kirchner: Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu seinem Tod 1940 korrespondierte Hagemann mit verschiedenen Künstlern, darunter Emil Nolde, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Wilhelm Nay, aber auch mit Museumsdirektoren wie Ernst Gosebruch. Rund 1.000 Briefe an den Sammler, Förderer und Freund Hagemann haben sich erhalten – und hiermit nicht weniger als ein einzigartiges Zeugnis seiner Fürsprache für die moderne Kunst und der Entwicklungsgeschichte der klassischen Moderne. Als regelmäßiger Besucher des Folkwang-Museums seiner Vaterstadt (und bald Vertrauter des Direktors Ernst Gosebruch) hatte sich Hagemanns Begeisterung für den deutschen Expressionismus 1909 auf einer großen Nolde-Ausstellung in Essen wahrhaft entzündet, so dass er zur Freude des Künstlers 1912 gleich zwei bedeutende Gemälde erwarb: „Es war uns eine Überraschung, daß Sie gleich zwei Bilder behalten haben, aber es freut mich daß Sie wohl nicht anders konnten als 2 behalten.“ (Emil Nolde an Carl Hagemann, 6. Februar 1912)

Seit 1916 wandte er sich jedoch den Malern der bereits 1913 aufgelösten Künstlervereinigung „Brücke“ – und unter diesen insbesondere Ernst Ludwig Kirchner zu –, die er in vielerlei Hinsicht, vor allem durch Ankäufe ihrer Werke, unterstützte. So entstand im Laufe der Zeit eine der bedeutendsten Sammlungen des deutschen Expressionismus mit den Werken Kirchners im Zentrum. „[…] ich freue mich immer, wenn ich höre, dass Hagemann wieder etwas erworben hat und andere auch. Hagemann muss eine interessante Sammlung meiner Arbeiten haben. Ich hoffe sie mal zu sehen, wenn ich nach Frankfurt komme.“ (Ernst Ludwig Kirchner an Ernst Gosebruch, 4. Januar 1925)

1927 erhielt Kirchner von Hagemann den Auftrag zu einem Vorhang, aus dem ein Hauptwerk der jüngeren Textilkunst wurde: der Hagemann-Teppich „Das Leben“, mit knapp drei mal drei Metern die monumentalste und an Motiven reichste Webarbeit des Expressionisten. „Lieber Herr Doktor, ich sende Ihnen hier eine flüchtige Skizze es [sic!] Vorhanges, wie ich ihn mir ungefähr denke. Ist Ihnen das Gegenständliche und die ungefähre Farbe so recht? […] Wenn Sie einverstanden sind mit dem Muster, soll das Weben gleich losgehen.“ (Ernst Ludwig Kirchner an Carl Hagemann, 18. Oktober 1927) Von demselben Jahr an verfolgte Hagemann engagiert die Ausgestaltung des Festsaals im neu erbauten Museum Folkwang in Essen, für die er ansehnliche Mittel zur Verfügung stellte. Es ist erneut Kirchner, der die Wandmalereien realisieren soll und seinem Förderer mitteilt: „Nun kam auch endlich aus Essen der Plan des Festraumes. […] Es interessiert mich so, diese grossen Flächen zu gestalten. […] Es ist das für mich fast eine Lebensaufgabe und ich möchte alles was ich kann und empfinde darin zusammen fassen.“ (Ernst Ludwig Kirchner an Carl Hagemann, 6. August 1927)

Um so größer war die Enttäuschung bei allen Beteiligten darüber, dass dieses Vorhaben schließlich nicht verwirklicht werden konnte. Die letzte Phase der immer weiter reduzierten Vorarbeiten reichte in die unselige Zeit des beginnenden Nationalsozialismus hinein. Carl Hagemann, Ernst Gosebruch und die Maler, die sich bei aller Orientierung an französischer Kunst doch der Tradition des eigenen Landes verbunden fühlten, mussten erleben, dass sie nun als „undeutsch“, als „entartet“, galten. So lässt Kirchner Carl Hagemann im Mai 1933 aus Davos wissen: „Ich bin ein wenig müde und traurig über die Verhältnisse drüben. Es liegt Krieg in der Luft. In den Museen wird jetzt die mühsam errungene Kultur der letzten 20 Jahre vernichtet. Dabei hatte ich seinerzeit doch Brücke [sic!] extra deshalb gegründet um deutsche echte Kunst, die in Deutschland gewachsen war zu pflegen. Das soll jetzt undeutsch sein. Ach Gott. Mir geht das doch ein wenig ans Herz.“ (Ernst Ludwig Kirchner an Carl Hagemann, 12. Mai 1933) Die 369 Briefe Kirchners mit teils farbigen Zeichnungen bilden den Schwerpunkt des Konvolutes der Künstlerbriefe. Daneben liegt das Schwergewicht bei der Korrespondenz mit Ernst Gosebruch (1872–1953), der zu den wichtigen Museumsdirektoren seiner Generation zählt. Gosebruch hat die Sammlung Osthaus für Essen gewinnen können und aus enger Beziehung zu den Künstlern seiner Zeit entsprechende Erwerbungen getätigt. Er hat Carl Hagemann in vieler Hinsicht geholfen, Kenntnisse zu entwickeln, Verbindungen aufzunehmen und Entscheidungen zu treffen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 konnte sich Gosebruch jedoch in seiner Stellung nicht mehr halten und musste sich ins Privatleben zurückziehen. Von ihm enthält das Konvolut 236 Dokumente, darunter zahlreiche Briefe, die sich auf die Ausmalung des Festsaales in Essen und auf die drohende Entlassung unter dem Druck der Nationalsozialisten beziehen:

„Hier ist noch Alles in der Schwebe, auf die Dauer ein zermürbender Umstand. Meine Beurlaubung ist noch nicht ausgesprochen. Vielmehr sollen die gegen meine Leitung erhobenen Vorwürfe erst schriftlich formuliert werden, und ich habe Gelegenheit, mich zu verantworten. Die hinter dem Museum stehenden Kunstfreunde aus der Industrie treten sehr tapfer für mich ein […] Alles in Allem ist die Situation sehr brenzlich, kaum mehr Hoffnung auf eine günstige Regelung gebend. Jedenfalls bin ich mit meiner Frau auf Alles gefasst und wir überlegen schon eifrig, was wir nach der Kaltstellung anfangen sollen.“ (Ernst Gosebruch an Carl Hagemann, 11. April 1933)

Neben den Schreiben Kirchners und Gosebruchs finden sich weitere prominente Absender, so, um nur die wichtigsten zu nennen, Erich Heckel, Otto Mueller, Karl Schmidt-Rottluff, Emil Nolde, Christian Rohlfs und Ernst Wilhelm Nay, die Bildhauer Hermann Blumenthal, Gustav Heinrich Wolff und Christian Theunert sowie die Maler Hans Jürgen Kallmann und Bernhard Schröder-Wiborg. Die Briefe zeugen von einem außergewöhnlichen Vertrauen zwischen den Künstlern und ihrem Förderer und liefern wertvolle Informationen zu ihren Biographien und zur Genese ihrer Werke. In vielschichtiger Weise dokumentieren sie nicht nur die kunsthistorische, sondern auch die zeitgeschichtliche Entwicklung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Nachdem Carl Hagemann 1940 durch einen Unfall ums Leben gekommen war, konnte seine umfangreiche Sammlung an Gemälden und über 1.600 Blatt Zeichnungen bzw. Druckgraphik dank des Engagements und des Mutes von Ernst Holzinger, dem Direktor des Frankfurter Städels, vor dem Zugriff der Nationalsozialisten verborgen und so gerettet werden. Sie bildete nach dem Zweiten Weltkrieg einen der konstituierenden Grundstöcke der Sammlung zur Moderne des Städels. Der Briefwechsel Hagemanns wurde lange Zeit von dem Frankfurter Museum für die Familie Hagemann verwahrt und liegt erst seit 2004 in publizierter Form vor. Im selben Jahr wurde der Max Beckmann Gesellschaft das wertvolle Briefkonvolut aus Familienbesitz zum Kauf angeboten. Zugehörig zu den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen hat das Archiv seit Anfang der 1980er  Jahre einen bedeutenden Zuwachs an Autographen und anderen Materialien erhalten. Mit dem Hagemann-Konvolut ist nun ein zweiter großer Schwerpunkt geschaffen worden, von dem aus sich vielfältige, auch spannungsvolle Bezüge zur Kunst Max Beckmanns ergeben.

Nur wenige Briefe und Notizen von Carl Hagemann sind durch den Briefwechsel überliefert, wohl aber sein Testament mit Bemerkungen vom 4. Dezember 1937. Hierin wendet sich Hagemann an seine Geschwister, denen er seine Habe und Kunstsammlung mit „Werke[n] meiner Künstlerfreunde“ vermacht. Diese sollen an deutsche Museen gestiftet oder verkauft werden. „Nun seht mal zu was sich machen lässt!“, fordert Hagemann zum Schluss darin auf, „dass mir meine Sammlungen sehr am Herzen gelegen haben, wisst Ihr ja!“ – und was könnte nicht weniger für seine Briefe gelten, was auch für seine Sammlung zählt?