Wir sind alle Berliner

Vor Gott seien eigentlich alle Menschen Berliner, schrieb Theodor Fontane. Vor welchem Gott, könnte man fragen in einer Stadt, der man übersteigerte Frömmigkeit und Kirchentreue noch nie unterstellt hat; wo schon im alten Preußen jeder nach seiner Façon selig werden sollte und heute alle nur denkbaren Religionen mit lebendigen Gemeinden zu Hause sind – unter anderem ist Berlin die größte türkische Stadt außerhalb der Türkei. Gott hin oder her, was Fontane meinte und was immer noch gilt: Es braucht kein Privileg, keine lange Ansässigkeit oder familiäre Tradition, um als Bürger dieser Stadt zu gelten. In Berlin reicht eine Anmeldebestätigung, um sich hier zu Hause zu fühlen; niemand wertet hier zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen, es ist eine durch und durch offene Stadt.

Manchen reicht der berühmte Koffer in Berlin, um hier ihre geistige Heimat zu markieren. Bei John F. Kennedy war es die Überzeugung, die Enklave West-Berlin gegen die Bedrohung der Sowjetunion zu verteidigen, um 1963 vor dem Schöneberger Rathaus seine weltberühmten vier Worte zu sagen. „Ich bin ein Berliner“ – der Satz aus dem Kalten Krieg ist zeitlos geworden und lässt sich auch auf die heutige Situation der Kulturmetropole übertragen: Unzählige Menschen aus ganz Deutschland und zunehmend aus der ganzen Welt kamen nach dem Epochenbruch von 1989 in die alte, neue deutsche Hauptstadt, um sich an deren Kulturleben zu beteiligen. Künstler aller Gattungen, Galeristen und Verleger, Kritiker und Kulturpolitiker, Museumsleute und Sammler, Underground-Freaks und Gralshüter des Hochgeistigen – sie alle wollten Berliner werden, etwas aufbauen, an den staatstragenden Renommierprojekten teilhaben oder mit originellen Projekten in offene Nischen stoßen, in freier Atmosphäre Experimente jedweder Art ausleben, kurz: mitmischen im vibrierenden Kunstleben dieser Stadt.

Das 2006 wiedereröffnete Bode-Museum auf der Berliner Museumsinsel
Das 2006 wiedereröffnete Bode-Museum auf der Berliner Museumsinsel

Aber nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung war Berlin erst einmal ein Versprechen. Nur mit knapper Mehrheit beschloss der Bundestag am 20. Juni 1991, den Regierungssitz vom Rhein an die Spree zu verlegen. Den neuen Glanz, den eine wiederaufblühende Kapitale dem Land bringen sollte, konnten sich viele noch nicht vorstellen. Auch die Berliner waren skeptisch, zu übermächtig türmten sich in den Neunzigern die Probleme. Der Westteil ein hoch subventioniertes Schaufenster des Kapitalismus, der Ostteil die Renommierhauptstadt des Sozialismus – das war über Nacht vorbei, und das nun doppelt so große, aber wirtschaftlich immer schwächer werdende Land Berlin war mit den anstehenden Aufgaben heillos überfordert. Um so inbrünstiger wurde damals die Erinnerung an die „Goldenen Zwanziger“ beschworen, auch New York war ein gern und oft zitiertes Vorbild.

Die Realität sah anders aus. Eine über 40 Jahre geteilte Stadt musste zusammenwachsen, ein mühseliger Prozess, der vor allem in zwischenmenschlicher Hinsicht noch lange nicht abgeschlossen ist. Auf einmal gab es alles doppelt: zwei Verwaltungsapparate; zwei Hochschullandschaften; drei Opern, deren Finanzierung Berlin bis heute beutelt; ein so reichhaltiges Bühnenangebot, dass sogar einige Häuser (darunter die Freie Volksbühne, das Metropol-Theater und selbst das ehrwürdige Schillertheater) zumachen mussten; zwei Stadtmuseen, die man zu einer vielteiligen Stiftung zusammenfasste; zwei Staats- und zwei Stadtbibliotheken, beides langjährige Problemfälle; zwei berühmte Konzertsäle, drei Orchester von Weltrang und zahlreiche andere Klangkörper von überregionaler Ausstrahlung – die Aufzählung ließe sich lange fortführen. Überall mussten Lösungen gefunden werden, und im Rückblick ist zu bewundern, wie viel in dieser Neuordnung mit visionärer Weitsicht gelungen ist. Naturgemäß geriet manches auch weniger gut und bereitet bis heute Kopfzerbrechen, etwa die sinnvolle Koordination der drei Opernhäuser oder die chronische Überlastung der wissenschaftlichen Bibliotheken.

Eine epochale Großleistung war die Wiedervereinigung der Staatlichen Museen unter dem Dach der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Auch hier existierte nach dem Mauerfall fast alles zwei Mal. Wolf-Dieter Dube und Günter Schade, den damaligen Generaldirektoren aus West und Ost, gelang es, fünfzehn Sammlungen und deren Mitarbeiter aus Ost und West in freundschaftlicher, nach vorne gerichteter Atmosphäre zusammenzuführen. Es gab Umstrukturierungen, Neuordnungen der Bestände und Umzüge, einige Häuser wie die Nationalgalerie oder das Kunstgewerbemuseum behielten ihre Aufteilung auf zwei oder noch mehr Standorte. Schließlich entstand der visionäre Masterplan zur Museumsinsel, den der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 1999 zum zentralen deutschen Kulturprojekt erklärte. Die Spreeinsel mit ihren fünf geschichtsträchtigen Häusern, angefangen mit Schinkels Altem Museum, der ersten öffentlichen Galerie Preußens von 1830, entwickelt sich immer mehr zum Kraftzentrum der Berliner Kunstlandschaft, ja zu einem Kulminationspunkt der deutschen Kulturnation. In einzigartiger Dichte und Fülle sind hier die Artefakte seit den Anfängen der Menschheit über die vorderasiatischen Hochkulturen und das alte Ägypten, Griechenland und Rom, Byzanz und das europäische Mittelalter bis zur Kunst des 19. Jahrhunderts versammelt. Nach den Sanierungen und glanzvollen Wiedereröffnungen der Alten Nationalgalerie (2001) und des Bode-Museums (2006) ist seit Oktober 2009 auch das jahrzehntelang als Kriegsruine zerfallende Neue Museum wiederauferstanden: Dessen spektakuläre Restaurierung und Teilrekonstruktion durch den britischen Architekten David Chipperfield hat seither schon hunderttausende Besucher begeistert, und Berlins berühmtestes Kunstwerk, die farbige Büste der Nofretete, ist hier in einem eigenen Kuppelraum so herrlich präsentiert wie noch nie zuvor.

Was auf der Museumsinsel noch fehlt, sind die Alten Meister der europäischen Malerei, mit denen 1830 Berlins Galeriegeschichte im Alten Museum begann. Sie sollen von der Gemäldegalerie am Kulturforum an ihren angestammten Ort, das Bode-Museum, zurückkehren und dort gemeinsam mit den Skulpturen eine gattungsübergreifende Kunstgeschichte darstellen. Noch ist dieser „Masterplan II“ leider Zukunftsmusik, ebenso wie die Umgestaltung des Kulturforums am Potsdamer Platz zu einem Zentrum der Moderne. Und dann ist da noch die dritte Planwerkstatt der Staatlichen Museen, diesmal in Kooperation mit der Humboldt-Universität und der Berliner Landesbibliothek: das Humboldt-Forum hinter den zu rekonstruierenden Fassaden des Hohenzollern-Schlosses. Hier sollen die hoch bedeutenden, aber kaum besuchten außereuropäischen Sammlungen aus Dahlem endlich das Rampenlicht und das internationale Publikum bekommen, das ihnen gebührt. Lernzentrum und Wissenstheater, eine Agora für den Dialog der Weltkulturen – das schwebt den Initiatoren des Humboldt-Forums über die reine Museumspräsentation hinaus vor. Noch wird heftig debattiert über dieses Großprojekt, aber auch das gehört ja untrennbar zum Kulturleben dieser Stadt: Die Berliner lieben die Diskussion, und wenn es sein muss, treiben sie den öffentlichen Streit über Jahre hinweg. So geschehen bei der quälend langen Suche nach einer passenden Form des Holocaust-Gedenkens, bis Peter Eisenman sein monumentales Stelenfeld beim Brandenburger Tor errichtete. Ob die inhaltliche Ausrichtung des Jüdischen Museums, das heute jährlich 750.000 Besucher anzieht, der Abriss des Palastes der Republik und die Schloss-Rekonstruktion, die Aufnahme der Flick-Sammlung in den Hamburger Bahnhof oder die Umgestaltung des Zuschauerraums in der Staatsoper – über alles wurde vom Hauptstadtpublikum hingebungsvoll gestritten, nichts blieb unkommentiert. „Wissbegierige Besserwisser“ nannte Fritz Kortner, der Schauspieler und Theaterregisseur, 1959 die Berliner. Das sind sie bis heute geblieben.

Die schillernde Riesenarche der Staatlichen Museen darf nicht über den sonstigen Reichtum Berlins hinwegtäuschen. Denn zur Museumslandschaft dieser Stadt gehören mittlerweile rund 150 Einrichtungen, vom Alliierten-Museum zum Zucker-Museum, von den Bezirksmuseen bis zum Deutschen Technikmuseum, das selbst schon ein eigener Kosmos ist. Die Berlinische Galerie dokumentiert in ihren hervorragenden, oft unterschätzten Sammlungen die Kunst des 20. Jahrhunderts, die in diesem Stadtlabor der Moderne entstand. Das Bauhaus-Archiv bewahrt die Hinterlassenschaft des epochalen Innovationszentrums in Weimar und Dessau, während in Schloss Charlottenburg nicht nur eine Hohenzollernresidenz zu besichtigen ist, sondern auch Teile einer Gemäldesammlung von Weltrang, unter anderem eines der schönsten Ensembles französischer Malerei außerhalb Frankreichs. Lange ließe sich weiterschwärmen über den schier unerschöpflichen Reichtum an großen und kleinen, welthaltigen und skurrilen Museen. 13,4 Millionen Besucher kamen 2009 in die Berliner Museen, rund 400 Ausstellungen fanden hier statt. Dazu gehören übrigens auch die Erinnerungen an zwei Diktaturen, die im 20. Jahrhundert von der deutschen Hauptstadt ausgingen: etwa in der Villa der „Wannseekonferenz“, wo im Januar 1942 die Details des Holocausts geplant wurden, das ehemalige Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen oder die Mauer-Gedenkstätte an der Bernauer Straße.

Eine der größten Überraschungen war nach dem Mauerfall Berlins Aufstieg zur internationalen Metropole der Gegenwartskunst. Was in den frühen Neunzigern zaghaft mit ersten Galerien und dem Ausstellungshaus Kunst-Werke in maroden Häusern der Auguststraße begann, steigerte sich nach der Jahrtausendwende zu einem ungeahnten Boom. Mittlerweile gibt es über 400 Galerien in der Stadt, und der Strom der hierher ziehenden Künstler reißt nicht ab. Für den größten musealen Glamour sorgt Udo Kittelmann als Chef der Nationalgalerie und des Hamburger Bahnhofs. Aber das meiste verdankt die Berliner Kunstszene nach wie vor privatem Gründergeist. Händler richten Ausstellungen von Museumsniveau aus oder spüren junge Talente auf – es gibt kaum noch eine Biennale weltweit, auf der nicht Künstler aus Berlin vertreten sind. Sammler wie Erika Hoffmann, Christian Boros, Thomas Olbricht oder das Ehepaar Haubrok betreiben auf eigene Kosten Schauräume. Auch die Kunstmesse „art forum“, die allerdings den ganz großen internationalen Durchbruch noch nicht geschafft hat, das sehr viel erfolgreichere Gallery Weekend im Frühjahr oder die in aller Welt wahrgenommene Berlin Biennale gehen auf private Initiativen zurück. Und vor allem richten immer wieder die Künstler selbst spannende Projekte aus wie den Musik-Kunst-Club Westgermany, den Underground-Treffpunkt Basso, unzählige Produzenten-Spaces oder unlängst die höchst originelle Berlin Kreuzberg Biennale. Gerade diese Off-Kultur ist zu einem Markenzeichen der Berliner Szene geworden. Hier ist die Stadt in ständiger Bewegung, die Akteure wechseln, und rasant dreht sich das Karussell des Geschmacks.

Ähnliches ließe sich übrigens von den unzähligen Theaterbühnen, dem brodelnden, überreichen Musikleben oder aus den innovativen Architekturdebatten berichten. Und was wäre Berlin ohne die Berlinale, die jeden Februar die Stadt zum glamourösen Epizentrum der Filmwelt macht?

Berlin ist nicht, es wird. Und wieder einmal hat es sich in nur zwanzig Jahren grundlegend verwandelt. Die Veränderung und nicht die historische Statik macht den Reiz dieser Stadt aus. Schon Julius Meier-Graefe, der Kritiker-Prophet der Avantgarde, schrieb im Jahr 1914, nachdem er die Boomjahre des Kaiserreichs miterlebt hatte: „Berlin wurde heute fertig und kann morgen wieder abgerissen werden. Dieses Tempo braucht die moderne Kunst.“ Und auch Fernand Léger, der Berlin 1928 besuchte, war hin- und hergerissen von der urbanen Dynamik: „Die Stadt ist wie eine scharfe Säure, alles ist viel zu neu.“ Doch abschreckend ist Berlin trotz aller Rasanz nicht. Von der Fiebrigkeit und dem Völkergemisch in London oder New York, gar vom lauten Gewimmel in den Riesen-Metropolen Asiens und Lateinamerikas ist es himmelweit entfernt. In solchem Kontext erscheint Berlin eher beschaulich, zwar ohne Zweifel eine Weltstadt (nicht zuletzt durch das enorme kulturelle Angebot), aber alles andere als ein Moloch, ja in vielen Stadtteilen sogar von dörflicher Gelassenheit. Jeder kann es sich leisten, hier zu leben. Geld und Macht sind nicht ausschlaggebend, um in Berlin zu reüssieren. Mit Geist und Kreativität kann es jeder schaffen, gerade in den unzähligen Milieus des Kulturlebens. Was jemand gestern oder anderswo geleistet hat, war für die Berliner noch nie entscheidend. Es zählt das Hier und Jetzt, das ist aufregend genug.