Gedächtnisstützen

Statt funkelnden Augen rote Hälse und juckende Haut: Schimmelpilzbefall in den Papieren sorgte für spontane allergische Reaktionen. Damit hatte Elke-Vera Kotowski nicht gerechnet, als sie ihren Studierenden an der Universität Potsdam den neu entdeckten Teilnachlass Gabriele Tergits (1894–1982) unterbreitete. Denn schließlich war es ein kleiner Sensationsfund, den sie hier präsentieren konnte. Dass dieser jedoch Jahrzehnte lang auf dem Speicher von Tergits Schwiegertochter gelegen hatte, wurde ihm zum Verhängnis. „Schimmelpilzbefall, ein typischer Dachbodenfund eben“, erinnert sich die Dozentin lachend. Zufällig hatte sie zwei in Südamerika lebende Verwandte der Nachlasserin kennengelernt und so von dem bisher unbekannten Bestand erfahren, der in Mittelengland lagerte. Nach längerem persönlichen Austausch erreichten die Wissenschaft­lerin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam schließlich im Sommer 2014 zwölf Kilo fein säuberlich zusammengeschnürter Dokumentenbündel.

Die als Elise Hirschmann geborene Journalistin lebte seit 1938 in London. Bereits 1933 floh sie aus ihrer Heimatstadt Berlin, wo sie gefeiert worden war für ihre unter Pseudonym veröffentlichten sozialkritischen Gerichtsreportagen und den Debütroman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, 1931 bei Rowohlt erschienen. Tergit machte ihre Zeitungsleserinnen und -leser schon 1927 in einem Bericht über die rechtsextremen ­Fememorde der sogenannten Schwarzen Reichswehr darauf aufmerksam, dass „unsichtbar ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch [steht]“ und schrieb über den ersten Prozess gegen Adolf Hitler und Joseph Goebbels, die wegen einer Verleumdungsklage vor dem Moabiter Kriminalgericht standen. Kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 hämmerte die SA in der Nacht des 4. März an Gabriele Tergits Tür – die wenige Tage zuvor mit Eisenstangen von Tergit und ihrem Mann Heinz Reifenberg verstärkt worden war. Knapp entkommen, floh sie umgehend ins böhmische Spindlermühle (heute Špindlerův Mlýn) und von da schließlich über das britische Mandatsgebiet Palästina nach London. Als Generalsekretärin stand sie der dort gegründeten Schriftstellervereinigung Deutscher P.E.N.-Club im Exil von 1957 bis 1981 vor.

Die Fachwelt wusste um den privaten Nachlass der emigrierten Autorin im Deutschen Literaturarchiv Marbach und um die Bestände des Deutschen P.E.N.-Clubs im Exil in der Deutschen Nationalbibliothek. Mit weiteren privaten Briefen, Dokumenten, Fotos und Medaillen rechnete niemand. Deren Aufarbeitung vertraute die Familie Tergits dann Elke-Vera Kotowski an mit der Bitte, auch Studierende einzubinden. Diese Aufgabe nahm die Dozentin gerne an, will sie doch angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Archivarbeit begeistern und für die Aufgabe gewinnen, vergessene, als Jüdinnen verfolgte Deutsche wie Tergit wieder sichtbar zu machen. „Mir geht es um die Vermittlung, um die Wiederaufnahme ins Kollektivgedächtnis“, sagt Kotowski. Was es bedeutet, plötzlich auf der Flucht zu sein, zeigt beispielsweise der Brief, den die Frauenrechtlerin Helene Stöcker aus dem Hotel am Monte Verità in Ascona an ihre „Kampf- und Leidensgenossin“ Tergit schickt: „Alle möchten am liebsten zurück. Aber alle erklären es für durchaus verfrüht, es jetzt schon zu versuchen.“ Das schreibt Stöcker am 25. April 1933. Um heute aber diese Zeilen lesen, um die Passdokumente der Autorin durchblättern zu können, kurz: Um diese wichtigen zeithistorischen Zeugnisse der Forschung zugänglich zu machen, war eine Restaurierung zwingend erforderlich.

KEK-Modellprojekte investieren seit 2010 in besonders innovative Ansätze und Best Practices. Sie dienen dem modellhaften Erfahrungsgewinn, neuen fachlichen Erkenntnissen und einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Erhalten werden so unikale Schriften, die wissenschaftlich, kulturell oder historisch unverzichtbar sind. Bis 2020 förderte die KEK 352 Modellprojekte mit 4,3 Millionen Euro. Die Einrichtungen steuerten weitere Mittel bei.

Unter dem von der KEK ausgegebenen Motto „Vergessene Kostbarkeiten“ beantragte die Kulturwissenschaft­lerin Kotowski daher 2015 die Restaurierung der Dokumente im Rahmen der Modellprojektförderung (siehe Kasten) der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK). Verklebungen durch die gepresste Lagerung konnten so gelöst, Knicke und Risse durch die Faltungen geglättet und geschlossen werden. Nach einer mechanischen Reinigung durch Pinsel und Radierer vom Schimmel befreit, liegen die Quellen nun in Mappen und Kassetten zur wissenschaftlichen Bearbeitung bereit. „Wir merken in so vielen Anträgen, dass Schriftgut der Forschung aus konservatorischen Gründen gar nicht mehr zugänglich gemacht werden kann“, sagt KEK-Leiterin Ursula Hartwieg, die bereits die ersten „Auftakt“-Modellprojekte 2010 koordinierte. Die Ursachen für die vielerorts verhängten Nutzungssperrungen? Sie sind mannigfaltig, reichen von falscher Lagerung, Verschmutzung, Schimmel, Schädlingsbefall, Gebrauchsspuren bis zu Tinten- und vor allem Säurefraß. Wenn Hartwieg feststellt: „Materie zerfällt“, spricht sie das Problem in seiner letzten Konsequenz an.

Wie fragil das gemeinsame Schriftgut ist, kam aber erst ins öffentliche Bewusstsein, als Aufbewahrungsorte brannten, wie die Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek 2004, oder einstürzten, wie das Historische Archiv der Stadt Köln 2009. „Das hat den politischen Handlungsdruck so erhöht, dass der damalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann aktiv wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die langsame, stetige Katastrophe, die in Archiv- und Bibliotheksregalen passierte und passiert, bereits durch den Bericht der Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland‘ 2007 im Bundestag dargelegt worden. Nach diesem politischen Plädoyer legte 2008 die Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts, ein Zusammenschluss fachlicher Einrichtungen, ihr Ergebnis jahrelanger Arbeit in einer Denkschrift vor. Der Boden für die Gründung einer bundesweit agierenden Koordinierungsstelle war 2009 also politisch und fachlich bereitet“, erinnert sich Ursula Hartwieg.

Mit 600.000 Euro – zu fünf Teilen aus dem Haushalt des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), zu einem Teil aus dem der Kulturstiftung der Länder – organisierte Hartwieg 2010 im Rahmen eines „Auftakts“ die Verteilung der Mittel auf über 30 Projekte. Der „Testballon“ hatte Erfolg. Im August 2011 wurde die KEK gegründet – vorerst für fünf Jahre und mit dem Auftrag, neben der Durchführung praktischer Förderungen auch eine theoretische Problemdarstellung und Lösungsstrategie zu erarbeiten. Am Ende dieser Pilotphase legten die Leiterin und ihre Mitarbeitenden den Befund dar: Um je ein Prozent des gefährdeten Kulturguts zu sichern, bedarf es jährlich 63,2 Millionen Euro. Seither setzt sich die KEK neben ihrer fördernden, informierenden und vermittelnden Tätigkeit für einen intensiven Ausbau der Infrastruktur ein, denn „nur wenn es mehr Stammpersonal für die Antragstellung und Projektkoordinierung gibt, nur wenn es ausreichend Restaurierungswerkstätten und innovative Techniken für Mengenverfahren wie Entsäuerung gibt, können die 63,2 Millionen Euro überhaupt eingesetzt werden“, erklärt Hartwieg. Ansteigende Mittel stehen dank des 2017 ins Leben gerufenen Sonderprogramms zur Verfügung (siehe Kasten).

„Unser kulturelles Gedächtnis ist vor allem in Schriften gebunden“, betont Ursula Hartwieg. Deren Träger­medium, Papier, löst sich jedoch auf. Allein alle zwischen 1850 bis 1990 industriell gefertigten Papiere bauen sich selbst durch ihren Säuregehalt ab. Die beispielsweise im verarbeiteten Leim enthaltene Säure zerschneidet die langen, stabilisierenden Zellulose­fasern, das Material bricht. Davon betroffen sind in den Archiven mindestens 1,8 Millionen laufende Meter. Neun Millionen Bände wissenschaftlicher Bibliotheken kommen noch dazu. Um diese Bestände zu retten, müssen sie massenent­säuert werden. Ein Lösemittel bringt in diesem Verfahren Erdalkali wie Magnesium oder Calcium ins Papier ein, neutralisiert so die Säure und legt zudem eine alkalische Reserve an. Zwar lässt sich so der Verfallsprozess nicht stoppen oder gar umkehren, aber doch entscheidend verlangsamen.

Der Umbau der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart rückte immer näher. 70 laufende Regalmeter, an die 20.000 Einzelobjekte mit starken Gebrauchsspuren, die sich in Papier­qualität und -format unterscheiden, waren in offenen Stapeln aufbewahrt und entsprechend verstaubt: In diesem Zustand ließen sich die historischen Aufführungsmaterialien des Stuttgarter Hoftheaters nicht umziehen. Aus dieser Pattsituation half 2018 das BKM-Sonderprogramm: Die vielen handschriftlichen Partituren, Klavierauszüge und vor allem Stimmenmaterialien zu Opernaufführungen liegen nach erfolgter Trockenreinigung nun in stapelbaren, alterungsbeständigen Kassetten bereit. Interesse besteht: So plante der Dirigent des Sofia Philharmonic Orchestra eine Aufführung des Balletts „Der Kinder Weihnachtstraum“ von Josef Bayer, verrät die Leiterin der Handschriftenabteilung Kerstin Losert. „Das von uns aufbewahrte, frisch restaurierte Stimmenmaterial enthält zu diesem Stück Teile, die ihm als wichtige Ergänzung des ihm bekannten Notenbestands erschienen.“

Für Praxis wie Forschung spannend ist der Bestand, weil er einer der wenigen überlieferten seiner Art ist. Quellen zu Repertoire und Aufführungspraxis gibt es kaum noch. „Unsere Bestände“, erzählt Losert, „lagerte man im Zweiten Weltkrieg aus und verteilte sie auf Orte in der ländlichen Umgebung.“ So zeugt das Material heute von Vervielfältigungspraxen, Probenprozessen und Aufführungsgegebenheiten. „Das handschrift­liche Kopieren in der Musik hat eine lange Tradition“, weiß Ute Becker, Leiterin der Musiksammlung: „Neben dem zeitlichen und finanziellen Aufwand für den Druck spielten häufig auch pragmatische Gründe eine Rolle für den Einsatz von Kopisten: Wenn ein Werk zum Beispiel erst kurz vor seiner Aufführung fertig komponiert worden war, ging das Abschreiben schneller als das Drucken. Oft kam es auch zu kurzfristigen Änderungen innerhalb eines Stücks, die ein Kopist – trotz allen Aufwands – rascher umsetzen konnte.“ Doch nicht alle Änderungen wurden in Windeseile vorgenommen: „Auf dem Stimmenmaterial von Gaetano Donizettis ‚Lucrezia Borgia‘ zeichnete der zweite Klarinettist so lange an seiner ursprünglichen stückrelevanten Eintragung weiter, bis eine rauchende Lokomotive entstand“, schmunzelt Kerstin Losert und verweist auch noch auf den Wachstropfen auf dem Blatt, der von den am Notenpult angebrachten Kerzen herabfiel.

Das BKM-Sonderprogramm zielt auf eine Synchronisierung mit Länderprogrammen ab, indem es deren positive Zustimmung voraussetzt und eine Mitfinanzierung anregt. Die im Rahmen der Förderlinie ermöglichten Projekte müssen zu fünfzig Prozent kofinaniziert werden. Anträge können zum Erhalt national wertvoller Schriften gestellt werden, der durch ein Mengenverfahren wie beispielsweise Massenentsäuerung geschieht. Seit 2017 förderte die KEK 385 Projekte mit insgesamt 11,3 Millionen Euro.

„In welcher Weise kann nun die Forschung von der Restaurierung der Quellen profitieren?“, fragt der Musikwissenschaftler Jürgen Heidrich in Hinblick auf die 2017 durch die Modellprojektförderung restaurierten autographen Notenhandschriften des Münsteraner Komponisten Maximilian Friedrich von Droste-Hülshoff (1764–1840). Indem sie beispielsweise versteckte Stellen unter Korrekturzetteln freilegt, wie die mit Kupfernadeln über die Takte der Trompetenstimmen in der C-Dur-Messe gehefteten. Als das Notenkonvolut in der Werkstatt aus seinen alten Heftungen gelöst, mit zwei Schwesterhandschriften gereinigt und ergänzt wurde, entfernte Restaurator Matthias Frankenstein auch die Nadeln, die durch Korrosion das Papier schädigten. Mit Japanpapierfälzeln an ihren ursprünglichen Stellen befestigt, lassen sich die Takte jetzt mit einem kleinen Teflonspatel anheben. Darunter liegen keine verworfenen, nachträglich korrigierten Noten. Die jederzeit abnehmbare Heftung weist laut Heidrich darauf hin, „dass die Verwendung beider Formen […] möglich sein sollte“, denn „die Überheftung liefert eine Vereinfachung der Trompetenstimmen, wohl für den Fall, dass auf einen weniger fähigen Instrumentalisten zurückgegriffen werden musste“.

Die modellhafte Restaurierung der Droste-Hülshoff-Autographen aus der Santini-Sammlung der Diözesanbibliothek Münster regt die Überarbeitung der gesamten historischen Musikalien­sammlung an. „Mit dem Institut für Musik­wissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gibt es mittlerweile einen Kooperationsvertrag über ein dreijähriges Erschließungs- und Digitalisierungsprojekt“, berichtet die stellvertretende Bibliotheksleiterin Kirsten Krumeich, „um vorab Risiken und besondere Belastungen für die Originale abschätzen zu können, beauftragten wir letztes Jahr eine restauratorische Schadens­erhebung des Gesamtbestandes von ca. 4.500 Notenhandschriften und ca. 1.200 Notendrucken.“

Auch an der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin erprobten der Kurator der Sammlung Buchkunst Michael Lailach sowie der Leiter der Restaurierungs- und Konservierungsabteilung Martin Roßbacher in einem Modellprojekt, wie sie die gesamte sogenannte Vorbildersammlung „Schriftkunst“, die die historische Entwicklung von Schrift und Typographie illustriert, wieder für Forschung und Lehre zugänglich machen. „Viele Schäden der 74 restaurierten Werke waren Folgen mangelhafter Montage- und Aufbewahrungstechniken. Durchdachte konservatorische Lösungen haben also einen existenziellen Stellenwert“, findet Lailach. „Die ungeheure Vielfalt der künstlerisch angewandten Techniken, der Materialien, der aufgetretenen Schäden, aber auch des unterschiedlichen Alters der Objekte erfordert eine für fast jedes Objekt individuelle Konservierungs- und Restaurierungskonzeption.“ 11,6 Prozent der insgesamt 640 Objekte umfassenden Vorbildersammlung für Schriften und Typen montierten Fachleute neu und befreiten sie aus ihren chemisch toxischen Passepartouts. Auf der Rückseite einer Schriftprobe im Ta‘līq-Duktus des Sultans ­Muhammad Khandan von 1518 kam so ein Buntpapier, auch Ebru-Papier genannt, ans Licht. „Eine spektakuläre ‚Freilegung‘“, freut sich der Sammlungsleiter. Den von ihm betreuten Bestand wissen Schriftgestalter wie ­Stephan ­Müller, Professor der Klasse ­Type-Design an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, zu schätzen: „Vor allem in der Recherche ist das Material von unschätzbarem Wert, denn Schriften entstehen nicht out of the blue! Dieses nun restaurierte Material ist oftmals die Basis für spätere Schriftentwürfe. Die Drucktype ‚Wieynck Kursiv‘ ist dazu ein gutes Beispiel.“

Heinrich Wieynck schrieb von Hand den Text „Küsse des Johannes ­Secundus“, der 1906 als Blockbuch im Insel-Verlag erschien. Fünf Jahre später veröffentlichte die Bauersche Gießerei in Frankfurt am Main die aus dem handschriftlichen Text hervorgegangene Bleisatzschrift. Auch die Type des Titels dieses Textes beruht auf einem historischen Vorbild: Aus einer digitalen Version eines Musterbuches der Gießerei Palmer & Rey von 1884 zog das Schweizer Designstudio Kasper-Florio die Grundformen für ihre Haustype „ABC Monument Grotesk“. Um Prozesse wie diesen zu ermöglichen, stellt auch die Kunst­bibliothek ihre historischen Initialen, Seiten aus mittelalter­lichen Handschriften oder Schriftmuster auf Urkunden und Lehrbriefen online zur Verfügung.

„Die Zerfallsprozesse in unseren Archiven und Bibliotheken sind ständig und leise wirksam – dem muss weiterhin begegnet werden! Es ist eine Daueraufgabe. Selbst wenn wir eine Infrastruktur geschaffen haben, die jährlich ein Prozent sichern kann, ist die Arbeit in hundert Jahren nicht getan – sie beginnt von Neuem“, sagt Ursula Hartwieg. Die in der KEK institutionalisierte, von allen Beteiligten als vorbildhaft gelobte Zusammenarbeit von Bund und Ländern steht somit auch nach zehn Jahren voller Erfolge und Entdeckungen erst am Anfang.