von Soetje Marie Beermann
Dank der großzügigen Unterstützung des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder konnte die Glasdia-Sammlung aus dem Nachlass des bedeutenden Architekten Konrad Wachsmann (1901 – 1980) im Baukunstarchiv der Akademie der Künste im Mai 2022 restauriert und anschließend digitalisiert werden. Das in Teilen noch unveröffentlichte, infolge starker mechanischer wie chemischer Beanspruchungen vielfach nur noch fragmentiert erhaltene Bildmaterial konnte erfasst, umfänglich gesichert und inhaltlich entschlüsselt werden. Die mit der Restaurierung einhergehende, detaillierte Aufnahme technischer Merkmale im Abgleich mit den Bildinhalten ermöglichte nicht nur die präzise Verzeichnung und digitale Bereitstellung in der Archivdatenbank für zukünftige wissenschaftlichen Nutzungen, sondern lieferte bereits jetzt konkrete Ergebnisse zu neuen Forschungsansätzen.
Der Ausgangspunkt
342 Glasplattenpaare – auf der einen der zwei Platten entweder die aufgebrachte Fotoschicht aus Silbergelatine oder, zwischen die zwei Deckgläser eingelegt, ein grob zugeschnittenes Kunststoffdia. Eine Maske aus schwarzem oder braunem Papier und die auf dieser mit dem Lineal gezogene Bleistiftmarkierung definieren die präzise Auswahl des zu projizierenden Bildbereichs. Die nur leicht unterschiedlich großen, in rechteckigen Formaten von 80 × 100 mm gehaltenen Glasdias stehen seit mittlerweile sechs Jahrzehnten aufrecht auf ihren schmalen Längskanten hintereinander, nebeneinander, aber vor allem überaus beengt aneinander in den rostigen Fächerstellagen. Es gibt keine thematische Reihenfolge, nur Herstellungsarten und Ordnungssysteme. Einige Glasplattenpaare werden durch blaues Klebeband zusammengehalten, andere durch rotes oder schwarzes Papier. Manche tragen zusätzlich rote Papierklebepunkte, andere außerdem noch kleine Papieretiketten mit handschriftlicher Codierung: „C 27“ in schwarz oder „A 47“ in pink. Und mittendrin: vier farbig angelegte Handzeichnungen auf jeweils einer mattierten Glasscheibe. Sie zeigen Flugzeughangars und Winkelangaben zu deren weit auskragenden Dächern sowie ein Schema, das die verschiedenen, potenziellen Raumbeziehungen eines dreidimensionalen Knotenpunkts beschreibt. Außerdem noch, lose in Papiertüten, sieben Kunststoffdias. Diese wurden einfach zusätzlich dazwischengeschoben, hätten vielleicht noch ins Konvolut eingepflegt werden sollen. Es gab eben nur diese insgesamt drei Blechkassetten – in die musste alles passen!
Funktionsweisen
Nach seiner Emigration 1941 arbeitete der aus einer jüdischen Familie stammende Konrad Wachsmann als Hochschullehrer am Illinois Institute of Technology (IIT) in Chicago, als Unternehmer in New York und Los Angeles, wo er bis in die frühen 1970er-Jahre als „Director“ des Building Institute der University of Southern California von diesen bereits etwas veralteten Datenträgern nicht mehr abwich und die Glasdias sogar „home-made“ herstellte, um diesen Wissensspeicher laufend auf dem aktuellen Arbeitsstand zu halten. Umfangreiche Vorträge in Übersee, große Ausstellungen und ganze Buchprojekte waren so über viele Jahrzehnte hinweg erfolgreich erarbeitet und die inhaltlichen Kernaussagen bebildert worden. Innerhalb des eigenen Ablagesystems hatte sich das Medium, mit und auch ohne eine entsprechende Kennzeichnung, hinsichtlich der zu erwartenden Produktivität immer wieder als effizient und performant bewiesen. Im eigenen „Office“ des Architekten waren die Glasdias zu jeder Tages- und Nachtzeit ein universales Kommunikationsmittel zur Abstimmung mit Mitarbeitern, Studierenden, Kollegen, Auftraggebern und, natürlich auch, im Diskurs mit sich selbst. Die drei Kassetten waren schnell hervorgeholt, der Projektor angeworfen. Waren die vorrätigen Inhalte zwar auch leicht redundant, konnte sich Wachsmann dennoch immer sicher sein, die zentralen Projekte leicht wiederzufinden! Verknüpfungen zu zwanzig Jahre alten Arbeiten, die er als Lehrer formuliert und begleitet oder als Architekt gestaltet hatte, ließen sich anhand dieser Sammlung einfach deutlicher erkennen und Entwicklungsprozesse linear abbilden, beinahe direkt überlagern.
Die Sammlung
Ergeben 342 plus vier plus sieben bereits eine Glasdia-„Sammlung“? Die Blechkassetten und ihr Inhalt waren und sind ein Materialreservoir, ein zuverlässiger Speicherort für signifikante Informationen und schon fast gegenständliche Anknüpfungspunkte für in die Zukunft gerichtete Überlegungen. Die drei Kassetten sind kein provisorisches Transportmittel, sondern wurden einmal eigens für die Aufbewahrung solcher Großformat-Glasdias hergestellt. Robertson Ward, ebenfalls Architekt, außerdem langjähriger Arbeitskollege und Freund von Konrad Wachsmann, führte in den frühen 1980er-Jahren in der noch gemeinsam angelegten Findliste bereits diese „Three boxes of glass slides“ auf. Die Glasdia-Sammlung schaffte es damit in den selbst-organisierten Vorlass. Doch irgendwann muss es einen massiven Wasserschaden gegeben haben.
Im Ergebnisbericht zur Restaurierung wird über dessen Auswirkungen nüchtern konstatiert: „353 Stück gereinigt und äußerlich von Schimmel befreit […], 57 Stück massiver Glasbruch festgestellt, durch zusätzliche Deckgläser gesichert“ und „Festigung loser Fotoschichtbereiche und Schimmelentfernung zwischen den Glasplatten bei 19 Stück“, drei Motive „konnten nicht erhalten werden: Verlust der Bildschicht, komplett“. Außerdem war „ein Viertel des Bestands […] wegen der vielfach nur noch in Fragmenten oder losen Teilen vorhandenen Rändelungen als mechanisch instabil zu bewerten“. Diese Auszüge beschreiben allerdings nur sechs von 28 während des Bearbeitungszeitraums festgehaltenen Schadensbildern. Doch die Vielzahl loser Kunststoff-, Aluminium- und Papierumrandungen gibt auch Aufschluss über Herstellungszeiträume und -hintergründe ohne jegliches Vorhandensein von korrespondierendem Schriftgut. Unter den abblätternden Resten blitzten die originalen Umrändelungen auf. Diese lassen, in Kombination mit fünf weiteren ermittelten Markierungsarten und einer Analyse der Motive innerhalb der Einzelkonvolute, auf sechs aufeinanderfolgende Haupt-Herstellungsphasen schließen: die drei ersten, den Beginn von Wachsmanns Lehrtätigkeit in Chicago, die zunehmende Vortragstätigkeit und die populärsten Forschungsarbeiten rahmend, im Zusammenspiel mit der vierten den Bildervorrat für Publikationen steuernd und die fünfte und sechste, hergestellt auf Reisen und in Genua sowie am Building Institute in Los Angeles, als Komplettierung des eigenen Werks. Die Glasdia-Sammlung spiegelt daher die Reflexion Wachsmanns auf die eigene Arbeitstätigkeit als eine besonders aussagekräftige Primärquelle wider.
Nun kann auch die tatsächliche Entstehung und das Anwachsen der Sammlung, der subjektive Blick des Motive sammelnden Architekten nachvollzogen werden. Wachsmann fügt hinzu, verdoppelt, nimmt weg und ergänzt, wenn er es für aussagekräftig, wirksam und wichtig hält. Die Glasdias können über die bloße Kategorie „Vortragsmaterial“ hinaus als ein eigenständiges Arbeits- und Denkmittel betrachtet werden, anhand dessen er Ideen, aber auch Haltungen für sich selbst und in Diskussion mit seinem Team oder Studierenden bildhaft restrukturieren und vermitteln konnte. Sie lassen sich darüber hinaus mit weiteren Quellen im Nachlass kombinieren: mit noch erhaltenen Tonbandaufnahmen seiner Vorträge und Seminare, konkrete Abläufe fixierende „Slide Indexes“ aus dem Schriftgut sowie zwei Fotokisten. Die in diesen enthaltenen Abzüge sind entlang einer Art Karteikartensystem thematisch sortiert. Es trägt abermals rote Papierklebepunkte sowie anderweitige Markierungen. Eine stichprobenhafte Untersuchung der Bildmotive ergibt: weitestgehend deckungsgleich mit denen der rekonstruierten Vorträge aus der Glasdia-Sammlung. Dazu kommen weitere alternative Blickpunkte und Perspektiven auf das bereits veröffentlichte Werk. Geht die Glasdia-Sammlung auf die Sortierung der Abzüge in diesen Fotokisten zurück oder umgekehrt, oder fand die Erstellung beider Konvolute parallel zueinander statt? Die Suche nach den exakten Prozessketten und die Analyse der besonderen Denkstruktur geht weiter …
Soetje Marie Beermann hat Architektur studiert und ist zurzeit archivarische Mitarbeiterin im Baukunstarchiv der Akademie der Künste. Sie hat das Restaurierungsprojekt, das durch die Foto-Restauratorinnen Heidi Paulus, Stefanie Pfeifer und Jessica Unbereit erfolgte, inhaltlich vor- und nachbereitet sowie begleitet. Sie promoviert derzeit an der Universität der Künste Berlin im Fachbereich Architekturgeschichte und Architekturtheorie über das Werk von Konrad Wachsmann.
Der Architekt Konrad Wachsmann (1901 – 1980) gilt als einer der zentralen Repräsentanten industrialisierter Vorfertigung in der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts. Das breite Spektrum seiner über ein halbes Jahrhundert kontinuierlich anhaltenden Arbeitstätigkeit, einzelne Facetten und Spiegelungen, aber auch Abzweigungen, theoretische Spekulationen und plötzliche Umwege sind, neben dem populären General Panel System, einer Holzfertighaus-Bauweise oder den für die U.S. Air Force konstruierten Tragwerksstrukturen für Flugzeughangars, noch weitestgehend unbekannt. So wird Konrad Wachsmann im kontemporären Architekturdiskurs oftmals sehr linear „nur“ eine Pionierrolle zugeschrieben oder er wird als Unternehmenspartner Sigfried Giedions und Walter Gropius’, als Trabant Buckminster Fullers oder Ludwig Mies van der Rohes, manchmal noch als besonders fähiger junger Architekt des Sommerhauses für Albert Einstein in Caputh bei Potsdam mit aufgeführt.
Die Vielschichtigkeit und Bedeutung Wachsmanns Werks bildet sich jedoch über seine nur teilweise realisierten architektonischen Entwürfe und städtebaulichen Projektierungen hinaus auch in den international gefragten Vorträgen, Hochschulseminaren, patentierten Erfindungen, ungewöhnlichen Ansätzen für Versuchsreihen und mehreren Einzelausstellungen ab. Deutlich ablesbar wird in diesen Werkproben und der korrespondierenden Medienwahl immer wieder das zu Grunde liegende, sorgsam auf das jeweilige Vermittlungsziel abgestimmte „Tool-Set“, der praktische Werkzeugkasten eines durch die vorangegangene handwerkliche Ausbildung konstruktiv versierten Architekten, der noch in Berlin und Dresden sowohl von Hans Poelzig als auch von Heinrich Tessenow ausgebildet wurde.
Baukunstarchiv, Akademie der Künste
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