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Drei kurze Statements aus dem späteren Interview:
• Die Surrealisten beziehen sich auf die deutschen Romantiker:innen, die Denker:innen, aber auch die bildenden Künstler:innen.
• So schreibt der frühromantische deutsche Dichter Novalis ja schon. Es geht um eine Romantisierung der Welt. Die Welt muss romantisiert werden, so findet man den ursprünglichen Sinn wieder.
• Dass Caspar David Friedrich zu Unrecht komplett vereinnahmt wurde von den Nationalsozialisten, ist sehr, sehr deutlich. Und was jetzt neu ist an unserer Ausstellung, ist, dass wir zeigen, dass die Surrealistin zeitgleich genau dieses andere Bild von Caspar David Friedrich gezeigt haben.
Teaser: Ein Podcast von der Kulturstiftung der Länder.
Interviewer:
Ich grüße Sie zu einer neuen Episode unseres Podcasts „Ausstellungstipps“ der Kulturstiftung der Länder, der uns diesmal nach Hamburg führt. Es ist 100 Jahre her, dass der französische Dichter und Schriftsteller André Breton das surrealistische Manifest geschrieben hat. Die Hamburger Kunsthalle hat dieses Jubiläum zum Anlass genommen, in einer vergleichsweise großen Ausstellung mit über 300 Bildern und Gemälden, die Surrealisten und deren Geistesverwandtschaft zur Malerei der deutschen Romantik zu thematisieren. In der Ausstellung finden sich emblematische Gemälde des Surrealismus einerseits unter anderem von André Masson, Magritte oder Dalí –, aber auch der deutschen Romantik, von Caspar David Friedrich, Johann Christian Dahl, Georg Friedrich Kersting oder Philipp Otto Runge. Mit der Ausstellungsmacherin Dr. Annabelle Görgen-Lammers spreche ich jetzt über die Ausstellung „Rendezvous der Träume – Surrealismus und deutsche Romantik“. Ich grüße Sie, Frau Görgen-Lammers.
Annabelle Görgen-Lammers:
Guten Tag, lieber Herr Moek, Vielen Dank für die Einladung.
Interviewer:
Was steckt denn hinter dem Ausstellungstitel „Rendezvous der Träume“? Wen oder was treffen wir in dieser Ausstellung?
Annabelle Görgen-Lammers:
Ja, dieser etwas poetische Obertitel geht auf ein Zusammentreffen von zwei großen kunsthistorischen Bewegungen ein, die wir so gerne getrennt voneinander sehen. Und wie das bei einem Rendezvous so sein kann, ist das hoffentlich ein spannungsvoll inspirierendes Zusammenkommen von zwei Protagonisten – eben der deutschen Romantik und dem internationalen Surrealismus –, was zu neuen Erkenntnissen führt. Beide Bewegungen trennen 100 Jahre, und wir zeigen Geistesverwandtschaften auf, die wir sehen: zwischen dem uns scheinbar so wohlbekannten Surrealismus und der uns scheinbar so wohlbekannten deutschen Romantik. Und wir zeigen auf, dass es Themen, aber auch Haltungen, gar Motive bis hin zu Strategien gibt – Fragen an die Welt –, die diese beiden Bewegungen ziemlich verbinden. Und der Traum ist da eine ganz zentrale, verbindende Faszination. Denn der Traum wurde in beiden Bewegungen als ein – ja, eigentlich ein Sehen höherer Art – begriffen. Und dieser Ort des Unbewussten, dafür faszinierten sich schon die deutschen Romantiker:innen – sowohl die Dichter:innen und Denker:innen als auch die Maler:innen –, genauso wie die Surrealistinnen und die Surrealisten. Beide Bewegungen schreiben eben der Fantasie und dem Traum diese hohe Bedeutung zu und nutzen ein Verstehen des Traumes – also dieser anderen Seite der Vernunft – für ihre Idee einer Wiederverzauberung der Welt. Sie fokussieren Erfahrungen wie eben das Schlafen, die Nachtseite, Erfahrungen wie das Verliebtsein, Erfahrungen wie die Natur, das Sehnen nach der Einheit mit der Natur. Und von diesen Themen – Traum, vor allen Dingen im Zentrum das Innere. Sehnsucht, Natur, Magie – lassen sich sehr gut Koordinaten finden, die eben die deutsche Romantik und den Surrealismus beide bestimmen und da gut vergleichen lassen. Vergleichen, um Analogien zu sehen – aber eben auch Unterschiede.
Interviewer:
Für all jene, die jetzt nicht Kunstgeschichte studiert haben: Können Sie kurz umreißen, was ist Surrealismus und was ist Romantik? Und wo liegen die Verwandtschaften, die Sie ja schon skizziert haben?
Annabelle Görgen-Lammers:
Ja, also die deutsche Romantik – wir fokussieren ja ganz spezifisch. Die deutsche Ausprägung der romantischen Bewegung – liegt 100 Jahre vor dem Surrealismus und reagiert auch auf die Rationalität ihrer Zeit und stellt genau diese infrage. Und 100 Jahre später, begründet 1924 von André Breton, greift der Surrealismus eigentlich zurück auf Traditionen. Ganz im Gegensatz zu Modern, die in einem reinen Fortschrittsglauben versucht, mit allem brechen zu müssen, ist der Surrealismus sich der Tradition und der Geschichte bewusst – aber interpretiert sie komplett neu. Und die Surrealisten beziehen sich auf die deutschen Romantiker*innen: die Denker:innen wie Novalis, Achim von Arnim, aber eben auch die bildenden Künstler:innen wie Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge. Und beide Bewegungen trennen diese 100 Jahre, aber sie sind verbunden eigentlich durch eine Art Herkunftsgeschichte. Denn beide Bewegungen kommen ursprünglich aus dem Wort, aus der Literatur, aus der Poesie. Beide Bewegungen versuchen alle, die Medien ihrer Zeit zu umfassen. Beide glauben daran, dass das Menschsein mehr ist als Rationalität und Vernunft. Beide markieren einen Aufbruch – die historische Situation, die Napoleonischen Kriege einerseits, der Erste Weltkrieg andererseits. Beide beinhalten für ihre Epochen sehr revolutionäre Positionen junger Poetinnen und Poeten und Künstlerinnen und Künstler, die sich auflehnten gegen die gesellschaftlichen Zustände ihrer Zeit. Und beide Bewegungen stellen eben die Wahrnehmung der Realität und das Primat der Rationalität infrage. So schreibt der frühe romantische deutsche Dichter Novalis ja schon: „Es geht um eine Romantisierung der Welt. Die Welt muss romantisiert werden, so findet man den ursprünglichen Sinn wieder.“ Und er beschreibt es: „Man muss dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein Geheimnisvolles ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten geben.“ Und dann kann ich die Welt in ihrer Gesamtheit erkennen. Und genau diese Haltung – ein anderes Welt- und Menschverständnis und damit auch die Gesellschaft anders zu denken –, das ist etwas, was wir auch bei den Surrealisten finden. Eben ein neues Lebensgefühl, die Transformation des Individuums – und aus dieser Veränderung des Individuums auch eine Veränderung der Gesellschaft bewirken zu wollen. Das verbindet die Bewegung und das wollen eben auch die Surrealist:innen.
Interviewer:
Und um noch ein Zitat hinzuzufügen. André Breton schreibt in seinem surrealistischen Manifest: „Der Wunsch zu analysieren ist stärker als die Gefühle. Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik.“ Das dürfte, wenn ich Sie richtig verstanden habe, die Verbindung sein zwischen beiden Bewegungen. Aber inwieweit geht denn der Surrealismus über die Romantik hinaus?
Annabelle Görgen-Lammers:
Wir zeigen die Analogien auf – aber im Aufzeigen der Analogien sieht man auch die Unterschiede, und dass zum Teil von Bild zu Bild. Das ist zum einen natürlich das Mediale: Wir sehen, dass der Realismus auf die Medien seiner Zeit reagiert, ganz andere, neueste Aspekte wie die Fotografie, den Film mit hineinnimmt in seine Ausdrucksmittel – und damit eben Mittel findet, mit denen er auf andere Weise auf seine Zeit reagieren kann. Und seine Zeit ist eben einfach eine komplett andere. Und die Politisierung der Bewegung ist von Anfang an da. Das ist der Anspruch des Surrealismus: hochpolitisch zu sein. Und er hat den Anspruch, die gesellschaftliche Ordnung, die er kritisiert – so den Kapitalismus oder eben auch ein naiver Glauben an den reinen Fortschritt, wie wir ihn in der sonstigen Moderne finden –, und den Rationalismus zu sprengen. Und das wirklich mit aller Macht und aller Kraft. Und positioniert sich da sehr klar. Zum einen natürlich in seiner Herkunft aus der Reaktion auf den Ersten Weltkrieg – und dann in den dreißiger Jahren verstärkt natürlich in ganz konkreter Reaktion auf die Zeichen der Zeit. Das ist zum einen der spanische Bürgerkrieg über viele Bilder von Salvador Dalí haben oder eben auch Max Ernst, Der Hausengel, die auf diesen auch Rechtsruck, den aufkommenden Faschismus reagieren, wie er dann eben gerade auch die Surrealisten ganz, ganz stark betrifft, wenn dann Ende der dreißiger Jahre ihre Werke als entartet bezeichnet werden und sie ins Exil gehen müssen – in den Untergrund flüchten müssen. Das sind natürlich die Zeichen der Zeit, auf die die Werke ganz, ganz klar und hochpolitisch reagieren.
Interviewer:
Wo Sie gerade hochpolitisch sagen, ich habe ja das Glück gehabt, am Wochenende Ihre Ausstellung zu besuchen. Und mein Gedanke war: Im Grunde ist diese Ausstellung ein Statement gegen die nationalsozialistische Vereinnahmung von Caspar David Friedrich. Die Nationalsozialisten haben ja den Surrealismus, wie Sie sagten, gerade als entartet verfemt und gleichzeitig Caspar David Friedrich zum nationalen Maler – zum Maler der deutschen Natur als Spiegel einer angeblich ewig deutschen Volksgemeinschaft – vereinnahmt, der allerdings auch das sagten Sie, gerade eine große Verwandtschaft zu den Surrealisten aufweist. Vor diesem Hintergrund führt diese NS-Umdeutung von Caspar David Friedrich eigentlich wie ein Widerspruch.
Annabelle Görgen-Lammers:
Das ist komplett sicher. Ich meine, dass das Caspar David Friedrich zu Unrecht komplett vereinnahmt wurde von den Nationalsozialisten, ist, glaube ich auch sehr, sehr deutlich und wurde auch schon in anderen Ausstellungen, die wir zu Caspar David Friedrich gemacht haben, sehr deutlich, dass wir herausgearbeitet haben, wie eben – natürlich ganz anders, als die Nazis das gedeutet haben – er da ein anderes Welt- und Naturverständnis hatte. Dass es diese Vereinnahmung der Nationalsozialisten von Caspar David Friedrich, der treten wir in jeder Ausstellung eigentlich entgegen, die wir zu Friedrich machen. Was jetzt neu ist an unserer Ausstellung mit den Surrealisten, ist, glaube ich, dass wir zeigen, dass die Surrealist:innen schon in ihrer Zeit – zeitgleich – bewusst genau dieses andere Bild von Caspar David Friedrich gezeigt haben und sich ganz explizit auf diesen als ihren Vorläufer auch bezogen haben. Und dass eben in diesem komplett diametral unterschiedlichen Verständnis von ihm. Und ganz deutlich wird das 1939, als Caspar David Friedrich zum ersten Mal in Frankreich publiziert wird, Bilder von ihm publiziert werden, geschieht das in dem surrealistischen Magazin Minotaure mit dem Obertitel, Caspar David Friedrich: Der Maler der romantischen Angst, und das von einer französischen Psychologin im Kreis der Surrealisten. Das heißt, diese Vereinnahmung von Friedrich und überhaupt der deutschen Romantik durch die Nazis, der stehen die Surrealist:innen schon in ihrer Zeit entgegen. Das, was wir heute längst wissen und natürlich dem entgegenstehen, dieser Vereinnahmung, das merken die Surrealisten in ihrer Zeit und zeigen genau dieses andere Bild von Friedrich auf in ihrer Zeit – in den 30er und 40er Jahren. Und das versucht die Ausstellung auch zu zeigen.
Interviewer:
Ich habe in der Ausstellung auf Ihrer Webseite und auch in dem großartigen Ausstellungskatalog gelesen, der Surrealismus sei die vermutlich wirkmächtigste Künstlerbewegung des 20. Jahrhunderts. Wie muss man das verstehen?
Annabelle Görgen-Lammers:
Ja, also der Surrealismus ist ja zum rrsten Mal überhaupt auch eine internationale Bewegung. Das kam unter anderem durch das Exil, in das die Surrealisten gezwängt wurden, dass sich diese Bewegung ja ausgebreitet hat auf Lateinamerika, auf Amerika, auf Mexiko. Das heißt, wir haben da eine große Internationalität, und in dieser Reichweite hat es, so muss, glaube ich, eine unglaubliche Wirkkraft entwickelt, auch weil er kein Stil ist, sondern eine Haltung. Er vereint ja ganz unterschiedlichste Künstlerinnen und Künstler. In allen Medien sind sie tätig und wirksam. Bis heute sind einerseits diese Strategien, die der Surrealismus entwickelt: Arbeit mit dem Zufall, die Idee der Collage, Demontage. Was heute in jedem Copy-Paste-Computerbild-Programm integriert ist, als auch eben die Grundfragen, nämlich die Frage nach: Was ist denn Wirklichkeit? Wo fängt diese Illusion an? Was sind denn die Zwischentöne dazwischen?
Interviewer:
Entsprechend dieser Ausbreitung: Sie haben gerade von Internationalität gesprochen, entsprechend international ist auch Ihre Ausstellung, sowohl was die Künstler angeht, die sie zeigen, als auch die Forschungsprojekte, die eingeflossen sind, wie auch die Leihgaben. 30 sind allein aus dem Centre Pompidou in Paris.
Annabelle Görgen-Lammers:
Genau. Also ich freue mich sehr, dass wir die Ausstellung, die dieser internationalen Bewegung gewidmet ist, auch sehr international aufstellen konnten. Wir haben Künstlerinnen von Mexiko bis Prag an Bord, weil die Bewegung international war. Wir haben Leihgeber, Ihnen von genau diesen Ländern. Wir haben Forscherinnen von der Universität Washington bis zur Universität Prag an Bord gewinnen können, zu diesem spezifischen Thema sich Gedanken zu machen. Und ja, unter diesen 80 internationalen, privaten und öffentlichen Sammlungen sind sehr, sehr viele, auch die vorher noch nicht geliehen haben, weil es eben zum Teil auch verborgene Privatsammlungen sind. Deswegen freue ich mich, dass eben auch das Echo auf diese Ausstellung tatsächlich auch ein internationales ist.
Interviewer:
„Rendezvous der Träume – Surrealismus“ und deutsche Romantik heißt die Ausstellung, die sie noch bis zum 12. Oktober in der Hamburger Kunsthalle besuchen können. Und wenn in dieser Ausstellungstipp gefallen hat, empfehlen Sie ihn gern weiter – gern durch ein Like auf unseren Social-Media-Kanälen: Facebook, Instagram, Blue Sky oder YouTube oder auf allen Podcast-Plattformen.
Mein Name ist Hans Georg Moek, und Ihnen, Frau Dr. Görgen-Lammers, danke ich für diese inspirierende Einführung in Ihrer Ausstellung.
Annabel Görgen-Lammers:
Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihr Interesse, Lieber Herr Moek.
Die Ausstellung „Rendezvous der Träume“ in der Hamburger Kunsthalle stellt erstmals den internationalen Surrealismus in Beziehung zur deutschen Romantik. Rund die Hälfte der vertretenen Künstler:innen sind weiblich, darunter Meret Oppenheim, Dorothea Tanning und Unica Zürn. Im Podcast spricht Hans-Georg Moek mit der Ausstellungsmacherin, der Kuratorin Dr. Annabelle Görgen-Lammers. In dem Gespräch geht es um die Bezüge aber auch Unterschiede zwischen beiden Strömungen, bis hin zu der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Vereinnahmung des Malers Casper David Friedrich durch die Nationalsozialisten als deutscher nationaler Maler.
Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik
13. Juni 2025 – 12. Oktober 2025
Hamburger Kunsthalle
Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg
Öffnungszeiten: Dienstag – Sonntag 10–18 Uhr, Donnerstag 10–21 Uhr