Erneuerung der Erwerbungspolitik in Dresden nach 1918
Nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde mit den Novemberreformen auch die Erneuerung der Erwerbungspolitik der Museen eingefordert. Auch für die traditionsreiche Gemäldegalerie in Dresden sollte nun junge, nicht konforme, zuvor abgelehnte Kunst erworben werden. Neben der Erwerbung einzelner Werke von Carl Hofer, Emil Nolde, Conrad Felixmüller und Max Pechstein – zum Teil zunächst als Leihgaben des Vereins der Galeriefreunde, zum Teil direkt in festem Staatsbesitz – kam der Direktor der Dresdner Gemäldegalerie Hans Posse (1879–1942) diesen Forderungen 1919/20 vor allem mit dem Ankauf von drei Gemälden des in Dresden lehrenden Oskar Kokoschka (1886–1980) nach. Der Erwerbungsprozess, insbesondere die Beschaffung der Finanzmittel, war in der Nachkriegszeit aufreibend. Kokoschkas aktuelle Gemälde waren zu dieser Zeit auch bei Kunstsammlern und Privatleuten außerordentlich gefragt. Das atelierfrische Gemälde „Die blaue Frau“ (1919, auch „Frau in Blau“, heute Staatsgalerie Stuttgart) sowie „Die Macht der Musik“ (1918) kamen zunächst als Leihgaben von Kokoschkas bekanntem Galeristen Paul Cassirer (1871–1926) in die Dresdner Gemäldegalerie. Als Cassirer 1920 auf Rückgabe drängte, bat Posse den Galeristen, „in dieser Angelegenheit keine Schwierigkeiten [zu machen], noch dazu in Anbetracht des nicht so häufigen Falls, dass ein staatliches Museum nun wirklich einmal ernsthaft die Absicht hat, dem Renommée eines jüngeren Künstlers ein öffentliches Denkmal zu errichten“. Auf Initiative von Posse erwarb schließlich der Dresdener Verein der Galeriefreunde die beiden Werke. 1931 konnten sie, nach Prüfung ihrer musealen Eignung durch das zuständige Ministerium, der Gemäldegalerie geschenkt werden. 1937 wurde der mittlerweile auf sechs Gemälde angewachsene Bestand von Kokoschka aus dem Besitz der Galerie als „entartet“ denunziert und beschlagnahmt. Heute sind die vormaligen Dresdner Gemälde Hauptwerke in Museen in Duisburg, Eindhoven, Essen, Stuttgart und Washington sowie einer privaten Sammlung. Ihr Fehlen galt es nun mit dem Ankauf für Dresden und Hannover 2024/25 zu mindern.
Warum waren Posse, der unter Druck stand, ob er die Aufgabe der Erneuerung der Galerie erfüllen konnte, gerade die Ankäufe dieser beiden Bilder von Kokoschka aus den Jahren 1919/20 so wichtig? Als 1918 Kokoschkas Gruppenporträt „Die Freunde“ (1917) von der Nationalgalerie Berlin erworben wurde, diagnostizierte die Kritik „eine geheime Beziehung zwischen der inneren Aufgewühltheit der Menschen, die Kokoschka malt, und der überhitzten Stimmung draußen auf der Straße“. Die Berliner Börsenzeitung meldete am 9. November 1918, Kokoschkas Kunst bedeute einen „Höhepunkt des Expressionismus“. Seine Figurenallegorien waren von moderner Ausdrucksstärke einerseits, andererseits aber auch von besonderer malerischer und farbiger Qualität, die sich in einen korrigierten Kanon einfügen ließen, ohne eine solch radikale Provokation, wie sie etwa die Antikriegsgemälde von Otto Dix bedeuteten.
Synthese von moderner Ausdrucksmalerei und Traditionsbezug
Kokoschka malte an jedem Bild über Monate, rang, Farbschichten auftürmend, um eine flächenbetonte Bildwirkung und fand zu einer Vergröberung des Farbauftrags in abstrahierten, vertikal und horizontal abgestuften Farbflächen. In „Die bildende Kunst der Gegenwart“ bescheinigte Wilhelm Hausenstein Kokoschka 1920, damit an der „Spitze“ der deutschen Malerei zu stehen. In den in seiner Dresdner Zeit zwischen 1917 und 1923 entstandenen Werken löste sich Kokoschka weiter von der Tradition realistischer Wirklichkeitswiedergabe, verwies aber auch auf große Vorbilder aus der Kunstgeschichte. Sein freimütiger, assoziativer Umgang mit der alten Kunst dürfte für die Integration seiner Werke in klassische Museen mit Ausschlag gegeben haben. Kokoschkas Farbentscheidung in „Die Macht der Musik“ ist zum Beispiel von Jan Vermeers berühmten Rot-Gelb-Klang im Dresdener Gemälde „Bei der Kupplerin“ (1656) angeregt. Zugrunde liegt das Motiv des Engels aus Verkündigungsdarstellungen bzw. der Posaune blasende Engel des Weltgerichts.
„Sommer I“ entstand 1922 gewissermaßen in Antithese zu vollendetem Farbklang und Harmonie der „Schlummernden Venus“ (1510) von Giorgione und Tizian, zitiert aber auch die so charakteristischen, heftig angewinkelten Beine aus Peter Paul Rubens’ „Bathseba am Springbrunnen“ (1635).
Dieses Zitat lässt sich als ein trotziger Nachtrag zur sogenannten Kunstlump-Debatte lesen, als Beharren auf einer Position und Malkultur, in der eine Synthese aus Traditionsbezug und Modernität gelingen konnte. 1920 hatte Kokoschka einen offenen Brief „An die Einwohnerschaft Dresdens“ publiziert, nachdem während des Kapp-Lüttwitz-Putsches eine Gewehrkugel ein Oberlicht der Gemäldegalerie durchschlagen und Rubens’ „Bathseba“ beschädigt hatte. George Grosz und John Heartfield nannten Kokoschka in ihrer Erwiderung „Kunstlump“ und „Kunsthure“. Kokoschka, der sich selbst gern als antibürgerlich stilisierte und dessen Idee der lebensgroßen Puppe nach Alma Mahler auch als dadaistisch-provokativer Antikunst-Akt gewertet wird, sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, „überholte Herrschaftsstrukturen zu stützen“.
Nahezu alle jene Figurenbilder bzw. Allegorien Kokoschkas, die einen engen Bezug zu Hauptwerken der Dresdener Galerie aufweisen, befinden sich heute in wichtigen Museen Deutschlands und Europas, keines jedoch in Dresden. Nachdem in den Jahren der DDR Dresdens Museen nicht auf dem internationalen Kunstmarkt erwerben konnten, war „Sommer I“ heute das wohl einzige, noch in Privatbesitz befindliche Bild, das den Verlust der 1937 in der Gemäldegalerie beschlagnahmten Gemälde adäquat ersetzen konnte.
Das Gemälde, das von 1995 bis Juli 2023 bereits als Leihgabe aus Privatbesitz im Albertinum gezeigt wurde, stammt aus der Sammlung des Seidenweberei-Industriellen Hermann Lange, Krefeld, einer der qualitätsvollsten Expressionismus und Avantgarde-Kollektionen der Weimarer Republik. Hermann Lange, der unter anderem Walter Gropius angeboten hatte, das in Weimar gefährdete Bauhaus nach Krefeld zu holen, hatte es 1925 erworben. Seine Sammlung wurde noch bekannter mit den heute ikonischen Bauten, die er bei Mies van der Rohe in Auftrag gab, darunter das Haus Lange, heute Teil der Kunstmuseen Krefeld.
Die Nachkriegserwerbungen von Bernhard Sprengel und die weiteren Gemälde im Sprengel Museum Hannover
Mit fünf, zwischen 1949 und 1961 erworbenen Gemälden von -Oskar Kokoschka aus verschiedenen Schaffensphasen ist heute ein bedeutendes Konvolut im Sprengel Museum Hannover vorhanden. Für die Verbindung von Hannover und Kokoschka sind der Sammler und Stifter des Museums, Dr. Bernhard Sprengel, und seine zweite Frau, Margrit Sprengel, von zentraler Bedeutung.
Die ab 1938 angelegte Sammlung Sprengel zeichnet sich dadurch aus, dass Werke von ausgewählten Künstlern der Klassischen Moderne, wie Emil Nolde, Max Beckmann, Paul Klee, Pablo Picasso, Henri Laurens, um nur die wichtigsten zu nennen, in der Tiefe – also in den verschiedenen Medien Malerei, Skulptur und Grafik – gesammelt wurden. Mit Kokoschka wurde die Reihe dieser Künstler um eine bedeutende Malerpersönlichkeit ergänzt, die mit der frühen Ausstellung von 1920, und erneut 1949 in der Kestner Gesellschaft bereits in Hannover zu sehen gewesen war. Wichtig war hier auch die avantgardistische Galerie von Garvens, die Kokoschka 1920 und 1921 präsentierte; Herbert von Garvens-Garvensburg hatte zudem Gemälde in seinem Besitz, die er in den Jahren nach der Auflösung der Galerie 1923 unter anderem nach Dresden weiter veräußerte, so das „Doppelbildnis Oskar Kokoschka und Alma Mahler“ von 1912/13, was dort als „entartet“ beschlagnahmt wurde. Bernhard Sprengel verfügte durch den wirtschaftlichen Erfolg der Schokoladenfabrik Sprengel nach der Wiederaufnahme der Produktion 1948 über die Mittel, parallel zu Ankäufen beispielsweise von Paul Klee und französischer Künstler wie Fernand Léger, die ebenfalls bereits höherpreisigen Bilder von Kokoschka zu erwerben.
Sprengel erwarb die beiden frühen, hervorragenden Porträts „Baron Viktor von Dirsztay“ (1911) 1949 von der Kestner Gesellschaft und „Nancy Cunard“ (1924) 1957 von der Galerie Otto Stangl. Gleichzeitig mit dem frühen Bildnis kaufte er auch die Landschaft „Arno-Ufer“ (1924) aus der Sammlung Willy Hahn. Mit den Erwerbungen der Stadt Hannover – „Pan, Trudl und Ziege“ (1931) über das Kestner-Museum 1955 und die Landschaft „Delphi“ (1956) aus dem Besitz von Marianne Feilchenfeldt 1961 über das Provinzialmuseum – ergab sich eine, die Vielfalt des Œuvres Kokoschkas abbildende Gruppe von Gemälden. Ein weiteres Gemälde, „Die Jungfrau von Mürren aus gesehen“ (1912), die der Direktor der Landesgalerie, Ferdinand Stuttmann, 1949 in einer Gruppe von Werken mit dem Händler Conrad Doebbeke gegen ein Grundstück tauschte, wurde nach der Aufnahme im gedruckten Werkverzeichnis von 1995 aus stilistischen Gründen nicht in den digitalen Werkkatalog von 2020 aufgenommen. Mit dem Kauf der herausragenden Porträts hat Sprengel wie so oft auf eine hohe künstlerische Qualität geachtet. Beide Persönlichkeiten, der eine als angeblich häufigster Patient auf der Liege von Sigmund Freud in die Geschichte eingegangen, die andere als exzentrische Erbin der Reederei Cunard Line und Dichterin, repräsentieren so nicht nur wichtige Teile der Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts, sondern zeigen auch Kokoschkas bravouröse Porträtkunst.
Der Baron, von seiner Familie enterbt und sich als Romancier versuchend, ein Repräsentant des verarmten Adels, der die Wiener Gesellschaft belebte, wurde von Kokoschka als „verlorener Sohn“ einer verachtenswerten, dekadenten Familie beschrieben, der an „Weltschmerz litt“. Für das Korrekturlesen seiner Manuskripte verlangte der Maler Geschenke, „zum Beispiel ein Paar Manschettenknöpfe“. Im genauen Festhalten des gut gekleideten, mit Monokel und Zigarre ausgestatteten Lebemanns gelang Kokoschka ein Porträt der Epoche. Die in die dunkle Chromatik und belebten Flächen eingefügte, mit bewegten Linien umrissene Figur spiegelt die im Umbruch befindliche Zeit. Der Porträtierte erhält filigrane, nervöse Züge, feingliedrige Hände und einen dunklen, changierenden Hintergrund, der die Unsicherheit des Dargestellten betont.
Die als sehr selbstbewusst charakterisierte Nancy Cunard, die Kokoschka bei einem Aufenthalt in Paris 1924 gemalt hat, weist entgegen dem farblich noch von dunklen Tönen und der Jahrhundertwende bestimmten Bildnis des Barons, extrem kühne Farbpartien auf, wie etwa die losen orangeroten Pinselstriche auf ihrem Rock, das frei gemalte mittelblaue Halstuch sowie den wolkigen, teils intensiv lilafarbigen Hintergrund. Dass Kokoschka sich traut, die etwas vorstehenden Schneidezähne in dem leicht geöffneten Mund der Porträtierten abzubilden, zeigt das seinerzeitige Selbstbewusstsein und die Unerschrockenheit des erfolgreichen Malers.
Den Weg dazu hatte jene berühmte Phase in Kokoschkas Œuvre geebnet, in der die Gemälde ab 1919, insbesondere mit der Dresdener „Frau in Blau“ starkfarbig und teppichartig strukturiert sind und von einem neuen, eher abstrakten Bildverständnis des Malers zeugen. Die Lücke zwischen den Entstehungsjahren der beiden Porträts aus dem Bestand des Sprengel Museums vermag das neu erworbene Gemälde „Sommer I“ in Hannover zu schließen.
Durch die gemeinsame Erwerbung und die wechselnde Präsentation im Hannoverschen und Dresdener Kontext der Sammlungsgeschichten und bestehenden Werkgruppen wird „Sommer I“ in Zukunft in einem reichen und vielfältigen Kontext zu verstehen und zu sehen sein.