surrealistisches Gemälde, groteskes Wesen vor einer Landschaft
AUSSTELLUNG HAMBURG

Die Dinge und das Unbedingte

In den Ausläufern internationaler Jubiläumsfeiern zum 100. Geburtstag des Surrealistischen Manifests von 1924 zeigt die Hamburger Kunsthalle die Ausstellung „Rendezvous der Träume Surrealismus und deutsche Romantik“ / Simon Elson

„Der Wunsch, zu analysieren, ist stärker als die Gefühle … Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik.“ Das schrieb André Breton (1896–1966) vor ziemlich genau 100 Jahren in sein erstes Surrealistisches Manifest, in Paris, damals die Hauptstadt westlicher Kultur. Breton fand die vorherrschende realistische Literatur und Kunst zu sachlich: Welche Farbe hat der Teppich, was sieht man durchs Fenster, um wie viel Uhr geht die Marquise zum Souper … Empörend langweilig, diese „an Dummheit grenzende Klarheit“, die allerhöchstens „das Leben von Hunden“ beschreiben könne. Zum Menschen, diesem „entschiedenen Träumer“, passe eher „psychischer Automatismus“, das unbewusste Aufmalen oder Niederschreiben dessen, was einem durch die Seele rauscht – und die „Allmacht des Traums“, so Breton. „Der Geist des Menschen, der träumt … Töte, stiehl schneller, liebe so viel du magst … Du hast keinen Namen. Die Leichtigkeit, mit der alles geschieht, ist ohne jedes Maß.“ Wie gut diese Worte zu dem weichen und doch wütenden Wesen des „Hausengels“ passen, eine Ikone des 20. Jahrhunderts. Er wirkt wie ein Breton’sches Traumgeschöpf, das leicht und maßlos töten, stehlen, lieben kann. Faszinierend, unheimlich – und Titelbild für die Hamburger Großausstellung „Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik“.

Als Breton sein Manifest schrieb, war der Maler des „Hausengel“ (1937), der deutsche Künstler Max Ernst (1891–1976), auch in Paris. Aus der Heimat hatte Ernst tiefe Liebe zur Romantik mitgebracht, verehrte Caspar David Friedrich. Ziemlich genau 40 Jahre nach dem Manifest, dessen Gefolgschaft sich Ernst sofort anschloss, aber vor allem auch nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs, reiste der als „entartet“ Verfemte in die USA und dann zurück nach Frankreich emigrierte Künstler zum ersten Mal nach Hamburg, weil ihm in der Hamburger Kunsthalle der Lichtwark-Preis verliehen wurde. Hier sah er seinen geliebten Friedrich wieder, verguckte sich aber auch in „Der Morgen“ (1808) von Philipp Otto Runge (1777–1810). Wieder in Frankreich, malte Ernst zwei Bilder, „Ein schöner Morgen“ (1965) und „Die Erde ist ein Mann, der erbebt, sie ist der Apfel, der abfällt“ (1964), die sich in Lichtidee, Bildaufbau und Farbigkeit auf Runge beziehen – das und noch viel mehr erzählt die Kuratorin der Hamburger Kunsthalle, Annabelle Görgen-Lammers, eine ausgewiesene Surrealismus-Expertin, mit ihrem „Rendezvous“. Görgen-Lammers’ jahrzehntelang angesammeltem Wissen ist es mitzuverdanken, dass diese wirklich prickelnde, schlüssige Verbindung von Surrealismus und Romantik zur ersten Kooperation der Kunsthalle mit dem Pariser Centre Pompidou geführt hat. Wobei Ernst gut ein Siebtel der über 250 ausgestellten Werke liefert, zum Zentrum der norddeutschen Schau wird: mal stiller wie bei „Schöner Morgen“ und „Die Erde“, mal wild und laut wie beim „Hausengel“-Titelbild. In der Ausstellung geht es allerdings nicht nur um persönliche, feinere Verbindungen zwischen Romantik und Surrealismus, sie legt erstmals auch und besonders Ähnlichkeiten im Bereich des Gesellschaftspolitischen frei.

„Rendezvous“ folgt auf die Brüsseler Schau aus den Königlichen Museen, der Pariser im Centre Pompidou und der Madrider in der Fundación Mapfre, wobei sie alle einen eigenen Fokus hatten und haben, in Hamburg ist das eben der Romantik-Bezug. Noch um 1940, in der Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs und der germanischen Blut-und-Boden-Vereinnahmung deutscher Romantik, verehrten die Pariser Surrealisten nämlich Novalis, Kleist, Brentano, Hölderlin und andere. Man schöpfte Mut aus deren „höheren Revolte des Geistes“ (Breton), suchte und fand Gemeinsames. Eine Parallele ist zum Beispiel der quasi-ökologische Naturbezug der älteren deutschen und der neueren französischen Bewegungen. Doch auch andernorts gab es tragende Verbindungen. Der britische Surrealist Paul Nash (1889–1946) beispielsweise bezog sich mit seinem Gemälde „Totes Meer“ (1940/41) auf Friedrichs Eismeer-Trostlosigkeit: Bei Nash sind die Eisschollen allerdings die Tragflächen kaputter Nazi-Bomber …

Der Surrealismus ist die erste Avantgarde-Bewegung, die sich wirklich global verbreitet hat, bis in den Maghreb und nach Südamerika. Erst war es nur eine literarische Idee, siehe das Manifest. Dann entwickelte sich daraus eine Kunstbewegung. Sie „revolutionierte … alle Spielarten kultureller Produktion“, so die New York Times anlässlich der ersten Station der Schau in Brüssel 2024. Heute habe sich die Bewegung sogar in der Alltagssprache etabliert, sei es doch absolut gängig, jede seltsame Erfahrung als „surreal“ zu bezeichnen. – Es lohnt sich allerdings, dieses Wort noch einmal genau anzuschauen. „Sur“ bedeutet im Französischen „über/darüber“. Nicht etwas „Un-wirkliches“ also rief die neue Bewegung seit 1924 aus, wie es der Wort-gebrauch heute nahelegt, sondern vielmehr eine neue Realität, einen „réalisme“, der über herkömmlicher Wahrheit thronen sollte. Der Surrealismus wurde nicht erfunden, weil es Fantasien und Träume gab, sondern weil die Auffassung stärker wurde, dass sich ein wichtiger Teil menschlicher Realität dort abspielte.

Die Bewegung war groß, hatte keinen verbindlichen Stil, eher eine grobe Richtung – doch selbst das nicht immer. Einen Monat vor Breton schon veröffentlichte Ivan Goll in Frankreich sein eigenes surrealistisches Manifest, in dem er sich gegen das Freudianische aussprach und die Realität feierte; allerdings solle die sur-realistische Kunst eine Ebene über der Wirklichkeit bilden – wobei man zumindest feststellen konnte, dass sie sofort künstlerische Realitäten gebildet hatte: In Belgien verfasste Paul Nougé, Freund und Beeinflusser des großen René Magritte, ebenfalls eigene surrealistische Traktate. Magrittes Cumuluswolken vor Himmelsblau, die auch nach Hamburg kommen, wurden allein dadurch zum Rätselbild, dass er sie „La Malédiction“ (1931) nannte, „Verwünschung“ oder „Fluch“. Warum? Er mache, wie er kurz vor seinem Lebensende noch einmal betonte, nicht einfach hübsche „Traum-Malerei“. Seine Kunst solle nicht zum Versinken anregen, sondern zu totaler „Geistesgegenwart“, nicht zum Wegdämmern, sondern zum Aufwachen. Und aufgeweckt hat Magritte die Welt mit seinen konzeptuellen Bildern gründlich: die der bildenden Kunst, siehe etwa Andy Warhol, Marcel Broodthaers, Jeff Koons; die der Literatur, siehe Alain Robbe-Grillet; die der Filmkunst, siehe Alfred Hitchcock, The Simpsons, David Lynch – selbst die Musik der Beatles hat er inspiriert, Paul McCartney ist seit 1966 Magritte-Fan und -Sammler. Im Großen und Ganzen war der Surrealismus eine Bewegung, die sich autoritärer Herrschaft und Kolonialismus kritisch gegenüberstellte, vergleichsweise viele Frauen einbezog, teilweise mit dem Kommunismus liebäugelte, vor allem aber um die Welt flog. Bretons Zirkel war eine Pariser Angelegenheit, doch wichtige Vertreterinnen und Vertreter der Bewegung stammten aus anderen Ländern: Max Ernst aus Deutschland; Dalí und Miró aus Spanien; de Chirico war Italiener; Magritte stammte aus Belgien; Leonora Carrington war Britin; Frida Kahlo kam aus Mexiko – und Toyen, deren Werk absolutes Kompetenzgebiet von Görgen-Lammers ist und beim „Rendezvous“ natürlich nicht fehlt, stammte aus Tschechien. Kein Wunder, dass die weitverzweigte Bildsprache des Surrealismus heute noch in der Werbung und in virtuellen Realitäten eine Rolle spielt. Die surrealen Räume beispielsweise eines Dalí habe die VR teils inspiriert, so die Kuratorin.

Wie auch der Surrealismus gar nicht behauptete, vom Himmel gefallen und ganz neu zu sein, sich vielmehr Vorläufer wie Hieronymus Bosch auserkor, geht die Hamburger Schau ja auch nicht nur in die schier unermessliche Breite der Bewegung, sondern schaut zurück zur Romantik. Beiden Kunstströmungen, dies ein Verbindungselement, geht es um das dunkle Geheimnis der Existenz. „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge“, klagte Novalis im ersten seiner Blüthenstaub-Fragmente. Wie der Surrealismus Logik und Vernunft gegen Traum und Gefühl tauschen wollte, so brachte die Frühromantik das offene Fragment gegen abgeschlossene Werke in Stellung, spielte Tag und Leben gegen Nacht und Tod aus. So ist nach -Novalis’ berühmtem Gedichtzyklus „Hymnen an die Nacht“ (1800) sogar ein Hamburger Ausstellungssegment benannt. Apropos, die gut 250 Werke gliedern sich in 15 solcher Segmente, die sich wiederum in 15 Katalogkapiteln spiegeln. Im Museum findet das „Rendezvous“ auf dem Raum eines halben Fuß-ballfelds statt, auf 3.000 Quadratmetern, die sowohl Hubertus-Wald–Forum, Hamburger Gang, Rotunde sowie den Kuppelsaal einschließen. Der Start im Forum ist ein „Traumraum-Wunderkabinett“, so viel sei verraten, und in der Kuppel, mit ihrer Sternwarten-Assoziation, wird ein Blick auf romantische und surrealistische Mikro- und Makrokosmen geworfen. Daneben kann man Meret Oppenheims lyrische Verneigung vor der Romantikerin Karoline von Günderrode hören.

Rund um das Centre Pompidou und die Hamburger Kunsthalle waren oder sind nicht nur die Madrider Fundación Mapfre und die Brüsseler Königlichen Kunstmuseen eingebunden, sondern vor allem, erstmals als Partner der Kunsthalle, die wichtige US-amerikanische Ostküstensammlung des Philadelphia Art Museum, aus dem unter anderem „Geburtstag“ („Birthday“, 1942) von Dorothea Tanning (1910–2012) nach Hamburg kommt. Das kleine Sphinx-Wesen-Gesicht im Bildvordergrund erinnert ein bisschen an jene Hyäne, die Leonora Carrington, die große britisch-mexikanische Surrealismus-Legende, auf einem Selbstporträt von 1937/38 verewigte – und die sie wohl in ihrer Kurzgeschichte „Die Debütantin“ beschrieb. Ein rätselhaftes Tier, das an Stelle der Erzählerin zum Debütantinnen-Ball geht und dort, nun ja, keine besonders glückliche Figur macht: Die Hyäne hat, um sich zu tarnen, die Hausmagd aufgefressen und trägt deren Gesicht auf der Schnauze … Dabei erinnert Carringtons Hyäne schon auch an die Schauerromantik eines E. T. A. Hoffmann. An die paranormalen Vorgänge von Magnetismus und Hypnose, die Nachtseiten des Menschlichen.

Wie ein impliziter Kommentar zu jüngsten Diskussionen rund um die demokratische Kraft oder auch Schwäche von Museumssammlungen, liest sich eine ungefähre Liste der Bilder, die erstmals, endlich wieder oder vielleicht auch zum letzten Mal in Hamburg im Rahmen dieses internationalen Ausstellungsprojekts rund um das 100. Jubiläum des Surrealistischen Manifests zu sehen sind. Der Organisations- und Verwaltungsaufwand bei so vielen beteiligten Museen nebst affiliierter Privatsammlungen in Belgien, Frankreich, Spanien, den USA und im deutschen Hamburg ist gewaltig. Von der kreativen und forschenden kuratorischen Arbeit ganz abgesehen. Warum nun betreibt man solche Mühen? Damit die Menschen überall Zugang zu Kunstwerken bekommen, die sie sonst gar nicht oder nur mittels teurer Reisen anschauen können: von diesmal 70 unterschiedlichen Leihgeberinnen und Leihgebern.

Zu Zeiten eines Hamburger Museumsvisionärs wie Alfred Lichtwark um 1900 und sogar auch noch zu Zeiten der Entstehung des Surrealismus in den 1920ern lag die Hauptkompetenz von Museen beim Sammeln und Bewahren, im Ausstellen nur sporadisch. Das hat sich gründlich geändert. Heute liegt die Kompetenz im Bewahren und Ausstellen, sporadisch wird auch noch gesammelt, so damals in Hamburg von Werner Hofmann eben auch Surrealistisches. Jedenfalls, all das ist ganz unabhängig davon, wie man mit neuen emanzipatorischen Ideen umgeht, zum Beispiel mehr Künstlerinnen zu zeigen oder internationaler zu werden (was beides beim „Rendezvous“ passiert). Das Museumsunternehmen als Ausstellungsbetrieb besteht im Grunde aus dem Sammeln von Kompetenz, von Verbindlichkeiten, von Netzwerkelementen, was mindestens so viel Arbeit macht wie anno dazumal das Einholen von Objekten. In Hamburg hat dieser museale Betrieb nun wieder einmal zu einem großen, gelungenen Versuch geführt, internationale Sammlungen zumindest für die Ausstellungsdauer zu durchmischen, hier zu zeigen, was von dort kommt, dort zu zeigen, was sonst hier ist. Nichts gegen Novalis, doch manchmal sollte man vielleicht nicht das „Unbedingte“ suchen, sondern die Dinge wertschätzen. Um die Leistung der Hamburger Kunsthalle bei diesem außergewöhnlich hochklassigen „Rendezvous“ zahlenmäßig noch einmal klar auszudrücken: 35 Spitzenleihgaben allein aus dem bald in eine lange Renovierungsphase gehenden Centre Pompidou; aus Philadelphia kommen neben dem schon erwähnten magischen Selbstporträt „Geburtstag“ („Birthday“) von Dorothea Tanning unter anderem Joan Mirós „Hund, der den Mond anbellt“ (1926) und Salvador Dalís „Soft Construction with Boiled Beans (Premonition of Civil War)“ (1936) – im Gegenzug hat Görgen-Lammers den US-Amerikanern wertvolle europäische Privatsammlungskontakte vermittelt; aus Köln kommt Max Ernsts titelgebendes „Rendezvous der Freunde“ (1922), eines der wichtigsten Surrealismus-Gemälde überhaupt, das eigentlich nicht verliehen wird; Runges „Der Morgen“ kann erstmals in einen neuen Zusammenhang gebracht werden mit dem von der Hamburger Kunsthalle 1967 angekauften „Ein schöner Morgen“ und dem in Privatbesitz befindlichen „Die Erde ist ein Mann, der erbebt, sie ist der Apfel, der abfällt“ von Max Ernst, weil das Privatbesitz-Bild erstmals nach Hamburg reisen darf; aus Mexiko wird ein Spitzenwerk der Künstlerin Remedios Varo nach Hamburg geliehen; frühe Mirós kommen aus Paris und Philadelphia …

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Im Podcast spricht Kuratorin Dr. Annabelle Görgen-Lammers über die Ausstellung „Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik“ in der Hamburger Kunsthalle. Hören Sie weitere Episoden des Podcasts „Ausstellungstipps der Kulturstiftung der Länder“

Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik

Hamburger Kunsthalle
Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg
bis 12.10.2025

www.hamburger-kunsthalle.de

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