Der Schuh des Melanchthon
„Ist dieser alte Schuh überhaupt ein lohnendes Objekt für eine Förderung des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder?“ Diese Frage stellte sich in der Vorstandssitzung des Freundeskreises bei einem Förderwunsch der Marienbibliothek in Halle. Mit ihrer 462-jährigen Geschichte ist sie die älteste und größte historisch-wissenschaftliche evangelische Kirchenbibliothek, und der Freundeskreis hat dort in den vergangenen Jahren die Restaurierung prächtiger Bände ermöglicht. Der aus feinem Leder gefertigte Schuh hingegen ist unscheinbar und in sehr fragilem Zustand überliefert. Sein Leder ist verformt und schollig aufgebrochen, an der Ferse oder anderen beanspruchten Teilen klaffen Fehlstellen, der Verschlussriemen ist zum größten Teil verloren. Dennoch lässt sich eindeutig ein im 16. Jahrhundert getragener Spangenschuh rekonstruieren. Nicht der hybride, vorne verbreiterte „Kuhmaulschuh“, sondern ein schmaleres Exemplar.
Wer hat im 16. Jahrhundert seinen rechten Schuh in der Marienbibliothek vergessen? 1750 schreibt Johann Christoph von Dreyhaupt in seiner „Halle-Chronik“, dass dieser Schuh Melanchthon gehörte: „Von der MarienBibliothec […] Unter denen Curiosis sind […] Philipp Melanchthons […] Schuh.“ Philipp Melanchthon, neben Martin Luther die treibende Kraft der Reformation, war mehrfach in Halle. Der Schuh, etwa Größe 36, würde gut zur schmalen und kleinen Gestalt des „Praeceptor Germaniae“ passen. „Vermeintest, er wäre ein Knab gewesen“, beschreibt ihn ein Student in Wittenberg, fügt aber sogleich hinzu „von Geist aber ein Ries“. Mit seinen etwa 150 cm Körpergröße wäre der „Kleine Grieche“ – so nannte ihn Luther – ein möglicher Träger des Schuhs.
Ist das denkbar? Auch von anderen Reformatoren sind Erinnerungsstücke überliefert, die über Jahrhunderte in Ehren gehalten wurden: von Luther mehrere Krüge, Becher, Ringe und eine Kutte. „Reliquiis Lutheri“ nennt sie eine Dissertation von 1703. Einen angeblichen Schuh von Katharina von Bora hatte der Wirt der Klosterschenke -Nimbschen inszeniert. Helm und Waffen Zwinglis bewahrte das Züricher Zeughaus. Im Zusammenhang mit diesen, teilweise auch falschen oder kuriosen Zeugnissen der Reformatoren, könnte sich also durchaus der „echte“ Schuh Melanchthons erhalten haben.
Den rechten Schuh des Reformators muss man in einer größeren Verbindung mit Schuhen heiliger oder berühmter Persönlichkeiten sehen. Mit Schuhen etwa, die in der katholischen Kirche als Berührungsreliquien verehrt wurden: Den ersten Rang besitzen natürlich die Sandalen Christi, die der fränkische König Pippin II. im Zusammenhang mit der Pippinischen Schenkung 754 von Papst Stephan II. erhalten hatte. Partikel dieser Sandalen sind in karolingische Stoffschuhe eingearbeitet, die bis heute in der Salvatorkirche in Prüm aufbewahrt werden. Die Sandalen des Heiligen Franzikus befinden sich natürlich in San Francesco in Assisi und die wesentlich besser erhaltenen Sandalen des 1968 verstorbenen, jüngst heiliggesprochenen Kapuziners Padre Pio in dessen Geburtsort Pietrelcina. Am prächtigsten wird die Sandalensohle des Apostels Andreas präsentiert: in einem ottonischen Tragaltar im Trierer Domschatz. Die Sandalen Mohammeds befinden sich im Topkapıpalast in Istanbul, ein weiterer „Schuh des Propheten“ wurde kürzlich aus der Badshahi-Moschee im pakistanischen Lahore gestohlen. Ein bizarres Echo der verehrten Schuhe ist schließlich die „Heilige Sandale“ aus dem Film „Das Leben des Brian“ der britischen Komikergruppe Monty Python.
Nicht nur „Heilige Schuhe“ sind überliefert. Auch die „Arbeitsschuhe Michelangelos“ in der Casa Buonarotti in Florenz, und in der National Gallery of Art in Washington liegt eines von mehreren Holzschuhpaaren, die Gauguin in Pont-Aven getragen und mit Schnitzereien verziert hatte. Picassos Schuhe in Zebraoptik werden im Bata Shoe Museum in Toronto aufbewahrt. Schuhe des Philosophen Immanuel Kant wurden zeitweise im Dresdner Grünen Gewölbe gezeigt, Hausschuhe Johann Wolfgang von Goethes im Bally Schuhmuseum in der Schweiz. Wie schnell Schuhe als Erinnerungs-stücke bedeutender Persönlichkeiten als Kuriositäten bewahrt, musealisiert oder verehrt werden können, zeigen die Sandalen Gandhis: Ein Paar des spirituellen Führers der indischen Unabhängigkeitsbewegung befindet sich im Berliner Mauermuseum, ein weiteres wurde 2009 in New York versteigert. Joschka Fischers Turnschuhe, die er bei seinem Amtsantritt als hessischer Umweltminister trug, stehen schon seit langem im Deutschen Ledermuseum in Offenbach. Dort befinden sich auch Seidenstiefeletten der Kaiserin Sissy. Überhaupt sind die erhaltenen Schuhe gekrönter Häupter und schöner Frauen Legion: Ein Paar goldener Lederschuhe von Ferragamo aus dem Besitz Marilyn Monroes kam so mit einer Sonderausstellung sogar ins Frankfurter Ikonen-Museum.
Der Freundeskreis der Kulturstiftung sichert also mit der erfolgten Konservierung den Erhalt eines historischen Schuhs, der vielleicht dem Reformator Melanchton gehörte, nachweislich aber seit dem 18. Jahrhundert als solcher galt. Nicht sein materieller Wert oder seine Bedeutung für die Sachkultur des 16. Jahrhunderts waren für die Förderentscheidung ausschlaggebend. Sein historischer Wert und die Bewahrung in der Marienbibliothek machen den Schuh zu einem wichtigen historischen Erinnerungsstück, das aufgrund des vermuteten Trägers erhalten blieb und sich in eine große Tradition der Überlieferung von Reliquien und Erinnerungsstücken einfügt.