Das zerstörte Gedächtnis einer Stadt
Umberto Eco hat im „Namen der Rose“ dem Alptraum von Bibliothekaren und Archivaren literarisch ein Denkmal gesetzt: „Das Feuer erfasste sofort ein brüchiges Pergament, das wie trockener Zunder aufflammte. All das geschah in wenigen Augenblicken, schon loderte aus den Folianten eine Stichflamme auf, als hätten jene uralten Seiten bereits jahrhundertelang nach dem erlösenden Brande gelechzt und jubelten nun in plötzlich erfolgter Befriedigung einer primordialen Sehnsucht nach Ekpyrosis. […] Nach kürzester Zeit war der Raum ein einziges Flammenmeer, ein brennender Dornbusch. Auch die Schränke beteiligten sich an diesem freudigen Opfer und begannen zu knistern. […] Funken stoben hervor und flogen als schweifende Lichtpunkte durch die Nacht […] und mit ihnen flogen brennende Pergamentfetzen durch die Luft, gleich lebendig gewordenen Fackeln.“ Feuer war immer der größte Feind schriftlicher Überlieferung auf Pergament oder Papier: in der Antike der Brand der Bibliothek von Alexandria; während des Zweiten Weltkriegs die vorsätzlichen Brandlegungen in den Bibliotheken von Warschau oder Löwen sowie zahllose Zerstörungen durch den Bombenkrieg; in der Gegenwart die Kriegszerstörungen von Bibliotheks- und Archivgut im ehemaligen Jugoslawien (die Nationalbibliothek in Sarajevo) oder der Bagdader Nationalbibliothek im dritten Golfkrieg. Die Wunden des Krieges sind in deutschen Bibliotheken inzwischen vielfach gemildert. Nun drohen aber neue, unerwartete und darüber hinaus vermeidbare Gefahren. Nicht nur Umweltkatastrophen wie das Elbhochwasser, sondern auch Geldmangel, Vernachlässigung und Unachtsamkeit können zu verheerenden Schäden führen, mit Zerstörungen, wie sie bislang nur für Kriegsereignisse vorstellbar waren. So hat – vermutlich – eine marode Elektroleitung in der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu einem vernichtenden Brand mit dem Totalverlust von 50.000 historischen Werken sowie zu Schäden an 62.000 Bänden geführt. Die Zerstörungen gehen meist auf das Löschwasser zurück – den zweiten großen Feind unserer schriftlichen Überlieferung. Und nun das Historische Archiv der Stadt Köln, das bedeutendste kommunale Archiv nördlich der Alpen mit wertvollstem Archivgut von europäischem Rang: Bestände auf über 30 Regalkilometern – darunter einzigartiges Kulturgut wie die fast komplette Überlieferung der Stadt Köln seit 1.000 Jahren, Nachlässe von Politikern, Schriftstellern, Komponisten und Architekten (Karl Marx, Konrad Adenauer, Heinrich Böll und Jacques Offenbach); 65.000 Urkunden, 150.000 Karten, Pläne und Plakate sowie 500.000 Fotos. Im Gegensatz zu einer Bibliothek sind bei der Katastrophe im Archiv fast ausschließlich unersetzliche Unikate betroffen.
3. März 2009, 13:58 Uhr: „Die komplette Kreuzung war in dunklem Nebel. Das sieht hier aus wie am 11. September.“ Eine gewaltige Staubwolke steht dort, wo sich einst die archivalische Schatzkammer, das „Gedächtnis der Stadt Köln“ befand. Ein plötzlicher Wasser- und Erdeinbruch in der U-Bahn-Baugrube unmittelbar vor dem siebenstöckigen Archivbau führte zu dessen Einsturz. Angrenzende Gebäude wurden ebenfalls in den über 20 Meter tiefen Krater gerissen. Zwei Menschen starben unter den Trümmern, die Archivmit-arbeiter und Nutzer konnten in letzter Sekunde aus dem Gebäude fliehen. Der Großteil des Archivgutes wurde verschüttet. Urkunden, Handschriften, Akten, Fotos und Tonbänder lagen vermischt mit Mobiliar, Teppichböden, Staub und Bauschutt in einem meterhohen Schuttberg oder waren in den nassen Krater der Baugrube abgerutscht. Bereits am Tag des Einsturzes begannen die Bergungen und eine Erstversorgung der Archivalien. Beteiligt waren die professionellen Helfer und zahllose Freiwillige aus Köln und ganz Deutschland. Im Juli mussten die Arbeiten dann zwei Meter unterhalb des Grundwasserspiegels abgebrochen werden. Mindestens zehn Prozent der Bestände liegen seitdem im Grundwasserbereich und sollen noch geborgen werden. Denn auch bei diesen Beständen besteht noch die Hoffnung auf Rettung – durch hohen Druck sind die Seiten zusammengepresst und das Grundwasser dringt nur langsam ins Innere von Handschriften oder Akten. Manche Objekte konnten mit geringeren Schäden geborgen werden. Feucht und staubig sind alle geborgenen Archivalien. Bei anderen Stücken führen die massiven Zerstörungen zu neuen Wortschöpfungen: „Blumenkohl“ und „Köln-Flocken“ werden aus den Trümmern gezogen. „Blumenkohl“ heißen die bizarr gestauchten und aufgefalteten Handschriften mit deformierter Bindung, wie sie auch unsere Abbildung zeigt. „Köln-Flocken“ sind die tausenden kleinen Fragmente von Akten, Pergamenthandschriften, Fotos usw., deren Zuordnung vielleicht nie wieder gelingen wird.
Die Kulturstiftung der Länder will das Historische Archiv der Stadt Köln bei der Restaurierung seiner beschädigten Schätze unterstützen. Mit einer unmittelbar nach dem Einsturz bewilligten Soforthilfe konnte inzwischen eine Gefriertrocknungsmaschine angeschafft werden. Feucht geborgene Archivalien wurden nach ihrer Bergung eingefroren, um weitere Beschädigungen zu stoppen. Die neue Maschine entzieht diesen Stücken nun das Wasser, und die aufwendige Restaurierung kann beginnen. Der Freundeskreis der Kulturstiftung der Länder sowie die Adolf Würth GmbH & Co. KG haben ergänzend die Restaurierung wichtiger Urkunden mit zerknülltem Pergament und geborstenen Siegeln ermöglicht. Weitere Stücke sollen folgen. Auch die Leser von Arsprototo können sich an dieser dringenden Aufgabe beteiligen – bitte beachten Sie die Spendenaufrufe in dieser und den folgenden Ausgaben! Priorität wollen wir dabei zunächst einem Bestand wertvollster Handschriften einräumen: Ohne die rastlose Sammeltätigkeit des letzten Rektors der Alten Universität Ferdinand Franz Wallraf († 1824) wäre unser Bild vom historischen Köln unschärfer und seine Überlieferung in den Museen, Bibliotheken und Archiven um einiges ärmer. Seine umfangreiche Sammlung aus den säkularisierten Klöstern Kölns bildet den Kern der kostbaren Handschriftensammlung des Historischen Archivs. Karolingische und ottonische Codices sind ebenso darunter wie aufwendig miniierte und goldverzierte spätmittelalterliche Stundenbücher. National wertvolles Kulturgut, wie das vor 1000 Jahren entstandene Evangeliar von St. Gereon gehört dazu, dessen Miniaturen die Porträts von Otto III., seiner Mutter Kaiserin Theophanu und von Adelheid – der Gemahlin Kaiser Ottos des Großen – überliefern. Ebenso ein romanisches Evangeliar aus dem Kölner Benediktinerkloster St. Pantaleon mit eindrucksvollen, starkfarbigen Heiligenbildern, das wie durch ein Wunder geschützt den Einsturz in der Werkstatt überstand. Weltliche Handschriften befinden sich in dem Bestand, wie ein bebilderter Codex mit Gottfried von Straßburgs Liebesgeschichte „Tristan und Isolde“ (frühes 14. Jh.) oder diverse Arzneibücher. Genauso aber ein romanischer Speculum virginum – ein „Spiegel der Jungfrauen“, der in Wort und Bild Begründungen und Rechtfertigungen des jungfräulichen Lebens im Kloster lieferte, oder eine rare Sammlung päpstlicher Schreiben aus dem 13. Jahrhundert. Der Bestand Wallraf umfasste fast 400 Handschriften, das Archiv besaß insgesamt etwa 1.500 Handschriftenbände aus Pergament und Papier. Nur etwa 85 Prozent der verschütteten Handschriften konnte bisher geborgen werden. Ihr Anblick ist erschütternd: Risse, Knicke, Quetschungen, Fehlstellen, Staub, massive Verschmutzungen, Wasserschäden, Schimmel und Mikrobenbefall. Aber Rettung ist möglich!
Die Kulturstiftung der Länder will zusammen mit Ihnen und weiteren Förderern und Mäzenen den ersten Schritt zur Wiedergewinnung und Restaurierung dieses bedeutenden Bestandes tun. Jede Spende zählt bei dieser ungeheuren Aufgabe! Begleiten Sie uns bei diesem dringlichen Restaurierungsunternehmen. Alle Mittel kommen ausschließlich der Reinigung und Restaurierung der kostbaren Schriften und Bilder Kölns und unserer eigenen Geschichte zu Gute.