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SAMMLUNGEN

Das Museum als Ort der Aushandlung

Ein Plädoyer für eine neue kuratorische Ethik im Umgang mit Objekten aus kolonialen Kontexten / Mahret Ifeoma Kupka

Fragen danach, was eigentlich weiter passiert, wenn Objekte aus kolonialen Kontexten an ihre Herkunftsgesellschaften restituiert werden, ziehen sich wie ein roter Faden durch meine kuratorische und forschende Praxis. Was bedeutet ihre Rückgabe für Sammlungen, für Museen, für das mit ihnen verbundene Wissen – und für all jene, die mit diesen Dingen leben, arbeiten, forschen und erinnern? Ich begreife Restitution nicht als Schlusspunkt, sondern als Beginn eines offenen Prozesses, in dem Bedeutungen, Beziehungen und Werte neu verhandelt werden: zwischen Nachfahren der Kolonialmächte und jenen der Herkunftsgesellschaften, zwischen Institutionen, Künstlern und Künstlerinnen, Forschern und Forscherinnen – und zwischen unterschiedlichen Konzepten von Objekt, Besitz, Erinnerung und kulturellem Erbe.

In diesem Text gehe ich der Frage nach, welche Strategien Institutionen und Initiativen in den Herkunftsgesellschaften verfolgen, um sich mit wiedererlangtem, fremd gewordenem Kulturerbe aus den Ländern ihrer Vorfahren (neu) zu verbinden. Manche dieser Objekte hinterließen nach ihrer gewaltsamen Entwendung eine Leerstelle oder geisterhafte Erinnerungen; andere wurden ersetzt und haben ihre rituelle Funktion verloren. Geografien haben sich verschoben, Bedeutungen sind gewandert, Praktiken haben sich verändert. Heute kehren die Objekte zurück – oft transformiert zu „ethnografischen“ Artefakten kolonialer Klassifikation. Nicht selten treffen sie auf Institutionen, die nach europäischem Vorbild gegründet wurden und bis heute entsprechend funktionieren. Wenn Museen Orte sind, an denen Objekte durch Kontextverlust entheiligt werden, stellt sich die Frage, wie sie paradoxerweise zu Räumen werden können, in denen sich Kulturerbe und Gemeinschaft neu verbinden. Wie können sie zu Kontaktzonen werden, in denen Erinnerung, Bedeutung und Zugehörigkeit wieder verhandelt und weitergeschrieben werden?

„Das Museum muss in seiner grundlegenden Struktur dekolonisiert werden“, fordert Françoise Vergès in ihrer jüngsten Publikation „A Program of Absolute Disorder. Decolonizing the Museum“. Für sie genügt es nicht, kolonial geraubte Objekte zurückzugeben, wenn diese anschließend in afrikanischen Museen nach westlichem Modell konserviert und präsentiert werden. Dekolonisierung bedeutet vielmehr eine radikale Infragestellung der institutionellen Logiken von Museen, Archiven und Wissensproduktion. Die neuen Museen, so Vergès, dürfen keine ethnologischen Reproduktionen sein, sondern müssen aus der gelebten Realität der Gesellschaften heraus entstehen, zu denen die Objekte gehören. Es geht darum, neue Formen des Sammelns, alternative Objektbegriffe und institutionelle Praktiken zu erproben. In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie kuratorisches Arbeiten Räume des Zuhörens, Aushandelns und Erfindens eröffnen kann. Erinnerung, so betont Vergès, muss nicht notwendigerweise an materielle Objekte gebunden sein. Sie plädiert für „dekoloniale Ästhetiken“, die sich von westlicher Materialfixierung lösen und Erinnerungsarbeit beispielsweise über Performance, Klang oder orale Praktiken ermöglichen.

Unterschiedliche Initiativen und Institutionen setzen sich in ihrer täglichen Praxis intensiv mit diesen Fragen auseinander. „MuseumFutures Africa“ unterstützte als panafrikanisches Projekt Museen dabei, sich neu auszurichten und eigene Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Im Zentrum stand die Frage, wie Museen auf dem afrikanischen Kontinent sich von eurozentrischen und kolonialen Strukturen lösen und zu selbstbestimmten, zeitgemäßen Institutionen werden können. Das Projekt – initiiert vom Goethe-Institut in Zusammenarbeit mit afrikanischen Expert:innen aus dem Kunst- und Museumsbereich – vernetzte in seiner ersten Phase (2020–2022) Museen aus verschiedenen Ländern Afrikas, die aktiv Veränderungen in ihren Einrichtungen anstoßen wollten. In der zweiten Phase (2022–2023) wurde der Fokus auf Museen weiterer Regionen im Globalen Süden erweitert. Drei Themen standen dabei stets im Mittelpunkt: die Sammlungsarbeit, die Organisationskultur und die Frage, für wen das Museum heute eigentlich da ist. Ziel war es, Museen zu Orten von -Dialog, Teilhabe und Wissensaustausch zu machen. „MuseumFutures Africa“ verstand sich bewusst als Prozess und nicht als fertiges Modell. Anstatt standardisierte Lösungen vorzugeben, förderte das Projekt individuelle Antworten auf lokale Kontexte und Bedürfnisse. Es ging darum, neue Perspektiven auf das Museum als Institution zu entwickeln – geprägt von lokalen Erfahrungen, Visionen und Gemeinschaften.

Teil des Projekts war das Musée Théodore Monod d’Art africain in Dakar, Senegal. Die ethnologisch klassifizierte Sammlung entstand in den 1930er-Jahren, als Dakar Hauptstadt der französischen Kolonien in Westafrika war. Heute beherbergt das Museum eine der bedeutendsten Sammlungen westafrikanischer Kunst auf dem afrikanischen Kontinent. Unter der Leitung von Malick Ndiaye hat sich das Haus neu positioniert: von einem kolonial geprägten Forschungsarchiv hin zu einem Raum kultureller Selbstreflexion. Künstler:innen, Aktivist:innen und Kurator:innen arbeiten gemeinsam an einer radikalen Öffnung: Das Museum soll nicht länger das Andere ausstellen, sondern sich als Plattform für zeitgenössische Aushandlungsprozesse verstehen – auch im Kontext von Rückgaben. Durch den Dialog zwischen zeitgenössischer künstlerischer Praxis und kulturellem Erbe will das Museum neue Lesarten seiner Sammlungen ermöglichen. Ein zentraler Bestandteil dieser Neuausrichtung ist ein Residency-Programm, das lokale Künstler und Künstlerinnen einlädt, sich von Objekten der Sammlung zu neuen Arbeiten inspirieren zu lassen – mit dem Ziel, bestehendes Wissen kritisch zu hinterfragen und dekoloniale Perspektiven zu stärken.

Ein Beispiel ist die Fotoinstallation „Déekilate“ von Ibrahima Thiam, inspiriert vom Gedicht „Écoutez plus souvent les choses que les êtres“ von Birago Diop („Hört öfter auf Dinge als auf Wesen“). Thiam, aus Saint-Louis im Senegal, widmet sich in seiner Arbeit archivarischen Bildern, Erinnerungen, afrikanischer Oralität sowie Mythen und spirituellen Praktiken. Im Zentrum stehen die Lébou-Götter Maam Njaré und Maam Ndeuk Daour sowie Baobab-Bäume, die in Westafrika als spirituelle Orte gelten. „Déekilate“ bedeutet auf Wolof „Wiedergeburt“ – entsprechend versteht Thiam seine Arbeit als Einladung zur Heilung, zur Rückkehr zur Erde, zu den Ahnen und zur -spirituellen Selbstvergewisserung. Die Installation verweist auf Praktiken wie das Ndeup-Heilungs-Ritual und öffnet einen Raum für die Wiederbelebung marginalisierten Wissens.

Ein weiteres Beispiel ist eine raumgreifende Textilarbeit, die der senegalesische Künstler Viyé Diba 2021 im -Rahmen seiner Residency entwickelte. Ausgangspunkt war die Auseinandersetzung mit einer Genitalabdeckung der Bété sowie Bettquerstreben aus dem Niger aus der Sammlung des Museums. In diesem Werk steht das Material im Zentrum des künstlerischen Prozesses: Es bestimmt die Technik ebenso wie die ästhetische Form. Diba kombiniert natürliche und industrielle Materialien – etwa Bast, Fasern aus Kartoffel- und Zwiebelsäcken sowie modernen Nylonfaden – zu einem neuen, textilen Gefüge. Die Arbeit thematisiert die Notwendigkeit einer zeitgenössischen Auseinandersetzung mit historischen Objekten und deren Kontexten. Sie versteht sich als Beitrag zur aktuellen Debatte um die Rückgabe afrikanischen Kulturerbes und verweist zugleich auf die Möglichkeit neuer Formen der Vermittlung und Verbindung zwischen musealen Sammlungen und heutigen afrikanischen Gesellschaften.

Beide Arbeiten waren Teil der Ausstellung „Ré-imaginer le passé“, die 2023 in Dakar und 2024 in Berlin gezeigt wurde. Das kuratorische Team um den Direktor des Musée Théodore Monod, Malick Ndiaye, Isabel Raabe (Berlin), Ibou C. Diop (Berlin/Dakar) und mir wählte das Imaginäre als kreativen Ausgangspunkt, um bestehende Realitäten zu hinterfragen und neue Denk- und Möglichkeitsräume zu eröffnen. „Ré-imaginer le passé“ war mehr als eine Ausstellung: eine mehrmonatige, kollaborative Forschungsreise mit Kurator:innen, Künstler:innen und Denker:innen vom afri-kanischen Kontinent, der Diaspora, Deutschland und Indien. Ziel war eine Neuinterpretation historischer Narrative und die Entwicklung alternativer Zukunftsentwürfe. Im Zentrum stand die Frage: Kann ein anderes Verständnis unserer Geschichten neue ethische Beziehungen zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden ermöglichen?

Das Ausstellungsprojekt sowie die Residencies am Musée Théodore Monod sind Teil des TALKING OBJECTS LAB, das – initiiert von Isabel Raabe – seit 2021 an der Schnittstelle von Kunst, Forschung und kuratorischer Praxis arbeitet – mit Partnerinstitutionen in Deutschland, Senegal, Kenia und Nigeria. In Ausstellungen, Symposien und Interventionen entstehen neue Perspektiven auf Objekte, Archive und kollektives Gedächtnis. Das LAB stellt eurozentrische Wissenssysteme infrage, lernt von künstlerischen Perspektiven, reflektiert Lücken und Verlust und sucht nach neuen Formen des Bewahrens. Dabei setzt es auf Polyperspektivität, erkennt Wissen als Prozess und Erinnerung als dynamisch. Langfristig zielt TALKING OBJECTS auf neue Beziehungsethiken zwischen globalem Süden und Norden – und schafft Raum für gemeinsames, dekoloniales Forschen und Lernen.

Begleitend zum LAB entstand das TALKING OBJECTS ARCHIVE – ein digitales Archiv für dekoloniale Wissensproduktion. Das kuratorische Team, bestehend aus Isabel Raabe, Malick Ndiaye, Njoki Ngumi, Chao Tayiana Maina und mir agiert zwischen Senegal, Kenia und Deutschland. Im Zentrum stehen Objekte als Ausgangspunkte für vielstimmige Erzählungen: Sie machen koloniale Gewalt sichtbar, zeigen kulturelle Verflechtungen und eröffnen neue Formen des Erinnerns. Das Archiv ist ein offener, wachsender Raum für vielstimmige Erzählungen –assoziativ, kollaborativ, unvollständig. Aktuell umfasst es rund 120 Objekte, u. a. aus dem Musée Théodore Monod (Dakar) sowie aus Museen in Leipzig (GRASSI Museum für Völkerkunde), Köln (Rautenstrauch-Joest-Museum), Frankfurt am Main (Museum Angewandte Kunst) und Berlin (Museum Europäischer Kulturen). Die Auswahl folgt einem dialogischen Prinzip: Auf Objekte aus Dakar antworten die Partnerinstitutionen mit eigenen – es entstehen neue Dialoge, Kontexte und kuratorische Verbindungen. Das Archiv richtet sich an alle, die sich mit dekolonialem Wissen beschäftigen, und lädt zur kreativen Aneignung ein: mit Texten, Videos, Sounds, mündlichen Überlieferungen und Poesie. Künftig sollen Ausschreibungen gezielt Nachwuchs und Kulturschaffende beteiligen.

Ein Schlüsselereignis, das die politische Dringlichkeit der Debatten um Restitution erneut in den Vordergrund rückte, war die Rede von Emmanuel Macron an der Universität von Ouagadougou im November 2017. Darin kündigte der französische Präsident an, binnen fünf Jahren die Voraussetzungen für Rückgaben afrikanischen Kulturerbes zu schaffen. Der anschließende Bericht von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy legte erstmals umfassend dar, wie Restitution konkret ermöglicht werden könnte. Bereits 1965 forderte der Dichter Paulin Joachim in einem Leitartikel für das panafrikanische Magazin Bingo die Rückgabe afrikanischer Kunstwerke – nicht als rückwärtsgewandte Geste, sondern als Vision für eine selbstbestimmte Zukunft. Die Wiedererlangung afrikanischer Kunst bedeutete für ihn und viele Vertreter und Vertreterinnen eines formal postkolonialen Afrika ein Aufbegehren gegen das koloniale Narrativ, Afrika sei ein Kontinent ohne Geschichte.

Welche gesellschaftliche Sprengkraft Restitution entfalten kann, zeigt der Film „Dahomey“ (2024) von Mati Diop, ausgezeichnet mit dem Goldenen Bären. Im Film verbindet Diop dokumentarische Aufnahmen der Rückgabe von 26 königlichen Objekten aus dem Pariser Musée du quai Branly nach Benin mit einer fiktiven, geisterhaften Erzählstimme eines zurückkehrenden Objekts, das von seiner Erfahrung der Rückgabe berichtet. Der Film zeigt zudem, wie die Rückkehr der Objekte in Benin intensive öffentliche Debatten auslöst – über Geschichte, Identität und die Zukunft der Jugend. Es wird deutlich, dass Restitution kein rein administrativer Akt ist, sondern eine tiefgreifende kulturelle, politische und emotionale Auseinandersetzung. Die Objekte erscheinen nicht nur als museale Artefakte, sondern als Träger von Geschichte, Trauma und Stolz. Diop zeigt, dass die Rückgabe der Objekte erst der Anfang eines umfassenden Prozesses ist, in dem Fragen nach Identität, Macht und Zukunft verhandelt werden.

Vielleicht liegt das eigentliche kulturelle Erbe nicht in den Objekten selbst, sondern in den Beziehungen, die sie ermöglichen. Das bedeutet nicht, dass physische Restitution keine Rolle mehr spielen sollte. Interessant ist vielmehr die erweiterte Bedeutung für Sammlungen, die eine solche Perspektive ermöglicht. Sammlungen sind keine Behälter fixierter Bedeutungen, sondern bewegliche Räume, durchzogen von Geschichten, Erinnerungen und Machtverhältnissen. Die Objekte sind nicht Eigentum, sie stehen in Beziehung: zu Menschen, Orten, Geschichten. Ein Museum, das dem Rechnung trägt, wird zum Ort der Aushandlung, der künstlerischen und gesellschaftlichen Transformation. In dieser Bewegung liegt das Potenzial einer neuen kuratorischen Ethik: eine Ethik der Beziehung statt Repräsentation, des Zuhörens statt Erklärens, des Teilens statt Besitzens. Die Objekte geben keine eindeutigen Antworten – aber sie öffnen Räume und wir sind eingeladen, sie in unserer Vielstimmigkeit gemeinsam zu gestalten. Die Wege, die viele Museen in Afrika dabei einschlagen, sind nicht nur Ausdruck dieser Haltung, sondern auch ein wichtiger Impuls für die Museums-arbeit weltweit – als Einladung, das Museum immer wieder neu zu denken: offen, relational und zukunftsgewandt.

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