Handschriften der Romantik

Im Frankfurter Goethe-Haus befinden sich fast der gesamte Nachlass des roman­tischen Dichters Novalis sowie (Teil-)Nachlässe von Autoren der Romantik wie Clemens Brentano, Achim und Bettine von Arnim und Joseph von Eichen­dorff: Das Auftauchen einer unbekannten Handschrift von Friedrich von Hardenberg – besser bekannt als Novalis – zum Anfang des Romanfragments „Heinrich von Ofterdingen“ war eine Sensation – ein beson­derer Glücksfall für das Freie Deutsche Hochstift, dass der Ankauf des kost­baren Ent­wurfs noch vor der Versteigerung in London gelang. Die Kultur­stiftung der Länder, der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Fritz Thyssen Stiftung und das Kulturamt der Stadt Frankfurt a. M. unterstützten die Erwerbung.

Obgleich viel gelesen und analysiert, gibt Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ der Literaturwissenschaft bis heute manches Rätsel auf. Insbesondere die Entstehung des ersten Teils des Haupt- und Schlüsselwerks der deutschen Frühromantik, das 1802 von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck aus dem Nachlass des Dichters he­rausgegeben worden war, liegt weitestgehend im Dunkeln. Der Fund auf dem internationalen Kunstmarkt erhellt nun Genese und Gestalt des Roman­anfangs: Das bisher unbekannte beidseitig beschriftete Blatt Novalis’ mit zwei einleitenden Sonetten und einem Ent­wurf des Titelblatts zeigt nicht nur die ersten tastenden Versuche des Dichters, in den Roman hineinzufinden. Neben vielen Formu­lierungsversuchen bestätigt die Handschrift auch, was andere Quellen bereits vermuten ließen: „Heinrich von Afterdingen“ sollte der Titelheld nach Novalis eigentlich heißen, doch die Heraus­geber Schlegel und Tieck änderten den Namen in die historisch ebenfalls belegte Namensvariante „Ofterdingen“ ab. Und was im Erstdruck stand, sollte für die nachfolgenden Ausgaben verbindlich bleiben – bis heute.

Spannend ist auch die Provenienz des Blattes: Es war in ein Album montiert, das von der englischen Dichterin Hope Fairfax Taylor ab Weihnachten 1907 angelegt wurde. Dieses enthält vor allem nachgelassene Briefe und Visitenkarten, die an ihre 1867 verstorbene Großtante Sarah Austin geb. Taylor (1793–1867) gerichtet waren, die im 19. Jahrhundert als die kennt­nisreichste Übersetzerin aus dem Deutschen bekannt war. Auch dieses Album konnte vom Freien Deutschen Hochstift erworben werden. Es enthält weitere kostbare Autographen, so etwa Briefe von Mendelssohn-Bartholdy und Hans Christian Andersen.

Weitere wertvolle Handschriften u. a. von Friedrich Schlegel, die hauptsächlich auf den Nachlass des Gründers der Deutschen Zentrumspartei Ernst Lieber zurück­gehen und die sich als Leihgabe schon seit den 1960er Jahren in der Frank­furter Sammlung befinden, konnten jetzt ebenfalls vom Freien Deutschen Hochstift er­worben werden: Ihr Glaube an die Kraft der Literatur hatte die Freundschaft zwischen Friedrich Schlegel und Novalis auf ein starkes Fundament gestellt: Die beiden früh­romantischen Dichter strebten danach, geltende gesellschaftliche und litera­rische Konventionen aufzu­brechen und sehnten sich nach einer „Romanti­sierung der Welt“. In den lebhaften Diskursen ihrer regelmäßigen Treffen ent­wickelten sie das Fragment zu einer spezi­fisch romantischen Literaturform. Über­zeugt von der Be­deutung großer literari­scher Werke wie der von Shakespeare, übersetzten die jungen Denker ausländische Schriften und trugen damit zur Ver­breitung der Welt­literatur bei. Ihre Gedanken zu Philosophie, Religion, Ge­schichte und Literatur tauschten die Frühromantiker zu­dem in einem regen Brief­wechsel aus, von dem nun 31 Briefe von Schlegel an Novalis aus den Jahren 1793 bis 1798 dauerhaft für das Freie Deutsche Hochstift gesichert wurden. Der Ankauf gelang mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Hessischen Kultur­stiftung, des Kulturamts der Stadt Frankfurt am Main, der Rudolf-August Oetker-Stiftung, der Dr. Marschner Stiftung und der FAZIT-Stiftung sowie durch private Spenden.

Das Konvolut umfasst insgesamt 871 Handschriften aus dem Umkreis der deutschen Romantikbewegung, darunter 180 Seiten an Werknotizen Friedrich Schlegels aus den Jahren 1803–1823, in denen er aphoristische Gedanken u. a. zu Philosophie und Poesie zu Papier brachte. Ferner enthält die Sammlung Manu­skripte und Briefe von und an Moritz Lieber, u. a. von seinem Studienfreund Clemens Brentano, der einer der Hauptvertreter der Heidelberger Romantik war. Die Sammlung der Hand­schriften des Freien Deutschen Hochstifts wird durch das Herzstück des Nach­lasses – die Briefe von Schlegel an Novalis – komplettiert: Das Briefkonvolut bildet das Gegenstück zu 23 Briefen von Novalis an Schlegel (1793–1800), die bereits Ende der 1950er Jahre von der Forschungs­institution erworben wurden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist durch den Ankauf der Brief­wechsel der beiden Dichter nun vollständig im Freien Deutschen Hochstift vorhanden.

Das Freie Deutsche Hochstift ist eines der ältesten Kulturinsti­tute Deutschlands. Es setzt sich unter anderem für die Sammlung und Edition litera­rischer Werke ein und beherbergt den weltweit größten Bestand an Hand­schriften der deutschen Romantik. Vom 28.1. bis zum 4.3.2012 werden die Werkhandschrift zum „Heinrich von Ofterdingen“ sowie ausgewäh­lte Briefe und Werknotizen von Friedrich Schlegel aus der Sammlung Lieber im Frankfurter Goethe-Haus zu sehen sein. Zur Eröffnung am 27. Januar 2012 spricht Prof. Dr. Günter Oesterle, Gießen.