Chancengerechtigkeit – Voraussetzung von Freiheit

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Dr. von Stockhausen,

ich begrüße Sie herzlich im Namen der Mitveranstalter: der Kulturstiftung der Länder, die die Bildungsinitiative Kinder zum Olymp! 2004 ins Leben gerufen hat und die viele von Ihnen auch über den erfolgreichen jährlichen Wettbewerb Kinder zum Olymp! kennen. Und im Namen der Kulturstiftung des Bundes, die sich auch in diesem Jahr für einen exzellenten künstlerischen Beitrag zum Kongress stark gemacht hat. Morgen Abend können wir „Die gute Stadt“, eine Stadt-Oper von Sinem Altan verfolgen.

Der Freiburger Neurowissenschaftler Joachim Bauer, den zumindest die anwesenden Freiburger/innen kennen werden und dessen Bücher in den ansässigen Buchhandlungen an prominenter Stelle ausgestellt sind, hat 2007 ein „Lob der Schule“ geschrieben, eine Publikation, die damals auch als Replik auf Bernhard Buebs Bestseller „Lob der Disziplin“ gedacht war. Es ging ihm darum, dass man mit rigiden und robusten Mitteln in der Pädagogik nicht weiterkommt. Anders als Bueb führt Bauer den Mangel an Selbstvertrauen, an fachlichem Grundwissen und an sozialer wie emotionaler Kompetenz, mit dem viele Schüler/innen die öffentlichen Schulen in unserem Land verlassen, darauf zurück, dass es vielfach nicht gelingt, die wichtigste Voraussetzung für Lernerfolg zu schaffen: Konstruktive und lernfördernde Beziehungen: „Alles schulische Lehren und Lernen ist eingebettet in ein interaktives und dialogisches Beziehungsgeschehen.“ Bauer argumentiert: „Neueste neurobiologische Studien zeigen: entscheidende Voraussetzung für biologische Funktionstüchtigkeit unserer Motivationssysteme sind das Interesse, die soziale Anerkennung und die persönliche Wertschätzung, die einem Menschen entgegengebracht werden“. Schon die Aussicht auf Zuwendung, Anerkennung oder Wertschätzung sei, so Bauer, motivationsfördernd. Soziale Ausgrenzung oder Isolation dagegen wirken sich nachweislich motivationshemmend aus. Erfolg in der Schule hängt demnach entscheidend von einem leidenschaftlichen Interesse der jeweiligen Bezugspersonen an der Fortentwicklung der Kinder und Jugendlichen, also von Resonanzbeziehungen ab. Sie kennen das sicher alle aus eigenem Erleben: Wenn Sie einen Lehrer oder eine Lehrerin fesselnd und interessant finden, avanciert das jeweilige Fach schnell zum Favoriten und bestimmt nicht selten die weitere Bildungskarriere.

Den Argumenten von Joachim Bauer werden viele unter Ihnen sicherlich zustimmen können. Die Frage ist nur: Wie bringen wir diese Erkenntnisse mit unserer Forderung nach Chancengerechtigkeit in der kulturellen Bildung zusammen? Können wir glaubwürdige Intersubjektivität und Resonanzbeziehungen institutionalisieren? Oder müssen wir hoffen, dass jede/r Bildungsverantwortliche sein oder ihr Bestes gibt? Können wir davon ausgehen, dass die Kunst geeignet ist, Resonanzerlebnisse zu vermitteln – ein Argument, dass der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa in einem anderen Kontext anführt? Nach meiner Auffassung müssen wir auf allen Ebenen der Bildungsverantwortung über die Frage der Gerechtigkeit neu nachdenken und die Bildungsgerechtigkeit als zentralen Bestandteil einer fairen und gerechten Gesellschaft betrachten.

Diese Ebenen sind neben der konkreten pädagogischen und künstlerischen Arbeit wichtig für die Ausbildung der Pädagogen in Kita über Schule, Kultureinrichtungen bis hin zu den freien Vermittlungskontexten. Die Ausrichtung unserer Institutionen und Förderinstrumente auf die Frage der Gerechtigkeit sowie die Schaffung von gerechten Strukturen des Zugangs und der Partizipation sind kardinale Herausforderungen einer gelingenden kulturellen Bildung. Darüber hinaus müssen die politischen Akteure und die jeweils zuständigen Verwaltungen über die Veränderungen der Rahmenbedingungen neu nachdenken und reflektieren, was nicht gerade einfach ist, denn es gibt im Zuge der Globalisierung eine Reihe von Herausforderungen, die sich der politischen Steuerung entziehen. Ich möchte Ihnen einige Beispiele für Maßnahmen geben, die ich für geeignet halte, die Weichen neu zu stellen und Sie werden sich in den kommenden beiden Tagen auch mit einer großen Anzahl von Anschauungen einer gelungenen Verwirklichung von Chancengerechtighkeit auseinandersetzen können, die wir Ihnen im Übrigen präsentieren wollen, ohne dabei Defizite und Probleme zu vertuschen oder zu kaschieren.

Gerechtigkeit ist eine zentrale Kategorie auch in der politischen Bildung. Der unlängst verstorbene politische Philosoph John Rawls nennt die Gerechtigkeit die „erste Tugend sozialer Institutionen“ (Theorie der Gerechtigkeit, 1971, S. 19). Rawls, der als Vertragstheoretiker in der Tradition von John Locke und Immanuel Kant steht und der sich vom utilitaristischen Gedankengut der neoliberalen Schule distanziert hat, entwickelt verschiedene Gerechtigkeitsgrundsätze, von denen einer für uns besonders interessant ist. Dieser Gedanke besteht darin, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten in einer Gesellschaft nur dann gerechtfertigt sind, wenn Sie mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen unter der Bedingung fairer Chancengleichheit zur Verfügung stehen und die damit zu einem größeren zu erwartenden Vorteil für die am wenigsten Begünstigten führen. Rawls nennt das das Differenzprinzip.

Was hat es mit dieser Chancengleichheit auf sich? In modernen Gesellschaften fassen wir sie meist als Frage der Verteilungsgerechtigkeit, als Frage des gleichen Zugangs zu Lebenschancen auf. In unserem Kontext sollten wir sie zunächst als Frage des gleichen Zugangs zu kulturellen Bildungsangeboten betrachten. Die französische Kulturministerin Fleur Pellerin, die wir nach Freiburg eingeladen haben und die leider aus terminlichen Gründen nicht an unserem Kongress teilnehmen kann, sagt zu dieser Thematik: „Ce qui m’intéresse, c’est de faire en sorte que la culture ne soit pas réservée à une élite qui détiendrait seul les codes [de compréhension] de l’art.“ (sinngemäß übersetzt bedeutet das so viel wie: „Was mich interessiert, ist dafür zu sorgen, dass Kultur/Bildung nicht nur eine Elite erreichen kann, die als einzige die kulturellen Codierungen verstehen kann“). Bei der Bundeszentrale für politische Bildung haben wir schon vor längerer Zeit begonnen, das Dechiffrieren der kulturellen Codes als eines der zentralen Lernziele auf unsere Agenda zu schreiben und uns hier im Schwerpunkt auch dem Feld des Audiovisuellen und auch der Mode zu engagieren, was in diesen Kongress mit eingeflossen ist. Das Beherrschen der habituellen Regeln in einer Gesellschaft kann als zentrales Knowhow gelten, mit dem ungleiche Chancenverteilungen durch die Individuen selbst ausgehebelt werden können. Wir haben uns mit unseren Partnern aber auch dafür stark gemacht, dass wir im Kontext kultureller Bildung nicht mehr nur über sogenannte Hochkulturtransfers sprechen, wofür unser Kongress Kinder zum Olymp! das beste Beispiel ist.