Blechen vor Blechen
Magisch wird der Blick in die Tiefe gezogen, in ein Land, das nicht von dieser Welt ist. In milchiger Ferne zeichnet sich eine Stadt am Strom ab, mit steinerner Bogenbrücke, zinnenbewehrtem Kastell und Bergen bis zum Horizont. Linkerhand lockt das Meer. Im rauen Gebirge vor uns sitzt – auf den ersten Blick leicht zu übersehen – ein Eremit, die aufgeschlagene Bibel auf den Knien. Platz genommen hat der bärtige Alte auf dem Sockel eines altertümlich anmutenden Steinkreuzes. Drei zerzauste Kiefern, die linke absichtsvoll auf halber Stammhöhe abgeknickt, weisen hinauf zum Schönwetterhimmel. Gerade geht die Sonne auf, verdeckt von einem bizarr geformten Fels. Der Einsiedler hat seine Lektüre unterbrochen, schaut auf. Kultur, Geschichte, Menschenwerk – all das ist vergessen; die Natur ist die eigentliche Offenbarung.
Das Gemälde „Landschaft mit Eremit“ ist ein Programmbild der deutschen Romantik, jener Kunstrichtung um 1800, die Erlösung im Schöpfungswunder der Natur suchte und fand. Wir werden Zeuge einer Szene – mehr noch: einer gedanklichen Konstruktion –, die Innigkeit und Naturverbundenheit, ehrfürchtiges Staunen und eine Prise Schaudern evoziert. Der Maler als Forscher und Träumer: Disparates, wie die Felsen des Vordergrunds und der ins Bodenlose stürzende Wasserfall, fügt sich zusammen, der Horizont rückt ins Unendliche. Wer so etwas malt, meint nicht die Realität. Nicht mal Italien, wo für deutsche Künstlerseelen alles möglich scheint, seit Goethe dorthin pilgerte. Nein, wer so malt, ist besessen von einer Idee. Seit Schillers Aufsatz „Über das Erhabene“ von 1801 dachten Maler, Literaten, Komponisten verstärkt über das Unendliche, Schroffe und Ungestaltete in der Natur nach.Und über den ordnenden Einfluss des Menschen, vermittelt durch Geschichte und Kultur.
Die 106,3 mal 140 Zentimeter messende „Landschaft mit Eremit“, unlängst mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder für die Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Schloss Branitz erworben, ist ein großformatiges, ambitioniertes, sogar etwas überladenes Bild – eine romantische Ideallandschaft. Einig sind sich die Experten, dass das unsignierte und undatierte Gemälde im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts in Berlin entstanden ist: im unmittelbaren Umfeld des preußischen Malers und Architekten Karl Friedrich Schinkel. Bilder solcher Qualität tauchen nur selten auf dem Kunstmarkt auf. Insofern ist das aus Rostocker Privatbesitz über den Kunsthandel vermittelte Gemälde allein schon eine kleine Sensation. Doch womöglich kommt es noch besser: Helmut Börsch-Supan, langjähriger Kenner der Berliner (und dazu der Dresdner) Romantik, graue Eminenz sowohl der Schinkel- wie der Caspar-David-Friedrich-Forschung, der das Bild „entdeckt“ hat, ist sich sicher: Die „Landschaft mit Eremit“ ist ein bislang unbekanntes Früh- und Hauptwerk des 1798 in Cottbus geborenen Berliner Malers Carl Blechen. Gewissermaßen der missing link zwischen Blechens – bislang wenig beachteten – autodidaktischen Anfängen, dem kurzen Studium an der Berliner Akademie zwischen Herbst 1822 und Sommer 1823 sowie den nachfolgend in nicht einmal 15 Jahren entstandenen Werken. Paul Ortwin Rave, der 1940 das Werkverzeichnis von Carl Blechen publiziert hat, kannte das Bild allerdings nicht.
Nicht alle Kunsthistoriker-Kollegen konnte Börsch-Supan bislang von seiner Zuschreibung überzeugen. Wer den späten, durch die Italienreise 1828/1829 geprägten Blechen im Kopf hat, wird skeptisch auf die „Landschaft mit Eremit“ blicken. All das, was den Vorläufer moderner Freilichtmalerei auszeichnet, sucht man dort vergeblich. Kein lässig-genialischer Pinselstrich; keine Explosionen von Licht wie auf den bei Amalfi entstandenen Ölskizzen und Sepiazeichnungen; keine scheinbar beiläufig gewählten Motivausschnitte, die selbst den Golf von Neapel mit den Augen des Märkers zeigen. Stattdessen ein penibel in akademischer Technik gemaltes Bild; zudem eine Komposition, der man ansieht, dass hier einer alle zur Verfügung stehenden Register zieht.
Einen „Menzel vor Menzel“ hat Theodor Fontane, der über 20 Jahre lang vergeblich versuchte, ein Buch über Blechen zu schreiben, das Cottbuser Malergenie einmal genannt. Bei der „Landschaft mit Eremit“ könnten wir es mit einem Blechen vor Blechen zu tun haben. „Ein typisches Frühwerk“, urteilt Börsch-Supan, „das aus einem persönlichen Aufbruchswillen, aus innerem Überdruck entstanden ist.“ Wenn es denn tatsächlich ein Blechen ist, muss das Bild früh datiert werden, Ende 1822 oder Anfang 1823, als der gescheiterte Bankkaufmann und hoffnungsvolle Kunsteleve bei Peter Ludwig Lütke, einem Schüler Jakob Philipp Hackerts und überzeugtem Klassizisten, studierte. Auf jeden Fall aber vor dem Sommer 1823. Damals brach Blechen sein Studium ab und auf nach Dresden, wo er die Romantiker Johan Christian Dahl und wohl auch Caspar David Friedrich traf und im Elbsandsteingebirge vor der Natur zeichnete. In Dresden ist bei Blechen ein Knoten geplatzt. Alles, was davor passierte, liegt bislang im Dunkeln. Dass es ein Davor gegeben hat, wissen wir durch Blechens selbstverfassten Lebenslauf und aus seinem Nachruf, der dem 1840 verstorbenen Professor an der Akademie gehalten wurde.
War er’s oder war er’s nicht? Ein Forscherkrimi. Börsch-Supan glaubt, dass Blechen, der geniale Überflieger, in der „Landschaft mit Eremit“ gewissermaßen das Resümee des soeben auf der Akademie Gelernten zieht. Die Berliner Kunsthistorikerin Annik Pietsch, die das Bild maltechnisch untersucht hat, erkennt hingegen „eine ausgereifte Hand“, keinesfalls jedoch ein Frühwerk Blechens. Stilkritische Zuschreibungen beruhen auf der Abwägung von Indizien. Beate Schneider, die das Gemälde als zuständige Kustodin der Stiftung Fürst-Pückler-Museum und Vorsitzende der Carl-Blechen-Gesellschaft nun in museale Obhut nimmt, freut sich auf weitere wissenschaftliche Dispute. So oder so handelt es sich ja beim Diskussionsobjekt um ein außergewöhnlich qualitätvolles Bild, das bestens in der 1913 begründeten Cottbuser Blechen-Sammlung aufgehoben sein wird. Zudem konnte es zu einem Preis erworben werden, der die Zuschreibungsdiskussion berücksichtigt.
Jenseits aller Zweifel liegt die gedankliche Nähe der Landschaft zur Bildwelt Schinkels – die zuletzt kein anderer als Börsch-Supan mit einem monumentalen Werkverzeichnis erforscht hat. Schinkel lernte Blechen, der 1815 als Banklehrling nach Berlin kam, offenbar früh kennen und schätzen. In einem leider undatierten und nur noch als Abschrift nachzuweisenden Brief schreibt er dazu: „Gestern war der junge Blechen wieder in meinem Atelier. Er bewunderte eine Dekoration, die ich für die hiesige Oper entworfen, und die ein venetianisches Patrizierhaus darstellte. Plötzlich griff Blechen nach einem Pinsel, tunkte ihn in meine teure Sepia und sagte, indem er nach einem Bogen Papier zu seinen Füßen griff: ‚ich sehe jetzt Venedig vor mir. Wenn ich doch auch einmal dort sein könnte!’ Und sogleich warf er ein Bild des großen Kanals mit der Salutenkirche auf das Blatt, dass mir bei der Arbeit beinahe graulich zumute wurde: so treffend bewältigte er ein Motiv, was er leibhaftig vor Augen sehen musste. Denn es konnte ihm aus Bildern diese völlig vom Üblichen entfernte Blickeinstellung nicht in Erinnerung sein, da sie m. W. kein Maler vor ihm gemalt hat.“
Schinkels Bühnenbild war ein Entwurf für Rossinis Oper „Othello, der Mohr von Venedig“, erstmals aufgeführt am 16. Januar 1821. Auch wenn das Charakterbild, das der 17 Jahre Ältere von Blechen zeichnet, dem gängigen Künstlertopos vom jungen Genie folgt, hat Schinkel den Malerkollegen zeitlebens gefördert. Künstlerisch hat dieser sich nicht nur mit Schinkels Bühnenbildern auseinandergesetzt, wie das „Fastnacht abend 1823“ datierte Aquarell eines Schlosses inmitten eines Bergsees belegt. Es variiert ein heute verschollenes Gemälde Schinkels. Auch das romantische Motiv des Einsiedlers, mit dem sich Blechen wohl persönlich identifizierte, hat Schinkel vorgeprägt. In dessen Gemälde „Felsentor“, präsentiert auf der Akademie-Ausstellung 1818, sitzt einsam ein sinnender Mönch hoch über dem Tal. Das Pendantbild zeigt, im Fernblick, eine „italienische“ Stadt mit Kuppeln und zinnenbewehrten Türmen, gelegen an einem See oder Strom.
Verglichen mit Schinkelschen Meisterwerken wie diesen wirkt die „Landschaft mit Eremit“ in manchem Detail eklektisch und konventionell. Dass sich Blechen noch 1825 mit stilistisch bereits veralteten klassizistischen Landschaftskompositionen in der Art Claude Lorrains und Hackerts beschäftigt hat, belegt die – nach einem bislang nicht identifizierten Vorbild kopierte – Sepiazeichnung einer „Bewaldeten Ideallandschaft“ im Berliner Kupferstichkabinett. Was Schinkel und Blechen jedoch unübersehbar verbindet, ist das Interesse am Bühnenhaften, am Schauspiel der Natur.
Natur als Schauspiel und als dreidimensionale Galerie begehbarer Bilder – das war auch das Lebensthema von Hermann von Pückler-Muskau, neben Lenné der bedeutendste deutsche Gartenarchitekt des 19. Jahrhunderts, Schöpfer der Parks in Bad Muskau, Branitz und Babelsberg. Das Branitzer Barockschloss, Stamm- und Alterssitz des exzentrischen Fürsten und seiner – geschiedenen – Frau Lucie, Tochter des preußischen Staatskanzlers Hardenberg, bietet seit 1947 den kongenialen Rahmen für die kommunale Cottbuser Blechen-Sammlung. Lebenswege und Lebensthemen von Pückler und Blechen haben sich vielfach berührt und gekreuzt. Aber begegnet sind sich die beiden wohl nie. Wer aufschaut von den rund 70 Cottbuser Blechen-Werken, blickt aus den Schlossfenstern hinaus auf Pücklers letztes Meisterwerk. Sieht Landschaftsausschnitte, durchkomponiert wie die Illustrationen von August Wilhelm Schirmer, einem Künstlerfreund Blechens, für Pücklers folgenreichstes Buch, die „Andeutungen über Landschaftsgärtnerei“. Irgendwo da draußen liegt Pückler, der sich zuletzt in der Rolle des „Eremiten von Branitz“ gefiel, begraben: in einer grasbewachsenen Pyramide inmitten eines künstlichen Sees. „Friede in der Natur“, so der Titel einer Lithographie nach Blechens berühmtem Gemälde „Zwei Mönche im Park von Terni“. In Branitz haben ihn Pückler und Blechen gefunden.