Von Aufklärung und freiem Zugang
Kriegsbedingt verbrachte Kunst- und Kulturgüter, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges von den sowjetischen Trophäenkommissionen abtransportiert und bis heute nicht zurückgegeben worden sind, werden verkürzt oft als „Beutekunst“ bezeichnet. Allerdings hatte Nazi-Deutschland durch seine Kunstraubzüge und -zerstörungen quer durch Europa mit diesem ungeheuerlichen Tabubruch begonnen. Ab 1945 verbrachte die Rote Armee über 2,6 Millionen Kunstwerke, mehr als 6 Millionen Bücher und unzählige Kilometer von Archivalien aus deutschen Kultureinrichtungen in die Sowjetunion. Besonders betroffen waren Städte der Sowjetischen Besatzungszone, vor allem Berlin, Dresden, Potsdam, aber auch Schwerin, Gotha, Leipzig, Dessau und viele andere Orte, die massenhafte Verluste zu beklagen hatten. Die Sowjetunion betrachtete diese Kulturgüter jedoch weiterhin als das geistige und kulturelle Eigentum des deutschen Volkes und gab bereits 1955 und 1958 etwa 1,5 Millionen Kunstwerke zurück, darunter so Einmaliges wie die Friesplatten des Pergamonaltars, Raffaels „Sixtinische Madonna“ und viele andere Werke der Weltkunst. Aus Anlass des 50. Jahrestages der großen Rückgabeaktion von 1958 erinnerte der Deutsch-Russische Museumsdialog mit einem Festakt im Pergamonmuseum am 30. Oktober 2008 an dieses bedeutende Ereignis.
Trotz dieser Rückführungen deutscher Kulturgüter werden heute noch etwa eine Million Kunstwerke aus deutschen Sammlungen in Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion vermutet, davon ca. 200.000 Stücke von besonderem musealen Wert. Der politische Wandel in Europa mit dem Zerfall der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung stellte das deutsch-russische Verhältnis auf eine völlig neue Grundlage, doch die Beutekunstfrage bleibt ungelöst. Deutschland besteht auf seinem Rückgabeanspruch, der sich auf die völkerrechtlichen Regeln der Haager Landkriegsordnung von1907 zum Schutz der Kulturgüter in Kriegszeiten stützt. Russland wiederum erklärte durch das sogenannte Duma-Gesetz alle nach Russland verbrachten deutschen Kunst- und Kulturgüter kurzerhand zu russischem Eigentum, und zwar als Kompensation für die deutschen Kriegszerstörungen und russischen Kulturgutverluste. Lediglich für Werke aus privatem, kirchlichem und jüdischem Eigentum ist eine Rückgabe grundsätzlich möglich, was bislang aber nur zur Restitution der mittelalterlichen Glasfenster der Marienkirche in Frankfurt an der Oder 2002/08 führte.
Während die konträren Rechtsstandpunkte beider Seiten die politischen Gespräche darüber nahezu zum Stillstand gebracht haben, entwickelten sich die Fachkontakte zwischen deutschen und russischen Kultureinrichtungen dynamisch weiter. Gemeinsame Ausstellungen und Forschungsprojekte führten zu einer immer intensiveren und vertrauensvolleren Zusammenarbeit. Als Höhepunkt dieser Kooperation gilt die am 21. Juni 2013 von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Vladimir Putin in der Eremitage in Sankt Petersburg eröffnete Ausstellung „Bronzezeit – Europa ohne Grenzen“. In einer großartigen Schau wurde die europäische Bronzezeit als eine Epoche präsentiert, in der sich erstmals größere hierarchisch strukturierte Zivilisationen im Raum zwischen Atlantik im Westen und Ural und Kaukasus im Osten herausgebildet und zur Entstehung übereinstimmender Kulturverhältnisse in weiten Teilen Europas geführt hatten. Von 1.700 Exponaten waren 600 kriegsbedingt verlagerte aus dem Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte zu sehen, darunter so herausragende Fundkomplexe wie der Goldschatz von Eberswalde bei Berlin. Diese für die Bronzezeit Europas so außerordentlich wichtigen Objekte sind damit auch wieder in den internationalen wissenschaftlichen Diskurs zurückgekehrt.
Die Kulturstiftung der Länder hat gemeinsam mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und weiteren betroffenen deutschen Kultureinrichtungen den Deutsch-Russischen Museumsdialog sowie den Deutsch-Russischen Bibliotheksdialog ins Leben gerufen, um auf diese Weise den Aufbau bilateraler Netzwerke von Experten beider Länder zu fördern. Dabei geht es einerseits u. a. um die notwendige Bestandsaufnahme der kriegsbedingt verlagerten deutschen Kunst- und Kulturgüter. Andererseits werden in einem von der Volkswagenstiftung geförderten Projekt aber auch die russischen Kulturgutverluste unter sammlungsgeschichtlichen Gesichtspunkten erforscht. Stets gilt es, die legitimen Interessen beider Seiten zu berücksichtigen.
Eine politische Lösung der Beutekunstproblematik scheint derzeit noch in weiter Ferne. Gerade deshalb stehen die Fachwissenschaftler aus Museen, Bibliotheken und Archiven beider Seiten in der Pflicht, gemeinsam alles zu tun, was unterhalb der politischen Ebene geleistet werden kann: umfassende Aufklärung, vollständige wissenschaftliche Erschließung der Bestände und freier Zugang für die internationale Forschung und die interessierte Öffentlichkeit. Diesen Forderungen kann sich keine Kulturnation ernsthaft verschließen. Vielleicht führt gerade die Arbeit mit den verlagerten Kulturgütern beide Völker noch enger zusammen; wir wären es unserer schwierigen Vergangenheit schuldig.