18 Meter Rostock

„Die Bürger so in Rostock leben.
Die musten sich aus Rostock geben,
Und Rostock geben gute Nacht:
Da stund die Stadt in vollen Flammen,
Die Flammen stießen sich zusammen,
Und Rostock ward zur Glut gemacht.

Die Häuser, die ganz hoch gerichtet,
Die wurden in der Eyl zernichtet,
Im Hui lag da Staub, Asch und Stein,
Das Feuer fing so an zu wüten,
Daß man sein Leben muste hüten,
Ihm lassen Hauß und Gut allein.“

Vicke-Schorler-Rolle, 1.868 × 60 cm; Stadtarchiv Rostock
Vicke-Schorler-Rolle, 1.868 × 60 cm; Stadtarchiv Rostock

1678, ein Jahr nach dem Untergang des mittelalterlichen Rostocks durch einen verheerenden Stadtbrand, veröffentlichte Aegidius von Thienen sein Gedicht, das an die in ganz Europa wahrgenommene Katastrophe erinnerte. Samstagmorgens um halb neun beim Bäcker Joachim Schulze in der Altschmiedestraße ausgebrochen, breitete sich das Feuer rasend schnell aus. Starker Wind trieb die Flammen schließlich über das Grubenwasser, einen Flussarm, der die Mittelstadt sonst vielleicht hätte schützen können. Straße um Straße fiel dem „Roten Hahn“ zum Opfer. Erst als der Wind am darauffolgenden Sonntagvormittag abflaute, konnten das Feuer eingedämmt und Teile der Stadt sowie die gotische Marienkirche gerettet werden. 700 Häuser, mehr als ein Drittel der Stadt, waren zerstört worden. Der Stadtbrand markiert das Ende der stolzen Kaufmanns- und Hansestadt des Spätmittelalters.

150 Neue Zweidritteltaler war dem Rostocker Rat 1792 die Erinnerung an das vor etwa einem Jahrhundert untergegangene Stadtbild wert. Von der alten Ratsfamilie Nettelbladt wurde eine 18,68 Meter lange und 60 Zentimeter breite Papierrolle mit der Stadtansicht erworben. Eine weise Entscheidung der Stadtväter, denn sogar die Wiederaufbauten nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs konnten sich an den detaillierten Häuseransichten der Dokumentation orientieren. Schöpfer des gewaltigen Werks ist der wohlhabende Rostocker Krämer und Stadtchronist Vicke Schorler. Neun Jahre, zwischen 1578 und 1586, arbeitete er an der „Warhaftige[n] Abcontrafactur der Hochloblichen und Weitberuhmten alten See- und Hensestadt Rostock, Heuptstadt im Lande zu Meckelnburgk“. Ein fragiles Gebilde aus 127 zusammengeklebten Kanzleipapierblättern entstand. Mit Lineal und Zirkel entwarf Schorler sein Bild der Stadt in einer Mischform aus Vedute und Vogelperspektive. Als Farbe dienten gebrannte, gemahlene Tonerde und Ruß mit einem Bindemittel aus Honig oder Firnis. So entstand der dunkelbraune Sepiaton der mit Wasserfarben kolorierten Ansicht. Der Fluss Warnow bindet die Ansicht zusammen, er ist die Lebensader Rostocks und verbindet die Hansestadt mit dem Meer. Natürlich steht Rostock im Zentrum der Ansicht. An den Rändern befinden sich die Kirchdörfer wie Kessin und Schwaan oder die fürstliche Residenz Güstrow – deren ältestes Bildzeugnis die Rolle überliefert. Die wichtigsten und schönsten Gebäude – meist spätgotisch, teilweise schon mit Renaissance-Elementen –, die Kirchen, das Rathaus sowie die drei Marktplätze befinden sich in der oberen Reihe. Kleinere Gebäude, die Tore und Teile der Stadtmauer folgen darunter. Brunnen, Mühlen, Fuhrwerke und unzählige Schiffe – Koggen und Karavellen – sind dargestellt. Selbst Wetterhähne, Hauszeichen, sogar Werbeplakate und längst  verlorene Fassadengemälde sind akribisch dokumentiert, wie etwa die Justitia über dem Tor der Stadtwaage. Bürger, Händler, Wasserträger, sogar ein Rattenfänger und Studenten bevölkern die Stadt. Am Neuen Markt werden Trockenfische, Holzschuhe und Töpfe feilgeboten. Am Pranger wird eine Frau „gestrichen“. Hunde raufen um Fisch- und Schlachtabfälle, und ein borstiger Eber nutzt die Verwirrung des Markttages und bespringt eine Bache.

Mit ihrem Detailreichtum ist die Vicke-Schorler-Rolle ein einzigartiges kulturhistorisches Zeugnis, nicht nur des untergegangenen Rostock, sondern der hansisch geprägten Kultur überhaupt. Die ursprüngliche Vicke-Schorler-Rolle wurde in den 30er-Jahren auf säurehaltige Pappe aufgeklebt. Diese schädigt nun das historische Hadernpapier, gleichzeitig kommt es zu Ablösungen, Rissen und zu Verfärbungen. Die Restaurierung soll nicht nur eine Digitalisierung der einzigartigen Bildquelle ermöglichen, sondern auch ihren Erhalt auf Dauer sichern.