1000 Jahre Glaube und Geschichte
Verziert mit den Symbolen der vier Evangelisten und einer Kreuzigungsdarstellung im Zentrum kommt der hölzerne Schmuckeinband einer vornehmen Untertreibung gleich. Die mit Schafsleder bezogenen und mit Metall beschlagenen sowie reliefierten und bemalten Buchdeckel sind zwar bereits für sich genommen von bemerkenswerter Schönheit, in Wahrheit aber lediglich nachträgliche Beigaben zum Schutz der eigentlichen Sensation: Erst aufgeschlagen gibt der Bucheinband aus dem 15. Jahrhundert die 340-seitige, bereits zu ottonischer Zeit entstandene Handschrift, das kulturhistorisch bedeutende Liesborner Evangeliar, preis.
Gleich auf der zweiten Seite deutet ein Widmungsvers auf Entstehungsort und -zeit des Evangeliars hin: Die 12 Zeilen erwähnen die Äbtissin Berthildis, die das Evangeliar zu Ehren des heiligen Simeon stiftete, dem Patron des Liesborner Klosters. Bei der Stifterin Berthildis handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um jene Äbtissin, die zwischen Mitte und Ende des 11. Jahrhunderts eine der letzten Vorsteherinnen des Liesborner Damenstifts war. Auch als das Stift 1131 in eine Benediktiner-Abtei umgewandelt wurde, verblieb das Manuskript der vier Evangelientexte bis zur Säkularisation 1803 vor Ort im Liesborner Kloster. Bis 1826 in der Universitätsbibliothek Münster verwahrt, wechselte das kostbare Buch danach über fast zwei Jahrhunderte hinweg immer wieder den Besitzer, fand vorübergehend Eingang in Privat-sammlungen unter anderem in England, den USA und Norwegen. Zuletzt wieder in Privatbesitz in den USA, gelangte die mittelalterliche Handschrift nun durch den Schulterschluss von zehn Förderern nicht nur zurück nach Deutschland, sondern zugleich zurück an ihren westfälischen Bestimmungsort. Neben der Kulturstiftung der Länder beteiligten sich bei dem Ankauf für den Kreis Warendorf die Sparkasse Münsterland Ost, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Ernst von Siemens Kunststiftung, das Bistum Münster, das Land Nordrhein-Westfalen, die Kunststiftung NRW, die Rudolf-August Oetker-Stiftung, der Sparkassenverband und die Freunde des Museums Abtei Liesborn.
Das ottonische Evangeliar aus Liesborn steht in der bereits im Karolingerreich entstandenen Tradition, Evangelienhandschriften für den liturgischen Gebrauch in Klöstern herzustellen. Lesemarkierungen in den Textpartien der Passionsgeschichte des Liesborner Codex – das älteste bekannte Manuskript der Bibliothek der Abtei Liesborn – bezeugen diese Verwendung im Gottesdienst. Verschieden getönte Tinten und unterschiedliche Handschriften der in Minuskeln verfassten Evangelien sprechen für insgesamt drei Schreiber, von denen sich jedoch nur einer namentlich verewigt hat: Er signierte zum Abschluss des letzten Abschnitts als „Gerwardus diaconus“, als Diakon Gerwardus im Kolophon des Buches. Zwar zieren das Evangeliar keine bildhaften Miniaturen, doch die Initialen der verschiedenen Textpartien sind jeweils aufwändig gestaltet, ebenso wie das prächtige Diagramm auf der ersten Buchseite: Konzentrische Kreise, von Textelementen durchwirkt, erklären schematisch das Vaterunser. Den repräsentativen Charakter des sakralen Objektes unterstreicht der 400 Jahre später hinzugefügte Einband aus Holz, dessen Vorderseite ein farbig gefasstes Kreuzigungsrelief schmückt: Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er im Zusammenhang mit der zweiten Blütezeit des Klosters um 1464/65 eigens für das Liesborner Evangeliar gefertigt.
Der nun nach Westfalen heimgekehrte liturgische Schatz findet im Museum Abtei Liesborn zurück an seinen Bestimmungsort. Die Vollständigkeit und Seltenheit – weltweit existieren nur noch insgesamt 150 Handschriftentypen aus ottonischer Zeit – gepaart mit dem hervorragenden Erhaltungszustand des Buchblocks machen das Liesborner Evangeliar zu einem wertvollen und bewahrungswürdigen Zeugnis: für das monastische Westfalen, die Konsolidierung des christlichen Glaubens zu ottonischen Zeiten, aber auch für die weitreichendere Kunst- und Kulturgeschichte des Mittelalters.